"Now, here, you see, it takes all the running you can do, to keep in the same place. If you want to get somewhere else, you must run at least twice as fast as that!"

Autor: juetim (Seite 4 von 17)

Seit dem erfolgreichen Abbruch einer wissenschaftlichen Karriere lebt und arbeitet Tim Jacobsen gemeinsam mit Frau, Familie, Goldfischen und Katze in Bonn

Risikoabsicherung nützt uns allen

Gut 30 m hoch ist der Weihnachtsbaum, mit dem Uli Hoeneß nach einem Jahr Energiekrisenpause zuletzt erneut das Tegernseer Tal erleuchtete. Da sich zu dieser Zeit bereits ein wenig erfolgreicher Fußballsaisonverlauf andeutete, brauchte er für den Spott nicht zu sorgen. Dazu kam, dass fast frühlingshafte Temperaturen weiße Weihnachten verhinderten, anders dann vier Monate später, als der April mehr oder weniger in einem Schneechaos endete.

Ende Mai kam angesichts von mancherorts bis zu 50 cm Hagel nicht nur der Verkehr im Voralpenraum zum Erliegen, auf Rekordniederschläge folgten Jahrhunderthochwasser, besonders im Donaugebiet. Anders in den Jahren zuvor: Zwischen April und August 2018 regnete es in weiten Teilen Deutschlands kaum. Auch in den Folgejahren war es vielerorts zu trocken.

Klimawandel gibt es schon immer, nur jetzt halt nicht länger in der Form „1934 und dann erst 1974 wieder einmal ein zu warmer Winter“

Vorausgegangen waren ein extrem nasser Herbst und Winter, die dazu führten, dass die Ernte von späträumenden Kulturen, wenn überhaupt, nur unter erschwerten Bedingungen stattfinden konnte und die Herbstbestellung mit Raps und Wintergetreide vielfach unmöglich war – eine Gemengelage, die dem einen und anderen aus der jüngsten Vergangenheit durchaus bekannt vorkommen dürfte.

Der Dürresommer und die starke Ausweitung des Anbaus von ertragsschwächeren Sommergetreiden führten dann in Folge zu erheblichen Ertragseinbußen, am meisten litt darunter der Futterbau. Um in den Veredlungsbetrieben Kosten zu senken, wurden vermehrt Rinder zur Schlachtung gegeben, Bund und Länder stellten Hilfsgelder für die Landwirtschaft bereit.

Das vom Staat in solchen „Katastrophenjahren“ bereitgestellte Geld ist meist aber nur der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein; gleichzeitig sind die größten Profiteure oftmals diejenigen, die am wenigsten zur Risikovorsorge unternommen haben. Nicht vergessen werden sollte auch, dass angesichts klammer Haushalte staatliche Ad-hoc-Hilfen zukünftig auch eher die Ausnahme als die Regel sein werden.

Auch Zwischenfruchtanbau, konservierende Bodenbearbeitung, Verbesserung der Wasserhaltefähigkeit des Bodens, effiziente Bewässerungs- und Frostschutztechnik und ausreichend dimensionierte Dränung tragen dazu bei, Risiken zu minimieren, die Gefahr eines Ernteverlusts können sie jedoch nicht ausräumen.

260 Jahre nach der Gründung des weltweit ersten Brandversicherungsvereins in den Elbmarschen begann die Mecklenburgische im Jahr 1797, Hagelversicherungen anzubieten, ein erster Schritt in Richtung bessere Absicherung von Flächen und Kulturen gegen witterungsbedingte Gefahren. Unsere Vorreiterrolle in der Risikovorsorge haben wir jedoch verloren:

Während fast alle EU-Staaten ihren Gärtnern und Landwirten einen Zuschuss zu den Prämien für Versicherungen gegen Dürre, Starkregen, Sturm oder Frost zahlen, wird eine solche Förderung in der Bundesrepublik nicht flächendeckend angeboten. Knapp zwei Drittel Prämienzuschuss sollen es in Frankreich und Polen sein.

Auch in den Benelux-Staaten, Italien, Spanien und Portugal sowie weiteren mittel- und osteuropäischen Ländern wird die Risikoabsicherung stark alimentiert. Dementsprechend stark nachgefragt ist dieses Instrument des Risikomanagements dann auch in diesen Ländern.

Bereits 2019 forderte die Agrarministerkonferenz „einen Prämienzuschuss insbesondere für Sektoren und Risiken vorzusehen, in denen noch kein für die Betriebe wirtschaftlich tragbares Versicherungsangebot am Markt ist oder große Wettbewerbsunterschiede innerhalb der EU bestehen“.

Obwohl die Gemeinsame Agrarpolitik eine Förderung von Mehrgefahrenversicherungen ausdrücklich vorsieht, entstand statt eines großen nationalen Wurfes ein kleinstaatlicher Flickenteppich an Fördertatbeständen. Dabei wäre der finanzielle Aufwand für eine bundesweite Lösung überschaubar:

Die Kosten für eine um die Hälfte bezuschusste Mehrgefahrenversicherung für Ackerkulturen soll bei einem kleinen dreistelligen Millionenbetrag liegen. Kling nach viel Geld, gerade auch in Zeiten, in denen der Bundeshaushalt ein großes Streitthema ist. Dabei geht es dem Fiskus gar nicht so schlecht:

Die Steuereinnahmen steigen immer weiter, schneller sogar als die Preise und auch schneller als das, was Deutschland erwirtschaftet. Allerdings ist das Ganze dann ein bisschen „wie gewonnen, so zerronnen“: die maroden Schienen der Bahn, unsere fehlende Kriegstüchtigkeit, die auf Subventionen beruhende Energiewende und dann natürlich die Schuldenlast, die sich in Zeiten steigender Zinsen verstärkt bemerkbar macht – und schon fehlen 25 Mrd. €.

