Eigentlich müsste der folgende Text mit einem Warnhinweis beginnen, immerhin geht es darin um Schurkenstaaten, Ausbürgerungen, Völkermord, Terrorismus, Spionage, Tarifkämpfe mit zweistelligen Abschlüssen, Klimawandel, drohende Deindustrialisierung, staatliche Bevormundung und nicht zuletzt auch um Diktatoren und Invasionen, wären wir nicht alle dieser Themen müde, weil sie uns sowieso jeden Tag mit dicken Lettern aus den Zeitungen anschreien.
Wer nun denkt, dass früher halt einfach sowieso alles besser war, wird nun eines Besseren belehrt, denn es geht im folgenden Text nicht um das Jahr 2024, sondern um genau ein halbes Jahrhundert zuvor:
Fünf Euro ins Phrasenschwein: Alles muss sich ändern, damit es so bleibt, wie es ist
Das Jahr 1974 sollte eigentlich mit Fahrverboten beginnen, stattdessen stellt Horst Brandstätter Anfang Februar auf der Nürnberger Spielwarenmesse erstmals in Playmobil verfeinertes Erdöl vor. Im selben Monat wird Alexander Scholschenizyn aus der Sowjetunion ausgewiesen und findet bei unserem Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll Unterschlupf.
Anfang März wird die Vereinbarung über die Einrichtung einer Ständigen Vertretung, die heute nur noch als Kölschkneipe weiterlebt, zwischen den beiden deutschen Staaten unterzeichnet, kurz davor stimmt der Bundestag dem Atomwaffensperrvertrag zu.
Die Roten Khmer legen derweil, von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbemerkt, das Fundament für die fünfjährige Schreckensherrschaft Pol Pots, der rund ein Drittel der Bevölkerung Kambodschas zum Opfer fällt.
Mitte März werden in Deutschland die als Antwort auf den Ölpreisschock eingeführten Tempolimits wieder abgeschafft, seitdem gilt auf Landstraßen wieder Tempo 100 und darf auf Autobahnen vielerorts nach Belieben gerast werden. Zum ersten Mal gibt es Energieferien, die heute eher unter dem Namen Semesterferien bekannt sind.
Ende März wird das Alter für Volljährigkeit von 21 auf 18 Jahre gesenkt, einen Monat später Günter Guillaume als Spion des anderen Deutschlands entlarvt.
Der israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir wird zum Verhängnis, den Jom-Kippur-Krieg ein halbes Jahr zuvor nicht kommen gesehen zu haben und tritt zurück. Die Nelkenrevolution beschert Portugal Demokratie, Augusto Pinochet festigt seine Diktatur in Chile.
Das Schreckgespenst Punkteregister wird am 1. Mai eingeführt, fünf Tage später kommt Bente Jacobsen zwar auch in Flensburg, aber ohne Punkte zur Welt. Am selben Tag, dem 6. Mai 1974 und nur wenige Stunden später tritt der in beiden Deutschlands gleichermaßen beliebte Entspannungspolitiker Willy Brandt zurück.
Am 8. Mai besiegt der FC Magdeburg in Rotterdam AC Mailand und gewinnt den Europapokal der Pokalsieger.
Das NSDAP Mitglied Walter Scheel wird am 15. Mai in der Bonner Beethovenhalle Bundespräsident, am Tag darauf wird Helmut Schmidt wenige Meter rheinaufwärts im Bundestag Kanzler.
Im Wonnemonat Mai betritt auch der 3,71 m lange und 70 PS starke Nachfolger des Käfers die Weltbühne, für 8000 Mark gibt es 800 kg Auto. Der Jubiläumsgolf Edition 50 aus dem Jahr 2024 ist gut einen halben Meter länger, hat mehr als doppelt so viel PS und kommt auf den sechsfachen Kilopreis. Die beiden Modelle bilden den Anfang und auch das absehbare Ende einer 37 Millionen Artgenossen umfassenden Ahnenreihe.
Im Juni 1974 streikt der öffentliche Dienst für drei Tage, rückwirkend zum Jahreswechsel werden die Gehälter um 11 % erhöht.
Die gesetzlichen Grundlagen für das Bundesumweltamt werden geschaffen.
Am 7. Juli werden wir unter tatkräftiger Mithilfe des unlängst verstorbenen Bernd Hölzenbein Fußballweltmeister. Schwalbe ist übrigens eines der wenigen Worte, die das Niederländische eins zu eins aus dem Deutschen übernommen hat.
