Ohne Tomaten kein English Breakfast: „The Guernsey Tom“ mit ihrer markanten Kugelform hatte zu ihren besten Zeiten im Vereinigten Königreich einen Marktanteil von rund 60 %. Mehr als zwei Jahrzehnte lang bestimmten die roten Früchte das Leben auf der britischen Kanalinsel unweit der französischen Küste. Noch 1967 hatte jeder dritte Inselbewohnet beruflich irgendwas mit Gartenbau zu tun, ab Erntebeginn dominierten Tomatentransporter das Verkehrsgeschehen auf der Insel. Dreißig Jahre später war der Anteil der Guernsey-Tomaten auf unter 1 % gefallen, im gleichen Zeitraum ging die Anbaufläche von knapp 300 ha auf gut 5 ha zurück.
Man muss ein bisschen in der Zeit zurückgehen, um verstehen zu können, warum sich gerade dort eine florierende Tomatenindustrie entwickeln konnte. Den feinen Herrschaften im fernen London war es wohl irgendwann zu bunt geworden und sie zogen die Zügel an, unterbanden Schmuggel und Piraterie und stürzten die Inselökonomie im 19. Jahrhundert in eine tiefe Depression. Die Inselbewohner besannen sich auf ihre Standortvorteile wie den günstigen klimatischen Voraussetzungen und den für das Vereinigte Königreich zahlreichen Sonnenstunden und begannen, Tafeltrauben anzubauen.
Das erste kommerziell genutzte Gewächshaus wurde 1840 errichtet, ab 1861 verband ein regelmäßig verkehrendes Dampfschiff die kleine mit der großen Insel weiter nördlich. Während 1915 noch gut 2500 t Trauben geerntet wurden, waren es 1958 nur mehr 300 t, gleichzeitig hatte die samenvermehrte `Potentate´ Stück für Stück die Rebstöcke abgelöst. Kaum ein Haus auf Guernsey, an das kein Gewächshaus angebaut wurde. Die Inselbewohner profitierten in dieser Zeit auch von dem in heutigen Maßstäben äußerst kurzen Shelflife ihrer Produkte und der noch benötigten vielen Handarbeit auf dem Weg von der Ernte zu den Verbrauchern.
Die Bootsbauer sattelten auf Gewächshausbau um, es entstand eine Art Tomaten-Monokultur, Böden und Substrat wurden Dampf-sterilisiert und Anthrazitkohle aus Wales verfeuert. Ihren endgültigen Höhenflug erreichten die Guernseytomaten nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Gewächhausanlagen hatten die deutsche Besetzung überstanden, die phänomenalen Profite im Tomatenanbau sorgten für Goldgräberstimmung, schnell standen die Tomaten für die Hälfte des Bruttoinseleinkommens. Trotz der geographischen Nähe zu Frankreich blieb das Vereinigte Königreich der einzige Handelspartner.
Schnell stellte sich heraus, dass ein kooperativer Ansatz gerade in logistischer Hinsicht der nächste Schritt sein müsste. Folgerichtig übernahm 1952 das besonders in der Anfangszeit nicht unumstrittene Guernsey Tomato Marketing Board (GTMB) die weiteren Schritte ab der Ernte, so genannte Inspektoren sorgten für die Qualitätsbeurteilung und legten somit auch die Höhe der Familieneinkommen fest. Das GTMB nahm in Zeiten von Überproduktion Ware aus dem Markt und verklappte diese zu Dumpingpreisen auf der Insel, um den Preis im Vereinigten Königreich hochzuhalten.
Die Perfektionierung des Anbaus führte dazu, dass bald jeder Einwohner Guernseys rein rechnerisch mehr als 1000 t Tomaten im Jahr produzierte. In den 1970er Jahren begann sich dann aber der Himmel über der Tomateninsel zu verdüstern. Schuld daran waren je nach Interessenlage die Supermärkte, das Advisory Board, das GTMB, die Niederländer, die größeren Produktionsbetriebe oder auch alles zusammen. Das Ende der Tomatenerfolgsgeschichte unterscheidet sich dabei nicht so groß vom Aus regional bedeutsamer Industriezweige anderenorts.
Beigetragen zum Niedergang hat mit Sicherheit die Umstellung von Anthrazitkohle auf Öl. Den Preisanstieg im Jahr 1973 hatte niemand vorhersehen können, Öl wurde nicht nur um ein Vielfaches teuer, es wurde auch rationiert. Besonders hart traf dies die Gärtner, die zuvor auf den Rat des Advisory Board vertraut und auf Modernisierung gesetzt hatten. Auch die Zinsen stiegen deutlich und spätestens, als dann Ware aus Spanien und von den kanarischen Inseln flankiert von niederländischen Tomaten das Frühsegment eroberte, war „The Guernsey Tom“ nicht mehr konkurrenzfähig und zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Arbeitslosigkeit ein Thema. Den Schlussstrich unter die einstige Erfolgsgeschichte zog das Jahr 1999, als Guernsey offiziell Tomatennettoimporteur wurde.
Es ist ein Einfaches diese Entwicklung als ein weiteres Beispiel für die Zerstörungskraft der Globalisierung anzusehen. Unbezweifelt führt das Öffnen von Grenzen zu stärkerem Wettbewerb, aber während die Tomaten auf der Strecke blieben, machte die Insel als Off-shore-Standort für finanzielle Dienstleistungen aller Art Karriere. Mit den Tomaten auf der Strecke blieben allerdings auch Sozialstrukturen, die das Leben auf der Insel über viele Jahrzehnte geprägt hatten.
Die Kannibalisierung der Guernsey-Tomaten durch nach niederländischem Vorbild vor allem im landschaftlich vergleichsweise großzügigen Südengland entstandene Gewächshausanlagen mag eine Rolle für den Niedergang gespielt haben. Am schwersten gewogen hat mit Sicherheit aber eine Entwicklung, die dem Einzelhandel eine stets bedeutendere Rolle zuwies: hatte das GTNB noch die Informationshoheit und volle Kontrolle über Liefermengen, -wege und -zeitpunkte, begannen die Supermärkte – der Strichcode feierte gerade runden Geburtstag – spätestens mit der Wahl Margaret Thatchers im Jahr 1979 zunehmend alle Trümpfe in der Hand zu haben.
Und wenn da dann, wie heute fast schon üblich, vier Handvoll verschiedene Tomatensorten und -arten angeboten werden müssen, kann das mit einer „one size fits all Guernsey standard round“ nicht klappen. Auch Henry Ford produzierte zwar fast zwei Jahrzehnte lang ausschließlich das Modell T in schwarz, musste dann aber doch einsehen, dass die Geschmäcker nun einmal verschieden sind.
Tim Jacobsen
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