Die viel zitierten Radwege in Peru werden den Haushalt dabei genau so wenig retten wie Kürzungen bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Rund 130 Mrd. € kostet es uns, dass Menschen Renten bekommen, ohne selbst eingezahlt zu haben. Das Bürgergeld liegt mit allem, was dazu gehört, bei rund 40 Mrd. €. Richtig viel Geld also.

Verständlich aber auch, dass schon die Erwähnung des K-Wortes Menschen auf die Barrikaden bringt. Wie aber weiter? Die Vermögenssteuer, den Spitzensteuersatz, die Einkommenssteuer oder doch lieber die Mehrwertsteuer erhöhen? Es gäbe noch einen anderen Weg: Was, wenn wir, statt Abgaben zu erhöhen, doch einfach wieder die Wirtschaft in Gang brächten?

Man mag über die Merkeljahre denken, wie man will. Den ersten ausgeglichenen Haushalt seit 1969 im Jahr 2014 haben wir Wolfgang Schäubles Mutter, einer „schwäbischen Hausfrau“ zu verdanken.

Ich bin mir sicher, dass Gertrud Schäuble im Sinne ihrer kolportierten Vorstellungen zur Führung solider Privathaushalte, die unter Finanzminister Schäuble dann Staatsräson wurden, für eine einheitlich flächendeckende Bezuschussung einer Risikoabsicherung zur Zukunftssicherung unserer Betriebe plädiert hätte. Fördern und Fordern einmal anders.

Tim Jacobsen

Clarkson’s Farm revisited

In den vorhergegangenen 16 Episoden war bereits mehr als deutlich geworden, dass Jeremy Clarkson nicht unbedingt als Landwirt auf die Welt gekommen ist. Dass die Diddly Squat Farm dennoch lange genug am Leben blieb, um auch die seit Anfang Mai bei Prime Video verfügbare dritte Staffel fertig drehen zu können, liegt vor allem an der tatkräftigen Unterstützung Clarksons durch seine Freundin Lisa Hogan, den Praktiker Kaleb Cooper, den Theoretiker Charlie Ireland und den Mann für alles Gerald Cooper.

Wem die Reise in die Cotswolds zu weit ist, kann den Diddly Squat Farm Shop auch im Internet besuchen

Clarkson wollte angesichts bescheidener bzw. nicht vorhandener Erlöse hinwerfen, Cooper hatte aber bereits mit der Bestellung begonnen und Ireland Dünger geordert, bevor dieser nahezu unerschwinglich wurde. Und so machten sich die fünf, die unterschiedlicher nicht sein könnten, auf in ein neues Jahr, das im Zusammenschnitt herausfordernder nicht hätte sein können. So viel sei an dieser Stelle in Anlehnung an das Märchen-übliche „und wenn sie nicht gestorben sind“ verraten, Staffel vier wird nächstes Jahr erscheinen.

Tim Jacobsen

Bente zum Geburtstag

Eigentlich müsste der folgende Text mit einem Warnhinweis beginnen, immerhin geht es darin um Schurkenstaaten, Ausbürgerungen, Völkermord, Terrorismus, Spionage, Tarifkämpfe mit zweistelligen Abschlüssen, Klimawandel, drohende Deindustrialisierung, staatliche Bevormundung und nicht zuletzt auch um Diktatoren und Invasionen, wären wir nicht alle dieser Themen müde, weil sie uns sowieso jeden Tag mit dicken Lettern aus den Zeitungen anschreien.

Wer nun denkt, dass früher halt einfach sowieso alles besser war, wird nun eines Besseren belehrt, denn es geht im folgenden Text nicht um das Jahr 2024, sondern um genau ein halbes Jahrhundert zuvor:

Fünf Euro ins Phrasenschwein: Alles muss sich ändern, damit es so bleibt, wie es ist

Das Jahr 1974 sollte eigentlich mit Fahrverboten beginnen, stattdessen stellt Horst Brandstätter Anfang Februar auf der Nürnberger Spielwarenmesse erstmals in Playmobil verfeinertes Erdöl vor. Im selben Monat wird Alexander Scholschenizyn aus der Sowjetunion ausgewiesen und findet bei unserem Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll Unterschlupf.

Anfang März wird die Vereinbarung über die Einrichtung einer Ständigen Vertretung, die heute nur noch als Kölschkneipe weiterlebt, zwischen den beiden deutschen Staaten unterzeichnet, kurz davor stimmt der Bundestag dem Atomwaffensperrvertrag zu.

Die Roten Khmer legen derweil, von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbemerkt, das Fundament für die fünfjährige Schreckensherrschaft Pol Pots, der rund ein Drittel der Bevölkerung Kambodschas zum Opfer fällt.

Mitte März werden in Deutschland die als Antwort auf den Ölpreisschock eingeführten Tempolimits wieder abgeschafft, seitdem gilt auf Landstraßen wieder Tempo 100 und darf auf Autobahnen vielerorts nach Belieben gerast werden. Zum ersten Mal gibt es Energieferien, die heute eher unter dem Namen Semesterferien bekannt sind.

