Knapp fünf Monate, nachdem Anfang Mai im ehemaligen Wohnhaus und heutigem Museum König das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom Parlamentarischen Rat verabschiedet und am 23. Mai 1949 verkündet worden war, erschien Anfang November die erste Ausgabe Frankfurter Allgemeine Zeitung, Ende April fand im Frankfurter Kap Europa zum dritten Mal der Leserkongress „Zwischen den Zeilen“ statt, im Jubiläumsjahr nicht nur mit der sonst üblichen Einordnung des Zeitgeschehens, sondern auch mit einer Betrachtung der eigentlichen Bedeutung von Printprodukten, die wir Ihnen an dieser Stelle nicht vorenthalten möchten.
Jürgen Kaube, Mitherausgeber der F.A.Z. ordnete das 75-jährige Jubiläum ein in die durchschnittliche Lebenszeit von deutschen Unternehmen, die seinen Recherchen zufolge zwölf Jahre beträgt. „Die durchschnittliche Lebenszeit von Organisationen überhaupt soll etwa vierzig Jahre betragen, in diese Berechnung sind allerdings auch die katholische Kirche und die 1088 gegründete Universität von Bologna eingegangen. 75 Jahre sind jedenfalls ein deutlich über diesen Durchschnitten liegender Wert.“ Kaube überging an dieser Stelle geflissentlich, dass unser Gartenbau-Profi mittlerweile auf eine 111-jährige Geschichte zurückblicken kann.
„Lassen Sie mich mit der Frage beginnen, was das ist, eine Zeitung. Diese Frage hat ihre Naivität in einer Welt verloren, in der vor allem viele jüngere Bürger zwar wissen, was soziale Medien sind, was eine Website ist, ein Streamingdienst oder ein Nachrichtenportal – in der sie aber dem Konzept der Zeitung etwas ratlos begegnen. Zu diesem Konzept gehört es, einmal am Tag – früher sogar öfter, mitunter aber auch nur einmal in der Woche – einen Strich unter das Weltgeschehen zu ziehen. Zeitungen halten für einen Moment fest, was man sich merken und worüber man nachdenken sollte.
Dort, wo die Zeitung ein einziger Nachrichtenstrom ist, im Internet, liegt dieser Takt stärker in der Hand der Nutzer, die aber ebenfalls typischerweise morgens früh und abends auf die Website zugreifen. Das Lesen im Internet und auf den Smartphones drängt den Eindruck eines zusammenhängenden Produkts dabei etwas zurück. Man findet zumeist, wie generell im Netz, was man gesucht hat. Man kann die Website nicht durchblättern. Dafür liegt sie nicht als Mahnung herum, endlich gelesen zu werden …
Zeitungen gehören zu den Organisationen der modernen Gesellschaft, die stark unter Zeitdruck arbeiten. Die Wissenschaft darf sich Zeit lassen und misst ihre Projekte in Jahren. Die Schulen haben die Schüler sehr lange. Die Gerichte entscheiden, wenn die Gerichte entscheiden, die Genehmigungsbehörden auch, der Begriff Planfeststellungsverfahren ist eine Drohung, die Bahn hat einen Planungshorizont von Jahrzehnten. Fast hätte ich von Jahrhunderten gesagt …
Zeitung heißt also ständige Aktualisierung, heißt organisierte Unruhe. Journalisten sind empfindlich für die vielen Irritationen, die eine moderne Gesellschaft bereithält: Der Fall der Mauer, das Lachen eines Kanzlerkandidaten, überraschende Angriffskriege, Elefanten aus Botswana, monatelanger Streit über Wärmepumpen, ein Deutschunterricht, in dem Rechtschreibfehler nicht mehr zu Punktabzug führen. Wir leben in einer Welt voller Merkwürdigkeiten. Die Zeitung ist für diese Welt erfunden worden.
Inzwischen haben alle Medien mit dem Phänomen des Überdrusses an dieser Unruhe zu kämpfen. Von news fatigue ist die Rede, vom `Ich kann es nicht mehr hören´. Eine erwachsene Reaktion auf unsere Lebensumstände ist das nicht, vor allem deshalb nicht, weil übersehen wird, dass die Zeitung längst nicht mehr die Überbringerin der Nachrichten ist, sondern von ihr vielmehr gefragt wird, was sie bedeuten, wie sie zu gewichten und einzuordnen sind, was ihr Hintergrund ist und was wir über ihn wissen. Die Hauptaufgabe der Zeitung ist es, zu eigenen Gedanken anzuregen … Zeitung heißt vielmehr Redaktion. Das ist der große Unterschied zu all den unredigierten, nicht durchgesprochenen Texten in den sozialen Medien.“
In diesem Sinne freue ich mich zwar, dass Sie im Internet bis hierhin gekommen sind und wünsche Ihnen auch weiterhin viel Spaß und Freude – würde mir gerne aber auch wünschen, dass bei all dem Gepixelten das Gedruckte nicht zu kurz kommt.
Tim Jacobsen
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