Selbst wenn die umstrittene Gerichtsentscheidung des Berliner Landgerichts noch ein juristisches Nachspiel mit immer noch ungewissem Ausgang hat, so war das erstinstanzliche Scheitern Renate Künasts einmal mehr Wasser auf die Mühlen derjenigen, die denken, dass im Internet so gut wie alles erlaubt ist. Auch Greta Thunberg geriet ziemlich schnell in unruhiges Fahrwasser, metaphorisch und wortwörtlich. So waren sich auch Teile der deutschen Politprominenz nicht zu schade dafür, Thunberg das Recht absprechen zu wollen, auf dem Klimagipfel der Vereinten Nationen sprechen zu dürfen, wenn sie nicht zuvor wenigstens den Atlantik Moses-gleich, barfuß und ohne nass zu werden durchqueren würde.

Die Unsicherheit des Establishments im Umgang mit den Forderungen der Fridays for Future-Bewegung zeigt sich dabei quer durch alle politische Lager. Lässt sich Christian Lindners Äußerung, der Klimaschutz sei eine Sache für Profis, nur als einen weiteren Schritt in Richtung politische Bedeutungslosigkeit deuten, bewies Peter Altmaier im Frühjahr zumindest den Mut, mit den protestierenden jungen Menschen Kontakt aufnehmen zu wollen. Ganz ungewollt schuf er dabei einen großen Fernsehmoment, als er vor laufender Kamera mit den Worten „Das war echt ´ne Scheißidee“ wahrscheinlich auch die Neubesetzung des Postens seines persönlichen Referentens einforderte.

Dabei hatte das Ganze doch eigentlich eine Menge Vorlauf. Und damit sind nicht nur die eineinhalb Jahre seit den ersten Schultagen nach den Sommerferien 2018 gemeint, als Thunberg erstmals, statt zur Schule zu gehen, mit einem Plakat und der Aufschrift „Skolstrejk för klimatet“ vor dem schwedischen Parlament ausharrte. Der erste Sachstandsbericht des Intergovernmental Panel on Climate Change datiert aus dem Jahr 1990 und dient als Basis für die Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen.

Vier Folgeberichte und eine Reihe von Sonderberichten wie unlängst der zu Klimawandel und Landsystemen bilden so gut wie alle in der Klimaforschung möglichen Positionen ab. Als im Jahr 1995 in Berlin die erste UN-Klimakonferenz stattfand, war Lindner übrigens genauso alt wie Thunberg heutzutage ist. Anfang Dezember stand die mittlerweile 25. UN-Klimakonferenz an. Von der ganzen Problematik überrascht zu sein oder wie unsere Kanzlerin Angela Merkel einen Weckruf nötig zu haben, klingt ein bisschen nach Donald Trump, der Thunbergs Auftritt auf dem UN-Klimagipfel in New York mit den Worten kommentierte, dass sie doch wie ein nettes Mädchen wirke, auf das glücklicherweise eine hoffnungsvolle Zukunft warte.

Zeit zu handeln“ hieß das Motto der 25. UN-Klimakonferenz. Herausgekommen ist dabei herzlich wenig

Tim Jacobsen

Als Thunberg gemeinsam mit 15 Kinder aus der ganzen Welt Ende September beim UN-Kinderrechtsausschuss eine Individualbeschwerde gegen Argentinien, Brasilien, Frankreich, die Türkei und Deutschland als die sowohl historisch als auch aktuell größten Emittenten von Treibhausgasen einlegte, hielt Merkel, ganz Physikerin, mit dem technischen Fortschritt, der uns retten wird, dagegen und ihr französischer Kollege Emanuel Macron entschuldigte seine Tatenlosigkeit mit dem Verweis auf diejenigen, die es Klima-mäßig noch viel schlimmer treiben. Natürlich ist Politik nicht schwarz und weiß, was aber zu denken gibt, ist, dass die Politik auf dieses Thema keine Antwort zu finden scheint.

Die allgemeine Kommentierung des unlängst zumindest in Teilen beschlossenen Klimapakets in den Medien lässt sich mit einem „die große Koalition traut sich und den Bürgern nicht mehr viel zu“ zusammenfassen; gleichzeitig rückt das Erreichen der Klimaziele bis zum Jahr 2030 in immer weitere Ferne. Im Jahr 2030 wird Merkel ihren 76. Geburtstag feiern, Trump seinen 84. und Thunberg wird dann gerade 27 Jahre alt sein. Bei den Protesten der Fridays for Future-Bewegung geht es immer auch darum, dass diejenigen, die zukünftig die Folgen der heute getroffenen Entscheidungen zu tragen haben, nicht diejenigen sind, die heute die Entscheidungen treffen.

Klar, war das bei den Rockern, Hippies, 68ern, Punkern und Ravern auch nicht viel anders. Aber während die einen ein patriarchalisch geprägtes Geschlechterbild vorleben wollten, die anderen freie Liebe predigten, die dritten gerne mehr Bürgerrechte für alle haben wollten, während die nächsten fanden, dass Provokation für sich genommen als Ziel ja auch schon vollkommen ausreicht und die Technoszene das expressive rauschartige Tanzen als glückseligmachend empfahl, liegt die Problemlage bei der Fridays for Future-Bewegung anders: es geht ihnen nicht um ein wie-dann-auch-besseres Leben; nein: für die jungen Menschen geht es gewissermaßen um Leben und Tod. Besser als alles andere verdeutlichen das die Zahlen: mit Anbeginn der Industrialisierung im 18. Jahrhundert stieg der Meeresspiegel um zwei Zentimeter, im 19. Jahrhundert dann schon um sechs Zentimeter, im 20. Jahrhundert schließlich um 19 cm, Tendenz weiter steigend.

Die Auswirkungen der schmelzenden Polkappen auf den Anstieg des Meeresspiegels wurden übrigens erstmals in dem letztes Jahr erschienenen Sonderbericht über die Ozeane und die Kryosphäre in einem sich wandelnden Klima thematisiert. Ein kleines Beispiel dafür, dass wir eigentlich alle in Thunbergs „How dare you“ einstimmen müssten: Wenn der bis zu 3000 m dicke grönländische Eisschild abzuschmelzen beginnt, sackt er zwangsläufig ab in tiefere, wärmere Höhenlagen und schmilzt dann unaufhaltsam noch schneller. Davor könnte allerdings noch die Westantarktis ihren Kipppunkt erreichen. Die Schmelzwasserströme werden voraussichtlich erst in der Meeresspiegelanstiegsprognose im Rahmen des nächsten Sachstandsberichts des IPCC eingepreist. Dann soll es auch nicht mehr um Zentimeter gehen, sondern wird mit Metern gerechnet werden.

Tim Jacobsen