Ende März wird das Alter für Volljährigkeit von 21 auf 18 Jahre gesenkt, einen Monat später Günter Guillaume als Spion des anderen Deutschlands entlarvt.

Der israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir wird zum Verhängnis, den Jom-Kippur-Krieg ein halbes Jahr zuvor nicht kommen gesehen zu haben und tritt zurück. Die Nelkenrevolution beschert Portugal Demokratie, Augusto Pinochet festigt seine Diktatur in Chile.

Das Schreckgespenst Punkteregister wird am 1. Mai eingeführt, fünf Tage später kommt Bente Jacobsen zwar auch in Flensburg, aber ohne Punkte zur Welt. Am selben Tag, dem 6. Mai 1974 und nur wenige Stunden später tritt der in beiden Deutschlands gleichermaßen beliebte Entspannungspolitiker Willy Brandt zurück.

Am 8. Mai besiegt der FC Magdeburg in Rotterdam AC Mailand und gewinnt den Europapokal der Pokalsieger.

Das NSDAP Mitglied Walter Scheel wird am 15. Mai in der Bonner Beethovenhalle Bundespräsident, am Tag darauf wird Helmut Schmidt wenige Meter rheinaufwärts im Bundestag Kanzler.

Im Wonnemonat Mai betritt auch der 3,71 m lange und 70 PS starke Nachfolger des Käfers die Weltbühne, für 8000 Mark gibt es 800 kg Auto. Der Jubiläumsgolf Edition 50 aus dem Jahr 2024 ist gut einen halben Meter länger, hat mehr als doppelt so viel PS und kommt auf den sechsfachen Kilopreis. Die beiden Modelle bilden den Anfang und auch das absehbare Ende einer 37 Millionen Artgenossen umfassenden Ahnenreihe.

Im Juni 1974 streikt der öffentliche Dienst für drei Tage, rückwirkend zum Jahreswechsel werden die Gehälter um 11 % erhöht.

Die gesetzlichen Grundlagen für das Bundesumweltamt werden geschaffen.

Am 7. Juli werden wir unter tatkräftiger Mithilfe des unlängst verstorbenen Bernd Hölzenbein Fußballweltmeister. Schwalbe ist übrigens eines der wenigen Worte, die das Niederländische eins zu eins aus dem Deutschen übernommen hat.

Hätte das eine Deutschland zuvor nicht gegen das andere Deutschland verloren, hätten statt Schweden, Jugoslawien und Polen die Niederlande, Brasilien und Argentinien gedroht und uns wäre 32 Jahre später der Sommermärchenhit der Sportfreunde Stiller erspart geblieben.

Mitte Juli 1974 geht in Biblis das seinerzeit weltweit größte Atomkraftwerk ans Netz, sieben Tage nach der Katastrophe von Fukushima wird der Reaktor in Block A Mitte März 2011 zum letzten Mal heruntergefahren.

Ende Juli besetzt die Türkei halb Zypern, fast gleichzeitig schütteln die Griechen ihre Militärdiktatur ab.

Präsident Nixon reist ebenfalls im Juli 1974 in die Sowjetunion und wird wenig später in Amerika von der Watergate-Affäre eingeholt. Sein Nachfolger Gerald Ford unterzeichnet im November in Wladiwostok ein Abkommen zur Rüstungskontrolle, zuvor nehmen die USA erstmals diplomatische Beziehungen mit der DDR auf.

Im anderen Deutschland schlägt Frankfurt den HSV, wird Pokalsieger und der FC Bayern zum dritten Mal in Folge Deutscher Meister, bevor die Fohlen erneut die nächsten drei Jahre übernehmen.

Ende August schenkt Ferry Porsche seiner Schwester den überhaupt allerersten 911er mit Heckflosse zum Geburtstag, am anderen Ende der Speedskala steht vielleicht ähnlich stilprägend die Kastenform der in Form des Volvo 240 gegossene Schwedenstahl.

Der wiederum kommt Ende Oktober auf den Markt, als Muhammad Ali gerade mit George Foreman um den Weltmeistertitel aller Klassen kämpft und den bis dahin unbesiegten sieben Jahre jüngeren Foreman in der achten Runde K.O. schlägt.

Zuvor hatte die Volkskammer zum 25-jährigen Bestehen der DDR noch den Begriff der deutschen Nation und das Ziel Einheit aus der Verfassung gestrichen und sich damit endgültig Richtung Breschnew verabschiedet.

Holger Meins stirbt am 9. November in der Justizvollzugsanstalt Wittlich mit einem BMI von 11,6. Am 13. November hält Jassir Arafat eine Rede vor der UNO-Vollversammlung, neun Tage später wird dort die Resolution 3236 angenommen, die das Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung und Eigenstaatlichkeit prinzipiell anerkennt.

So neigt sich Jahr eins nach der durch den Jom-Kippur-Krieg ausgelösten Ölkrise seinem Ende zu, der Dezember 1974 macht dann mit einer zu dieser Zeit zumindest noch außergewöhnlichen Temperaturanomalie den Skifahrern das Leben schwer.

Und so können wir vieles, was uns in diesem Jahr als nicht ganz so gelungen begegnet, bereits in der Rückschau auf 1974 wiedererkennen. Ähnlich wie die Golfstaaten versuchte auch Mobuto mit dem Rumble in the Jungle internationale Anerkennung zu finden.

Die Palästina-Frage ist auch fünfzig Jahre und zahllose Vollversammlungen später ungeklärt und mal gewinnt die eine Fußballmannschaft, mal die andere.

