Machte die Coronapandemie aus gut 83 Mio. Fussballtrainern ebenso viele Virologen, mutet die Ukrainekrise derzeit an wie ein Crashkurs in Agrarökonomie. Allzu schwierig scheint das Ganze ja nicht zu sein: wird den Fischern der Schiffsdiesel zu teuer, bleiben sie – wie gerade geschieht – im Hafen und warten auf bessere Zeiten. Wird den Mästern das Futter zu teuer, wird einfach nicht aufgestallt und können die Gärtner die Heizkosten nicht mehr bezahlen, bleiben die Gewächshäuser leer. Mit dieser Wette auf die Zukunft lässt sich zwar kurzfristig verhindern, dass mit den Verkaufserlösen nicht einmal mehr die Gestehungskosten gedeckt werden, mittelfristig stehen jedoch Liefer- und Abnahmeverpflichtungen im Weg und langfristig könnten sich Abnehmer neue Bezugsquellen suchen. Eine Wette mit ungewissem Ausgang also, zumal die Gemeinkosten wie das Vorhalten der Produktionsinfrastruktur stets weiter auflaufen. Im Ackerbau ist das Ganze dann noch ein bisschen komplizierter, da im Spätsommer nur geerntet werden kann, was spätestens im Frühjahr ausgesät wurde.

Leere Mehl- und Speiseölregale in den Supermärkten implizieren mit ihrem ungewohnten Anblick die Frage, ob denn die Lebensmittelversorgung hierzulande eigentlich grundsätzlich sichergestellt ist. Die Studienlage hierzu ist zwar eher dünn, in ihrer Aussage aber eindeutig: Im Jahr 2008 bestand der europäische Ernährungssektor einen Stresstest, den das niederländische Landwirtschaftsministerium durchführen ließ: Es konnte kein Szenario simuliert werden, das die Lebensmittelversorgung in Europa grundsätzlich in Bedrängnis gebracht hätte. Neben ausreichend innereuropäischen Produktionskapazitäten wurde Europa auch genug Kaufkraft attestiert, notfalls auf dem Weltmarkt einkaufen zu können. Als erfolgreich bewältigte Krisen wurde neben der Trockenheit des Jahres 2003 auch die Katastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 angeführt. Lediglich der Wegfall von Soja könnte die Fleischindustrie in Bedrängnis bringen.

Eine Studie des niederländischen Landwirtschaftsthinktanks LEI mit dem vielsagenden Titel „Price and prejudice: why are food prices so high?“ kam 2012 im Wesentlichen zu einem ähnlichen Schluss. Zwar könnte im Krisenfall der ökonomische Schaden hoch sein, eine echte Gefahr stellt er jedoch nicht dar. Drei Jahre später kommen die Autoren eines Foodsecure Working Paper zu dem Schluss, dass grundsätzlich selbst im Katastrophenfall im reichen Europa niemand verhungern müsse, wenn auch ärmere Bevölkerungsschichten im Fall der Fälle „nicht immer genug Geld für eine gesunde und abwechslungsreiche Diät haben werden“. Nach 2015 wird die Studienlage zum Thema Lebensmittelsicherheit dann äußerst dünn, es gibt aber kaum einen Grund dafür, zu denken, dass sich die Lage 2022 grundsätzlich von der sieben Jahre zuvor unterscheidet. Selbst die Covid-Pandemie als letzte große Herausforderung für den Lebensmittelsektor hat, anders als befürchtet, keine allzu große Spuren hinterlassen.

Der Langzeittrend für Agrarrohstoffpreise belegt ab dem Allzeitpreishoch Mitte der Siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts stetig sinkende Preise. Lediglich in den Jahren 2007 und 2008 stiegen die Preise für Zucker, Getreide, Ölsaaten und Milchprodukte leicht an, eine Folge schlechter Bevorratung, Störungen auf der Angebotsseite, sehr hohen Brennstoffpreisen und der zunehmenden Biospritproduktion. 2009 fielen die Preise erst auf ihr altes Niveau zurück, stiegen 2010 und 2011 dann aber wieder an, auch hier eine Folge schlechter Ernten, geringer Vorräte und der Tank- oder Tellerdiskussion. Auch im Schatten der Covid-Pandemie zogen die Preise wieder leicht an, was sich relativ einfach erklären lässt: Die Preise für Rohöl kennen seit April 2020 nur eine Richtung, und zwar die nach oben, genauso wie die Preise für Gas.

Seit spätestens Januar 2021 gilt das auch für Kunstdünger. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat diese Entwicklung noch einmal beschleunigt, seit der Ankündigung Russlands, keine Düngemittel mehr exportieren zu wollen, spielen die Preise aufgrund der fast schon Markt beherrschenden Position Russlands verrückt. Welche Auswirkungen die hohen Düngemittelpreise tatsächlich haben werden, lässt sich Ende Februar noch nicht absehen. Experten gehen davon aus, dass die Versorgung unserer Landwirte für die nun beginnende Saison weitgehend sichergestellt ist, spannend wird es dann im nächsten Jahr, empfindliche Preiserhöhungen scheinen unvermeidlich. Auf Konsumentenebene sind diese Preissteigerungen derzeit noch kaum zu spüren, auch auf der Ebene der verarbeitenden Industrie sind diese Preissteigerungen noch nicht angekommen, erst mit einiger Verzögerung werden diese dann beim Endverbraucher ankommen.

