Natürlich sind knapp 8 000 € Brutto-Monatslohn eine Menge Geld, selbst wenn dies nur gut einem Drittel der Bezüge eines Richters am Europäischen Gerichtshof entspricht – zumal diese Summen ja nicht umsonst offiziell Grundgehalt genannt werden. Und natürlich könnten die 33 000 allein bei der EU-Kommission beschäftigten Beamten zusammengenommen die meisten deutschen Fußballstadien füllen, ohne dass allzu viele Eintrittskarten in den freien Verkauf kämen.

Führt man sich dann aber einmal vor Augen, dass die Stadt Köln allein rund 17 000 Angestellte beschäftigt und es mittlerweile in wohlhabenderen EU-Ländern schwierig geworden ist, mit dem oben genannten Grundbezug für EU-Parlamentarier qualifizierte Kandidaten hinter dem Ofenrohr hervor zu locken, relativiert dies so manche Kritik an Europa – zeigt aber auch, in welchem Ausmaß wir den gegenwärtigen Status quo als selbstverständlich erachten, und über so manchen durchaus beklagenswerten Detail nur allzu schnell das große Ganze aus den Augen verlieren.

Es ist gerade einmal 25 Jahre her, dass zwischen den Kommunalwahlen im Mai und den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR-Gründung im Oktober gewaltfreie Initiativen die so genannte friedliche Revolution einleiteten; ein Ereignis, das unser Verständnis von Europa im Sinne des „Alle Menschen werden Brüder“ der Europahymne auf radikale Weise veränderte. Wie fragil dieses „Eines Freundes Freund zu sein“ in Wirklichkeit jedoch ist, zeigen die Entwicklungen in der Ukraine. Nicht wenige Kommentatoren entstaubten angesichts der Bedrohungslage ihr Eiserner Vorhangs-Vokabular; überwunden geglaubte Ost-West Ressentiments wurden erfolgreich wiederbelebt.

Anscheinend braucht es also den Fastentag, um den Sonntagsbraten wertschätzen zu können. Ähnliche Ideen treiben auch so manchen wenig liebevoll „Eurokrat“ genannten Wahlbrüsseler um: Ein „Nicht-Europa-Tag“ einmal im Jahr könnte mit Grenzkontrollen und allem, was bis zur Einführung des freien Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr Anfang 1993 gang und gäbe war, das bisher Erreichte vor Augen führen. Zudem es ja auch kaum wissenschaftliche Literatur gibt, die anzweifelt, dass Freihandel der Wohlfahrt eines Landes mehr dient als Protektionismus.

Ohne Liberalisierung des Welthandels gäbe es auch keine Globalisierung – und so wenig tolerierbar manche Auswüchse des weltweiten Geschäftemachens auch sind, lassen die Zahlen keine Zweifel daran aufkommen, dass mit zunehmender Einbindung in den Welthandel die Armut in Ländern wie Indien oder China deutlich abnahm.

Eigentlich hätte es also für die mittlerweile über 500 000 Unterzeichner einer Online-Petition, die den (Noch-)EU-Handelskommissar Karel De Gucht sowie den (Noch-)EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz auffordert, die Verhandlungen über das so genannte TTIP-Abkommen zu beenden, gar keinen Anlass geben sollen, schließlich versprechen die wirtschaftlichen Zugewinne klingelnde Kassen: Die EU darf auf 119 Mrd. € jährlich hoffen, die USA auf 95 Mrd. €.

„Deshalb sind diese Abkommen gut für uns“

Dr. Angela Merkel

Wären da nicht zumindest drei ungeklärte Fragen: Was im Einzelnen in der mittlerweile fünften Runde seit Juli 2013 verhandelt wird, ist nicht bekannt. Auch, wer im Einzelnen verhandelt, ist nicht bekannt – genauso wie nicht bekannt ist, wer am Ende über den Vertrag abstimmen wird. Die Bundeskanzlerin verwies Mitte Mai im Europawahlkampf darauf, dass die EU über etliche Freihandelsabkommen mit anderen Ländern verfüge „und die EU hat jedes Mal ein Mehr an Umweltschutz, ein Mehr an Verbraucherschutz herausgehandelt“.

Dr. Angela Merkel betonte: „Deshalb sind diese Abkommen gut für uns.“ Auch den Vorwurf mangelnder Transparenz wies die Kanzlerin von sich: „Wenn ich alles sofort auf den Tisch lege, dann kriegt man meistens nicht das beste Verhandlungsergebnis“ – was angesichts der Abhöraktivitäten der amerikanischen Geheimdienste durchaus auch ironisch gemeint gewesen sein könnte.

Chlorhähnchen, Genmais und Hormonfleisch waren neben dem Investorenschutz die Schlagworte, mit denen der Parteitag der Grünen die TTIP-Debatte Anfang Februar überhaupt erst ins Rollen brachte. Während die unversehrte Rückkehr so gut wie aller USA-Urlauber eindrucksvoll belegt, dass der Konsum von Chlor, Gen und Hormon, in was für Kombinationen auch immer, nicht unbedingt zum sofortigen Ableben führen muss, ist die Problemlage beim Investorenschutz etwas heikler:

Ursprünglich sollten derartige Abkommen Investoren vor Enteignung schützen – das Beispiel der schwedischen Vattenfall, die sich den deutschen Atomausstieg mit 3,5 Mrd. € vergolden lassen will, zeigt jedoch, wie Konzerne über den Umweg der Schiedsgerichte gegen unliebsame Gesetze vorgehen können, zumal diese Schiedsverfahren sich jeglicher demokratischer Kontrolle entziehen und auch keinerlei Berufungsverfahren vorsehen.

Es lohnt sich also durchaus, Fragen wie „Wo finden die Debatten statt? In welcher Form kann man sich engagieren? Wie stehen Parteien und Politiker zu den einzelnen Themen?“ zu stellen und nicht resigniert davon auszugehen, dass dies womöglich die `falschen´ Fragen in unserer globalisierten Welt sein könnten.

Tim Jacobsen