Hohe Energiepreise führen bei Großverbrauchern, in Gesellschaft und Politik zu einer Reaktion, die dann die Menetekel als Übertreibung oder als notwendiger Anstoß zum Wandel entlarven.

Klimawandel gibt es schon immer, nur jetzt halt nicht länger in der Form „1934 und dann erst 1974 wieder einmal ein zu warmer Winter“.

Das vielleicht Schönste, was sich aus 1974 lernen lässt, ist die Geschichte mit dem Golf und dem Käfer. Das bereits erwähnte SS-Mitglied Ferry Porsche war auch an der der Entwicklung des KdF-Wagens maßgeblich beteiligt.

Von 1938 trat der Käfer dann seinen Siegeszug als das bis 2002 und eben jenem Golf weltmeist meist verkaufte Automobil an.

Vierzig Jahre nach der Entwicklung war aber auch der beste Käfer in die Jahre gekommen, die Rendite des Wolfsburger Autobauer stark unter Druck und die weiteren Aussichten alles andere rosig.

Und da entschied sich Volkswagen, mit dem Entwicklungsauftrag 337 gegen Evolution und wählte die Revolution: nicht rund, sondern kantig und eckig, nicht verspielt, sondern streng. Statt luftgekühlter Boxer hinten wassergekühlter Vierzylinder vorne.

Der Mut der Verzweiflung vielleicht, aber ausgezahlt hat er sich und sollte uns allen Mahnung sein.

Tim Jacobsen

Du hast keine Chance, aber nutze sie

Es ist ein bisschen schwierig geworden, die Frage, wie es einem so geht, in voller Überzeugung positiv zu beantworten. Der Grund für die schlechte Laune sind dabei dann nicht unbedingt die kleinen oder großen Zipperlein, von denen die einen von uns mehr, die anderen weniger geplagt sind. Auch die ersteinmal vielleicht etwas gar hohen Spargelsaisoneinstiegspreise haben daran keine Schuld, genau so wenig wie der Temperaturdipp, der den Beginn der Beet- und Balkonsaison auf nach Ostern vertagt.

Wenn bei unserem ehemals fünftwichtigsten Exportpartner Gefangenen Körperteile abgeschnitten werden und das Ganze dann staatlich orchestriert in den sozialen Medien stattfindet, dann ist unseren ehemaligen russischen Freunden einmal mehr gelungen, was kaum möglich schien, nämlich für Fassungslosigkeit zu sorgen.

Putins in Zweckgemeinschaft verbundener Diktatorkollege Kim macht derweil mit einem simulierten Angriff auf sein Nachbarland auf sich aufmerksam und eine „militärische Sonderoperation“ Chinas in Taiwan scheint nur mehr eine Frage der Zeit zu sein. Die Luftbrücke in den Gazastreifen verhilft einmal mehr den Stärkeren zu ihrem „Recht“ und unsere Fregatte „Hessen“ wird im Roten Meer umdrehen müssen, sobald die Munitionsschränke leer sind.

„Wer sich nicht in Gefahr begibt, der kommt darin um“

Herbert Achternbusch

Wie auch im Fall unserer militärischen Unterstützung der Ukraine stellt sich hier berechtigterweise die Frage, wem eigentlich damit gedient ist, wenn unsere Verteidigungsfähigkeit bis ins kleinste Detail in aller Öffentlichkeit diskutiert wird? So reicht dann das kleine Einmaleins, um den Tiger zahnlos werden zu lassen: wenn bis zu 20 Taurus Marschflugkörper benötigt werden, um die Kertschbrücke nennenswert zu beschädigen, dann bleiben von den kolportierten einsatzbereiten 150 bei uns nicht mehr viele über.

Bei den Luftverteidigungssystemen wie dem mit dem klangvollen Namen „Patriot“ sieht es noch ernüchternder aus und wenn dann der französische Staatspräsident – zugegebenermaßen etwas unkoordiniert – Bodentruppen für die Ukraine ins Rennen wirft, dann wirkt das zwar deutlich wehrhafter als die Angst unseres Bundeskanzlers vor der russischen Bombe, zeigt aber auch, dass wir in Zeiten, in denen europäische Einigkeit wichtiger wäre als vieles andere, wir eher dabei sind, uns Bedeutungs-mäßig selbst zu atomisieren.

Umfragewerte der AfD unter dem magischen Verfassungs-relevanten-Drittel werden bereits als Erfolg gefeiert und dann haben wir Donald Trump und den Klimawandel an dieser Stelle auch nur einmal kurz der Vollständigkeit halber erwähnt. Dabei ist Angst eigentlich etwas ganz praktisches, mit erhöhtem Puls und Blutdruck reagieren wir schneller und sind leistungsfähiger als im Normalzustand. Anders verhält es sich aber mit der Angst vor eher abstrakten Dingen wie dem Verlust von Sicherheit oder der diffusen Gefahr kriegerischer Auseinandersetzungen.

Patentrezepte zum Umgang mit dem Gefühl der Hilflosigkeit gibt es leider nicht. Aber nur, weil wir nicht mit einem Handstreich den Klimawandel aufhalten oder uns in die zumindest in unseren Breiten äußerst überschaubare Welt der Kohl-Jahre zurückkatapultieren können, bedeutet das nicht, dass wir nichts machen können. Wer schon einmal während der spoga+gafa durch die Hallen der Messe Köln gewandelt ist, wird bei so manchem Produkt zumindest still und heimlich Nutzen und vielleicht auch Sinn hinterfragt haben.

