Michael Schanzes Quizshow-Klassiker „1, 2 oder 3“ war nicht nur reine Wissensabfrage, sondern für die teilnehmende Schülerschar immer auch ein bisschen ein Selbstbewusstseinstest. Wer würde sich wider besseres Wissen der Mehrheit anschließen – und wer würde wagen, der eigenen Überzeugung zu vertrauen?

Am heimischem Bildschirm war leicht reden, schließlich fehlten dort die Gruppendynamiks- und -druckkomponente. Außenseiter zu sein ist nicht jedem gegeben und so werden in Umfragen munter Dinge behauptet, die einzig und allein dem allgemeinen Wohlgefühl dienen.

Spannend wird es dann an dem Punkt, an dem gewissermaßen ohne Sozialkontrolle verschiedene Handlungsoptionen zur Verfügung stehen. Einer der Klassiker der Spieltheorie sind die sog. Diktatorspiele: Probanden müssen sich zwischen zwei Varianten entscheiden, die dann jeweils nicht nur für sie selbst unterschiedliche Auswirkungen haben.

Ein Beispiel: Wähle ich Option A, bekomme ich selbst fünf Dollar, eine andere Person einen Dollar. Wähle ich Option B, bekomme ich selbst sechs Dollar, eine andere Person fünf Dollar. Mit Option B verhelfe ich also mir selbst zu einem zusätzlichen und einer anderen Person zu zusätzlichen vier Dollar.

Sie müssen niemandem verraten, wie Sie sich entscheiden würden und wir möchten auch gar nicht zu viel verraten, aber Option A wird gar nicht so selten gewählt. Nicht nur in der Weihnachtszeit: gar nicht so nett. Die Parameter lassen sich natürlich beliebig verändern – neues Spiel, neues Glück:

Wähle ich in einer konfliktreicheren Variante Option A, bekomme ich fünf Dollar, die andere Person auch. Wähle ich dagegen Option B, bekomme ich sechs Dollar, die andere Person aber nur einen Dollar.

Also entweder einen Dollar weniger für mich und vier mehr für die andere Person oder einen mehr für mich und vier weniger für die andere Person. Hier wird die Entscheidung zwischen Egoismus und Rücksichtnahme dann nochmals etwas kniffliger.

Noch spannender wird es, wenn die Konsequenzen für die andere Person außer Acht gelassen werden können:

Ich kann mich zwischen sechs Dollar und fünf Dollar entscheiden, und mit einem Klick mehr kann ich ohne jegliche Konsequenz für mich selbst, in Erfahrung bringen, welche Auswirkungen dies auf die andere Person hat.

Nehmen Sie direkt die sechs Dollar oder beweisen Sie Empathie und klicken Sie zumindest einmal auf die Schaltfläche, die Ihnen erlaubt mehr über die Auswirkungen Ihres eigenen Handelns zu erfahren? In entsprechenden Versuchsreihen verzichten die meisten auf den Extraklick und stecken die sechs Dollar ein.

Die Wissenschaft wäre nicht die Wissenschaft, gäbe es für dieses Verhalten nicht auch eine passende Bezeichnung: mutwillige Unwissenheit nennt sich das dann. Nur was bringt uns dazu, so zu handeln? Zur „willful ignorance“ kommt das „excuse seeking“, die Suche nach einer Ausrede, hinzu. Und das funktioniert so:

Wenn ich nicht weiß, welche Folgen mein Handeln haben wird, kann ich auch nicht rücksichtslos handeln. Darüber hinaus wird es natürlich auch immer dieenigen geben, die ohne Skrupel und Nachdenken immer auf den Maximalgewinn klicken sowie diejenigen, die einfach nur furchtbar genervt von allem sind und schnell entscheiden möchten.

Linh Vu geht in ihrer Anfang November im Psychological Bulletin erschienenen Metaanalyse zum Thema „Ignorance by choice“ noch einen Schritt weiter und zitiert eine Reihe von Studien, in denen Probanden sogar zu zahlen bereit waren, um nichts über die Konsequenzen ihres Handelns zu erfahren.

In zwei weiteren Studien wurden die Probanden nach der Wahl ihres Spielzugs gefragt, ob sie nicht im Nachhinein wissen wollen, welche Auswirkungen ihre Entscheidung auf die andere Person hatte. Vier Fünftel der Befragten konnten dem nicht widerstehen.

Befragt, warum sie dies nun im Nachhinein doch wissen wollen, wo doch diese Möglichkeit auch vor der eigentlichen Entscheidung bestanden hätte, folgt bei nicht wenigen Probanden das Eingeständnis, dass es moralisch problematischer sei, bei vollem Wissen egoistisch zu handeln als bei selbstgewählter Unwissenheit.

Lustiger Weise steigt in einer Art Umkehrung des Diktatorspiels, dem sog. Ultimatumspiel, das Verständnis der „anderen Person“ für die Entscheidung des „ichs“, wenn dieses in selbstgewählter Unkenntnis handelt.

Warum Menschen sich überhaupt in selbstgewählte Unkenntnis flüchten, könnte Vu zufolge daran liegen, dass manche Menschen grundsätzlich gerne als altruistisch gelten wollen; die vorsätzliche Unwissenheit erlaube es ihnen dann, dieses Selbstbild aufrechtzuerhalten, ohne altruistisch handeln zu müssen.

Und schon sind wir direkt an den Frischetheken unserer Supermärkte gelandet. Lieber das regionale Produkt oder das günstigere mit den vielen Food miles? Lieber Stallhaltung oder Premium? Lieber deutscher Mindestlohn oder 210 € im Monat in Marokko? Und während manch Gutsituiertem Lebensmittel gar nicht teuer genug sein können, ist bei anderen ab Mitte des Monats die Kasse leer.

Grundsätzlich, und das ist das beruhigende an Vus Erkenntnissen, sind die meisten Menschen bereit, das Richtige zu tun, wenn sie sich über die Konsequenzen ihres Handelns vollständig informiert fühlen. Allerdings, und auch das zeigt die Studie, spielt der gesellschaftliche Druck sowie der Wunsch, sich selbst in einem guten Licht zu sehen, in der Entscheidungsfindung keine kleine Rolle.

Da Rechtschaffenheit oft kostspielig, mühsam und aufwändig ist, bietet selbstgewählte Unkenntnis einen einfachen Ausweg. Im Umkehrschluss sollte ein tieferes Verständnis dieses Mechanismus´ allerdings auch ermöglichen, in Dingen, die uns wichtig sind, die Weichen so zu stellen, dass dieser Ausweg möglichst unattraktiv erscheint.

Tim Jacobsen