Die große Volatilität der Preise für landwirtschaftliche Produkte beweist, dass die Märkte nur selten im Gleichgewicht sind und leicht aus der Balance gebracht werden können. Kleine Fehlmengen können genauso wie geringe Überschüsse für enorme Preiseffekte sorgen. Dies ist auch eine Folge der zwangsläufig relativ stabilen Nachfrage nach Nahrungsmitteln und sich der aufgrund der Vorlaufzeiten jeweils nur mit einiger Verzögerung anpassenden Angebotsmengen – zwischen Aussaat und Ernte steht nun einmal die Wachstumsperiode. Nicht vergessen werden sollte auch, dass Regionen wie Europa oder die nordamerikanische Freihandelszone mit dem Handel innerhalb ihrer Regionen für Ausgleich sorgen können, Länder wie Bangladesch oder Nigeria jedoch auf Importe angewiesen sind. FAOSTAT-Daten zeigen, dass der Anteil der Ukraine an der weltweiten Getreideproduktion mit rund 2 % relativ gesehen überschaubar ist. Ein Wegfall dieser Getreidemengen muss also nicht zwangsläufig eine Katastrophe bedeuten. Dennoch reagieren die Märkte mit großen Aufschlägen, Hamsterkäufe und generelle Unruhe im Markt spielen dabei eine Rolle.

Agrarökonomen messen mit den Stocks-to-use ratios die Höhe des Verschleppungsbestands für eine bestimmte Ware als Prozentsatz der Gesamtnutzung oder etwas anschaulicher ausgedrückt: das Mengenverhältnis von Vorräten zu Jahresverbrauchsmengen. In den Preisrallyes der Jahre 2007 und 2008 lagen diese bei Getreide und Mais zwischen 15 und 18 %. 20 % wird unter Ökonomen als Minimumwert für eine Pufferwirkung von Vorräten auf die Preisbildung angesehen. Für Futtergetreide liegt die Stocks-to-use ratio FAO-Zahlen zufolge derzeit bei 23 %, für Weizen bei 37 %. Eigentlich sollte es also für Preispanik keinen Grund geben. Exportbeschränkungen, wie sie Argentinien, Serbien, Indonesien und der EU-Mitgliedsstaat Ungarn zuletzt verkündet haben, sorgen in der allgemein aufgeheizten Stimmung allerdings für weitere Unruhe. Nur eines scheint derzeit sicher: hohe Preise werden zu Produktionsanpassung führen, auch 2009 und 2012 sanken die Getreidepreise wieder.

Eurostat-Zahlen belegen, dass wir Europäer im Großen und Ganzen Selbstversorger sind, mit kleinen Einschränkungen bei tropischen Früchten, Kaffee, Tee und den Ölsaaten, zu denen auch Soja gezählt wird – sowie den natürlichen Fetten und Ölen, wozu das Palmöl gerechnet wird. Selbst wenn nun also manche Produkte wie Sonnenblumenöl auch in Europa knapp werden, stellt dies auf Verbraucherebene keine unmittelbare Bedrohung dar, da grundsätzlich vielerlei Alternativen zu diesen Produkten verfügbar sind. Anders die Lage in der Tiermast: Sonnenblumen sind eine wichtige Eiweißquelle in Futtermitteln. Zur bedarfsgerechten Fütterung gehören neben Mais, Raps, Rübensamen, Roggen und Sonnenblumenkernen auch Protein-Hochkonzentrate wie Sojapresskuchen. Fehlen diese, können Mittelproteine wie Erbsen diese nicht ersetzen. Zwar ließen sich auch die seit Beginn der Ukrainekrise ausbleibenden Futtermittelexporte aus der Ukraine mit Hilfe des Weltmarkts substituieren, der Teufel steckt dabei allerdings im Detail.

Rückstandshöchstmengen und die Verwendung von Pflanzenschutzmitteln, die in der EU nicht zugelassen sind, erschweren die Substitution der Futtermittel aus der Ukraine. Produktspezifikationen wie frei von genetisch veränderten Organismen machen insbesondere den Öko-Landwirten das Leben zusätzlich schwer, die gerade erst eingeführte vollständige Biofütterung könnte ein Ding der Unmöglichkeit werden. Auch den Abschied vom Palmöl möchte eigentlich niemand rückgängig machen, genauso wenig wie das Abholzen der Regenwälder zum Anbau von Soja befürworten. Die Diskussion um die Aufrechterhaltung von Standards in Kriegszeiten wird ähnlich spannend werden wie die um die Fort- oder Aussetzung der Reformbestrebungen unserer Gemeinsamen Agrarpolitik. Es scheint kaum vorstellbar, dass sich die Ziele des Green Deals wie die Reduktion der Aufwandmengen von Pflanzenschutzmitteln um die Hälfte oder die Reduktion des Einsatzes synthetischer Dünger um ein Fünftel in irgendeiner Form bis zum Jahr 2030 verwirklichen lassen.

Schließlich gibt es ja nicht nur uns Europäer auf diesem Planeten, die, mehr oder weniger reich, auf jeden Fall auf soziale Sicherungsnetze bauen können. Die Preise für Rohstoffe, Energie und Düngemittel werden weiter steigen, der Wegfall der ukrainischen Exporte wird die Versorgungslage in Ländern wie Ägypten, der Türkei, Indonesien, Bangladesch, Nigeria und Jemen weiter unter Druck setzen. Zumal die Getreideernte in den USA und Kanada nicht den Erwartungen entsprach, Argentinien zur Inflationsbekämpfung Exportbeschränkungen einführte und in Australien logistische Probleme den Export behindern. Anfang März wurden in Duisburg mit einem gemeinsamen Spatenstich offiziell die Bauarbeiten zur Errichtung des größten Hinterlandfrachtterminals Europas eingeleitet. In den Duisburg Gateway Terminals sollen ab 2023 wöchentlich mehr als 100 Güterzüge aus China abgefertigt werden und dafür sorgen, dass Ost und West näher zusammen wachsen. Die Zugstrecke ist seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 unterbrochen.

Tim Jacobsen