Vom 16. bis 18. Juni 2024 hat sich die größte Garten- und BBQ-Messe der Welt das Leitthema „Responsible Gardens – verantwortungsvolle Gärten“ auf die Fahnen geschrieben; angesichts des Konsumaufrufs, der mit den meisten der dort gezeigten Artikel einhergeht, eine auf den ersten Blick überraschende Wahl. Auch Aussteller und Besucher aus so gut wie allen Herren Ländern in der Domstadt zusammen zu bringen, scheint erst einmal wenig nachhaltig. Nachhaltig wird das Ganze dann aber genau dadurch, dass eben alle an einem Ort zusammenkommen.

In „verantwortungsvollen Gärten“ ist das Substrat dann vielleicht noch nicht vollkommen Torf-frei und es wird an heißen Sommertagen auch einmal der Wasserhahn aufgedreht, aber bitte nicht vergessen: auch die längste Wanderung beginnt mit einem ersten Schritt. Rechtsstaatlichkeit können wir von Deutschland aus nicht per Dekret in Russland einführen, wohl aber können wir dafür Sorge tragen, dass die Fundamente unserer eigenen Gesellschaft nicht erschüttert werden, sei es nun von rechts, von links oder durch pure Gleichgültigkeit. Ähnlich wie torf-reduziertes Substrat keinen großen Aufwand darstellt, sollte die Europawahl am 9. Juni 2024 mindestens genau so dick wie GreenTech und FlowerTrials in Woche 24 im Kalender markiert sein.

Tim Jacobsen

Streikweltmeister Deutschland?

In der ersten Januarhälfte dieses Jahres war es so, dass die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) streikte, das Ganze aber weitgehend in den Bauernprotesten, die ja sowieso auch das ganze Land lahmlegen sollten, unterging. Später lieferten sich dann GDL und das Bodenpersonal der Deutschen Lufthansa eine Art Wettstreit, und da wollten dann auch die Flugbegleiter nicht außen vor bleiben. Schließlich musste auch der Nahverkehr noch einmal in die Schlagzeilen und am Ende wusste niemand mehr, was noch fährt oder fliegt, von eigenen Transportmitteln einmal abgesehen, die sich dann die Straßen mit anderen Glücksrittern teilten und ganz ohne Blockade von selbst für Entschleunigung sorgten.

Die Bauernproteste gingen dann ein bisschen aus wie das Hornberger oder auf modern vielleicht eher Heilbronner Schießen; zum Glück möchte man im Rückblick meinen angesichts so mancher Parole, die wenig Lösungs-orientiert für ein eher klar unverträgliches Miteinander stand. Wer nun denkt, die bis Ende März 300 Stunden umfassende Bestreikung des Personen- und Güterverkehrs in dieser Tarifrunde sowie die fünf Warnstreiks bei der Lufthansa hätte es in dieser Form noch nie geben, liegt allerdings falsch. 2015 gilt als Spitzenstreikjahr. Vor allem durch die Arbeitskämpfe bei der Deutschen Post und dem sog. Kita-Streik fanden damals mehr als 2 Mio. Arbeitstage nicht statt.

Für das Jahr 2022 weist das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung 225 Arbeitskämpfe mit 674 000 ausgefallenen Arbeitstagen aus, deutlich mehr als die Bundesagentur für Arbeit, die allerdings selbst darauf verweist, dass bei der Verwendung ihrer Daten „die Unsicherheit und Untererfassung des Gesamtniveaus zu berücksichtigen“ seien. International sind wir, was Streiks angeht, eher Mittelfeld. In Belgien und Frankreich fielen von 2012 bis 2021 im Schnitt 96 beziehungsweise 92 Arbeitstage im Jahr je tausend Beschäftigte aus, deutlich mehr als unsere 18 Tage.

Eine Erklärung dafür ist, dass bei uns das Mittel des Arbeitskampfes eigentlich nur in Verhandlungsphasen für Tarifverträge erlaubt ist. In Frankreich hingegen darf jeder zum Streik aufrufen. Anders als in Deutschland sind bspw. auch Generalstreiks zulässig. Neu ist, dass Tarifkonflikte bei uns zuletzt schneller eskalierten. Honni soit qui mal y pense zeigen die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften in den letzten Jahren eine deutlich rückläufige Tendenz.

Das mittlere Bruttomonatsgehalt eines Lokführers liegt mit 38 Stunden Wochenarbeitszeit bei 3735 Euro, die Flugzeugabfertiger liegen nicht weitab. Knapp 10 % kürzere Arbeitszeiten und ein gutes Sechstel mehr in der Lohntüte fordert die GDL. Die Kosten durch Arbeitskämpfe für die Gesamtwirtschaft sind schwierig festzustellen. Lufthansa sieht sich 2024 durch Streiks schon mit 250 Mio. € belastet. Die Kosten für einen Tag Bahnstreik beziffert das Institut der deutschen Wirtschaft auf 100 Mio. €.

Unter den aktuellen Arbeitskämpfen leiden aber vor allem Millionen von Reisenden. Und so lässt sich den Forderungen, dass Streiken schön und gut ist, aber irgendwann eben auch ein Ende und wenn es gar nicht anders geht in Form einer Schlichtung haben muss, durchaus etwas abgewinnen. Und wahrscheinlich ist das dann immer noch mehr als der Saldo der „Woche der Wut“, die vielleicht mehr Porzellan zerschlagen hat, als unbedingt nötig gewesen wäre.

Tim Jacobsen

Cannabis Legalisierung: kein Ende in Sicht?