Hätte das eine Deutschland zuvor nicht gegen das andere Deutschland verloren, hätten statt Schweden, Jugoslawien und Polen die Niederlande, Brasilien und Argentinien gedroht und uns wäre 32 Jahre später der Sommermärchenhit der Sportfreunde Stiller erspart geblieben.
Mitte Juli 1974 geht in Biblis das seinerzeit weltweit größte Atomkraftwerk ans Netz, sieben Tage nach der Katastrophe von Fukushima wird der Reaktor in Block A Mitte März 2011 zum letzten Mal heruntergefahren.
Ende Juli besetzt die Türkei halb Zypern, fast gleichzeitig schütteln die Griechen ihre Militärdiktatur ab.
Präsident Nixon reist ebenfalls im Juli 1974 in die Sowjetunion und wird wenig später in Amerika von der Watergate-Affäre eingeholt. Sein Nachfolger Gerald Ford unterzeichnet im November in Wladiwostok ein Abkommen zur Rüstungskontrolle, zuvor nehmen die USA erstmals diplomatische Beziehungen mit der DDR auf.
Im anderen Deutschland schlägt Frankfurt den HSV, wird Pokalsieger und der FC Bayern zum dritten Mal in Folge Deutscher Meister, bevor die Fohlen erneut die nächsten drei Jahre übernehmen.
Ende August schenkt Ferry Porsche seiner Schwester den überhaupt allerersten 911er mit Heckflosse zum Geburtstag, am anderen Ende der Speedskala steht vielleicht ähnlich stilprägend die Kastenform der in Form des Volvo 240 gegossene Schwedenstahl.
Der wiederum kommt Ende Oktober auf den Markt, als Muhammad Ali gerade mit George Foreman um den Weltmeistertitel aller Klassen kämpft und den bis dahin unbesiegten sieben Jahre jüngeren Foreman in der achten Runde K.O. schlägt.
Zuvor hatte die Volkskammer zum 25-jährigen Bestehen der DDR noch den Begriff der deutschen Nation und das Ziel Einheit aus der Verfassung gestrichen und sich damit endgültig Richtung Breschnew verabschiedet.
Holger Meins stirbt am 9. November in der Justizvollzugsanstalt Wittlich mit einem BMI von 11,6. Am 13. November hält Jassir Arafat eine Rede vor der UNO-Vollversammlung, neun Tage später wird dort die Resolution 3236 angenommen, die das Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung und Eigenstaatlichkeit prinzipiell anerkennt.
So neigt sich Jahr eins nach der durch den Jom-Kippur-Krieg ausgelösten Ölkrise seinem Ende zu, der Dezember 1974 macht dann mit einer zu dieser Zeit zumindest noch außergewöhnlichen Temperaturanomalie den Skifahrern das Leben schwer.
Und so können wir vieles, was uns in diesem Jahr als nicht ganz so gelungen begegnet, bereits in der Rückschau auf 1974 wiedererkennen. Ähnlich wie die Golfstaaten versuchte auch Mobuto mit dem Rumble in the Jungle internationale Anerkennung zu finden.
Die Palästina-Frage ist auch fünfzig Jahre und zahllose Vollversammlungen später ungeklärt und mal gewinnt die eine Fußballmannschaft, mal die andere.
Hohe Energiepreise führen bei Großverbrauchern, in Gesellschaft und Politik zu einer Reaktion, die dann die Menetekel als Übertreibung oder als notwendiger Anstoß zum Wandel entlarven.
Klimawandel gibt es schon immer, nur jetzt halt nicht länger in der Form „1934 und dann erst 1974 wieder einmal ein zu warmer Winter“.
Das vielleicht Schönste, was sich aus 1974 lernen lässt, ist die Geschichte mit dem Golf und dem Käfer. Das bereits erwähnte SS-Mitglied Ferry Porsche war auch an der der Entwicklung des KdF-Wagens maßgeblich beteiligt.
Von 1938 trat der Käfer dann seinen Siegeszug als das bis 2002 und eben jenem Golf weltmeist meist verkaufte Automobil an.
Vierzig Jahre nach der Entwicklung war aber auch der beste Käfer in die Jahre gekommen, die Rendite des Wolfsburger Autobauer stark unter Druck und die weiteren Aussichten alles andere rosig.
Und da entschied sich Volkswagen, mit dem Entwicklungsauftrag 337 gegen Evolution und wählte die Revolution: nicht rund, sondern kantig und eckig, nicht verspielt, sondern streng. Statt luftgekühlter Boxer hinten wassergekühlter Vierzylinder vorne.
Der Mut der Verzweiflung vielleicht, aber ausgezahlt hat er sich und sollte uns allen Mahnung sein.
Tim Jacobsen
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