Der derzeit wohl interessanteste Beitrag zur Debatte um die bereits erfolgte und dann wieder rückabgewickelte, die anstehende oder wie auch immer Legalisierung von Cannabis stammt vom britischen Kultregisseur Guy Ritchie: Eddie Horniman tritt im Netflix-Achtteiler das Erbe seines Vaters an, der ihm – ganz das Titel gebende „The Gentlemen“ – allerdings nicht nur ein herrschaftliches, leicht baufälliges Anwesen inklusive Finanzprobleme vermacht hat, sondern auch eine riesige Cannabis-Plantage. Ganz unverhofft gerät Eddie so in Kontakt mit der Londoner Unterwelt, die er mit seinen eigenen Waffen schlagen und sich aus den Geschäftsbeziehungen zurückziehen will.

Soweit der Plan, mit der Zeit findet der Aristokraten-Sohn allerdings Gefallen am Gangster-Dasein.  So flott, wie sich die Handlung in wenigen Worten erzählen lässt, so turbulent, rasant und voller Irrungen und Wirrungen stellt sich das Ganze dann am Bildschirm dar. Natürlich endet der Schlamassel dann auch anders, als wie wo man denkt. Nur wenige Tage nach der Weltpremiere laufen die sozialen Medien heiß mit Spekulationen darüber, wie das in Staffel 2 weitergehen könnte. Wem acht Folgen als Einstieg erst einmal zu lang sind, kann auch mit dem gleichnamigen Spielfilm aus dem Jahr 2019 beginnen, wird dann aber unweigerlich am Ende der achten Folge landen.

Tim Jacobsen

Der Mörder ist immer der Gärtner?

Von wegen Spießerparadies: eine Kleingartenparzelle, ohne die es keine deutsche Wiedervereinigung gegeben hätte wird zur Operationsbasis eines Terrornetzwerkes und irgendwie erinnert alles gleichzeitig auch noch an die aktuelle geriatrische Linksterroristengroßfahndung: In einem top gepflegten Schrebergarten kippt erst eine Pächterin um, wenig später liegen noch zwei Nagetiere neben ihr. Und so viel sei an dieser Stelle verraten: in dem Mitte März erst-ausgestrahlten Tatort werden das lange nicht die einzigen Toten sein, und das mit der Strahlung wird auch noch eine Rolle spielen.

Wer am 17.03.2024 keine Zeit hatte, findet den sehr sehenswerten Münsteraner Tatort noch bis zum 17.03.2025 in der ARD Mediathek

Misstrauisch könnte man schon werden, angesichts von Schwarzer Tollkirsche, Herbstzeitlose und Engelstrompeten im Garten ist Boernes Reaktion „Hat diese Dame irgendwas angepflanzt, was nicht tödlich ist?“ durchaus verständlich. Und auch im vielleicht schönsten Dialog des klassischen 90-Minüters steckt viel Wahrheit: „Überfallen im Schrebergarten? Das waren einmal proletarische Oasen hemdsärmeliger Kameradschaft, wo fleißige Arbeiter liebevoll Spalierobst schnitten und dem kargen Boden die Rüben für den abendlichen Eintopf abrangen. Und was ist heute los? Da sind irgendwelche Wohlstandsverwahrlosten und betreiben Urban Gardening.“

Thiel: „Sie überraschen mich doch immer wieder, Boerne. Dass ausgerechnet Sie sich zum Fürsprecher des kleinen Mannes aufschwingen.“ Boerne: „Wenn der kleine Mann weiß, wo seine Scholle endet, dann hat der große Mann auf dem Golfplatz des Lebens seine Ruhe.“ Kein Vorurteil wird in diesem Tatort ausgelassen, in dem stockbiederen Paradies verwandelt sich so manch ein Verdächtiger entweder zur Leiche oder zum harmlosen Schmuckkörbchen-, Möhren- und Kopfkohlzüchter. Die Suche nach dem Täter bleibt spannend und flach ist höchstens das Gemüsebeet.

Tim Jacobsen

Wie alles mit allem zusammenhängt

Man könnte meinen, es liegt ein Fluch auf dem Zwiebelforum: nach der Erstausgabe 2014 ging es mehr oder weniger direkt vom Bonner GSI an die russische Riviera zu den Olympischen Winterspielen, die wiederum nur den Deckmantel für die Annektion der Krimhalbinsel darstellten. Womit nun leider auch der Krieg in der Ostukraine ziemlich genau sein Zehnjähriges hat.

2018 sorgte Orkantief Friederike passend zum Veranstaltungsbeginn in Peine für Verwüstung und Chaos in Deutschland. 2020 ging es ins Haus am Weinberg nach St. Martin – dort gab es einen der letzten spektakulären Sonnenaufgänge zu sehen, bevor es dann für uns alle „ab in den Lockdown“ hieß.

Aus dem Zweijahresrhythmus wurde kurzerhand ein Vierjahresrhythmus. 2024 war dann zwar die von Rukwied ausgerufene Wut-Woche gerade passend zu Veranstaltungsbeginn zu Ende gegangen, als wollte der Wettergott das Ganze aber nicht auf sich sitzen lassen, schüttelte Frau Holle, was vom Himmel ging und sorgte im wenig Winter-erprobten Rheinland für garantiert-nicht-Genehmigungs-pflichtige Entschleunigung.

Grund genug, ein bisschen wütend zu sein, hätten wir eigentlich alle: Stiftung Warentest rechnet vor, dass der CO2-Steueranteil an Benzin, Diesel, Heizöl und Erdgas zu Jahresbeginn um rund 50 % gestiegen ist. Von dem im Koalitionsvertrag angekündigten „sozialen Kompensationsmechanismus“ fehlt jedoch jede Spur, interessanter Weise genauso wie von einem Aufschrei in der Bevölkerung.

Die OECD attestiert der deutschen Durchschnittsfamilie die zweithöchste Abgabenlast aller OECD-Staaten. Nicht verwunderlich, sollten die Haushaltsdaten dann auch eigentlich gar nicht so schlecht sein, und liegen relativ zur Wirtschaftsleistung dann auch tatsächlich deutlich über denjenigen vom letzten Vorpandemiejahr. Wohin das ganze liebe Geld versickert, lässt sich je nach politischer Gesinnung unterschiedlich interpretieren und ausschlachten.

In all dem Gehupe und dem ganzen Trubel der zweiten Januarwoche ist nicht nur ein bundesweiter dreitägiger Bahnstreik komplett untergegangen, sondern auch, dass nicht nur Landwirte Leidtragende der Sparbeschlüsse waren, die von einem unzurecht zum Buhmann gemachten Bundesverfassungsgericht angeordnet wurden. Auch das Strompreispaket, das die Reduzierung der Stromsteuer für das gesamte produzierende Gewerbe auf das europarechtlich zulässige Mindestmaß bedeutet hätte, fiel dem Rotstift zum Opfer.

Die Verdoppelung der Netzengelte macht bei Haushaltskunden ein paar Dutzend Euro aus, bei industriellen Mittelständlern sind das schnell ein paar Hunderttausend Euro. Auch Gießereien und Verzinker, Kunststoff-, Metall- und Stahlverarbeiter stehen im Wettbewerb mit Unternehmen aus Ländern, in denen nicht nur der Strompreis deutlich niedriger ist. Höfesterben heißt im Rest der Wirtschaft Konkurs und Privatinsolvenz.

Hier eine leerstehende Werkhalle, dort die eine und andere Stellenstreichung werden Zeugnis davon ablegen, dass zumindest im Fall der Strompreise der Markt funktioniert hat: das auch durch den Atomausstieg verknappte Angebot führte und führt zu steigenden Preisen. Davon nicht ganz losgelöst sollte die Diskussion sein, ob der Netzausbau genauso wie der Ausbau der Erneuerbaren wirklich über den Strompreis finanziert werden muss.

Die DZ Bank prognostizierte Anfang Januar einen Rückgang der Anzahl landwirtschaftlicher Betriebe in Deutschland von derzeit 256 000 auf 100 000 im Jahr 2040. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gab es noch 1,8 Mio. Bauernhöfe, im Jahr 1960 zählte das damalige Bundesgebiet rund 1,5 Mio. landwirtschaftliche Betriebe. Bis 1980 halbierte sich diese Zahl, in den folgenden 20 Jahren sank sie noch einmal um fast die Hälfte auf rund 450 000 im Jahr 2000 – und das trotz fünf neuer Bundesländer. Gab es zu Beginn von Angela Merkels Regierungszeit noch knapp 400 000 landwirtschaftliche Betriebe waren es 2021 nur noch gut 260 000.

Ob letztendlich die Kluft zwischen Stadt und Land im Laufe der „Woche der Wut“ etwas kleiner geworden ist, wird sich zeigen müssen. Zu oft schon hätten diejenigen, die diesen Winter wieder einmal am Straßenrand Beifall klatschten, die Gelegenheit gehabt, im Alltag auf die Jagd nach dem ultimativen Supermarktschnäppchen zu verzichten und durch ihr Konsumverhalten Wertschätzung zum Ausdruck zu bringen.

Was auf jeden Fall im Gedächtnis bleiben wird, ist eine erneute Verrohung des Debattentons: neben „ohne Bauern gibt es keinen Jungbäuerinnenkalender“ gab es eben auch die Anschuldigung unseres Bauernpräsidenten, im Berliner Regierungsviertel habe noch nie jemand geschwitzt oder gearbeitet. Und schon baumelten die Ampeln an Galgen.

Tim Jacobsen

Erklärbär Staatssekretär

Hermann Onko Aeikens kennt seine Bauern: Der 1951 geborene Agrarwissenschaftler war Minister in Sachsen-Anhalt, auch die Bundeslandwirtschaftsminister Schmidt und Klöckner vertrauten auf seine Dienste. Und wenn dann dieser Hermann Onko Aeikens den Bauern bescheinigt, dass sie es versäumt hätten, etwas gegen die Entfremdung zu tun, dann könnte dies in der spätestens seit dem Bekanntwerden des möglichen Endes ihres Dieselprivilegs wieder eher konfrontativen Gesamtlage für wohltuende Einordnung sorgen.

Daran, dass die Landwirtschaft systemrelevant ist, lässt Aeikens keine Zweifel aufkommen. Wie in kaum einem anderen Wirtschaftszweig gebe es in der Landwirtschaft allerdings jede Menge Zielkonflikte – Aeikens versucht, in seinem 276 Seiten umfassenden „Unsere Landwirtschaft besser verstehen – Was wir alle wissen sollten“ über Zusammenhänge, Widersprüche und Auswüchse aufzuklären. Aeikens hält Balance, lenkt den Blick sowohl auf die Bauern vor Ort als auch auf die große Weltbühne des internationalen Agrarhandels, und stellt die Bauern dabei weder als Verlierer noch als Gewinner dar.

In groben Zügen zeichnet er den Wandel der deutschen Landwirtschaft seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach, nichts weniger als einer der Garanten unseres Wohlstandes, stellt aber auch die  Frage nach den Grenzen dieser Entwicklung. An den Stellen, an denen der Autor den nüchternen Agrarwissenschaftler Agrarwissenschaftler sein lässt und in Plauderlaune gerät, gewinnt das Ganze an Farbe und wird lebendig – auch wenn der eigentlich Vorzug des im Mitteldeutschen Verlag erschienen Buches ist, ein hoch emotionales Thema erfrischend unaufgeregt zu betrachten.

Tim Jacobsen

„1, 2 oder 3″ oder 3, 2, 1, meins“?

Michael Schanzes Quizshow-Klassiker „1, 2 oder 3“ war nicht nur reine Wissensabfrage, sondern für die teilnehmende Schülerschar immer auch ein bisschen ein Selbstbewusstseinstest. Wer würde sich wider besseres Wissen der Mehrheit anschließen – und wer würde wagen, der eigenen Überzeugung zu vertrauen?

Am heimischem Bildschirm war leicht reden, schließlich fehlten dort die Gruppendynamiks- und -druckkomponente. Außenseiter zu sein ist nicht jedem gegeben und so werden in Umfragen munter Dinge behauptet, die einzig und allein dem allgemeinen Wohlgefühl dienen.

Spannend wird es dann an dem Punkt, an dem gewissermaßen ohne Sozialkontrolle verschiedene Handlungsoptionen zur Verfügung stehen. Einer der Klassiker der Spieltheorie sind die sog. Diktatorspiele: Probanden müssen sich zwischen zwei Varianten entscheiden, die dann jeweils nicht nur für sie selbst unterschiedliche Auswirkungen haben.

Ein Beispiel: Wähle ich Option A, bekomme ich selbst fünf Dollar, eine andere Person einen Dollar. Wähle ich Option B, bekomme ich selbst sechs Dollar, eine andere Person fünf Dollar. Mit Option B verhelfe ich also mir selbst zu einem zusätzlichen und einer anderen Person zu zusätzlichen vier Dollar.

Sie müssen niemandem verraten, wie Sie sich entscheiden würden und wir möchten auch gar nicht zu viel verraten, aber Option A wird gar nicht so selten gewählt. Nicht nur in der Weihnachtszeit: gar nicht so nett. Die Parameter lassen sich natürlich beliebig verändern – neues Spiel, neues Glück:

Wähle ich in einer konfliktreicheren Variante Option A, bekomme ich fünf Dollar, die andere Person auch. Wähle ich dagegen Option B, bekomme ich sechs Dollar, die andere Person aber nur einen Dollar.

Also entweder einen Dollar weniger für mich und vier mehr für die andere Person oder einen mehr für mich und vier weniger für die andere Person. Hier wird die Entscheidung zwischen Egoismus und Rücksichtnahme dann nochmals etwas kniffliger.

Noch spannender wird es, wenn die Konsequenzen für die andere Person außer Acht gelassen werden können:

Ich kann mich zwischen sechs Dollar und fünf Dollar entscheiden, und mit einem Klick mehr kann ich ohne jegliche Konsequenz für mich selbst, in Erfahrung bringen, welche Auswirkungen dies auf die andere Person hat.

Nehmen Sie direkt die sechs Dollar oder beweisen Sie Empathie und klicken Sie zumindest einmal auf die Schaltfläche, die Ihnen erlaubt mehr über die Auswirkungen Ihres eigenen Handelns zu erfahren? In entsprechenden Versuchsreihen verzichten die meisten auf den Extraklick und stecken die sechs Dollar ein.

Die Wissenschaft wäre nicht die Wissenschaft, gäbe es für dieses Verhalten nicht auch eine passende Bezeichnung: mutwillige Unwissenheit nennt sich das dann. Nur was bringt uns dazu, so zu handeln? Zur „willful ignorance“ kommt das „excuse seeking“, die Suche nach einer Ausrede, hinzu. Und das funktioniert so:

Wenn ich nicht weiß, welche Folgen mein Handeln haben wird, kann ich auch nicht rücksichtslos handeln. Darüber hinaus wird es natürlich auch immer dieenigen geben, die ohne Skrupel und Nachdenken immer auf den Maximalgewinn klicken sowie diejenigen, die einfach nur furchtbar genervt von allem sind und schnell entscheiden möchten.

Linh Vu geht in ihrer Anfang November im Psychological Bulletin erschienenen Metaanalyse zum Thema „Ignorance by choice“ noch einen Schritt weiter und zitiert eine Reihe von Studien, in denen Probanden sogar zu zahlen bereit waren, um nichts über die Konsequenzen ihres Handelns zu erfahren.

In zwei weiteren Studien wurden die Probanden nach der Wahl ihres Spielzugs gefragt, ob sie nicht im Nachhinein wissen wollen, welche Auswirkungen ihre Entscheidung auf die andere Person hatte. Vier Fünftel der Befragten konnten dem nicht widerstehen.

Befragt, warum sie dies nun im Nachhinein doch wissen wollen, wo doch diese Möglichkeit auch vor der eigentlichen Entscheidung bestanden hätte, folgt bei nicht wenigen Probanden das Eingeständnis, dass es moralisch problematischer sei, bei vollem Wissen egoistisch zu handeln als bei selbstgewählter Unwissenheit.

Lustiger Weise steigt in einer Art Umkehrung des Diktatorspiels, dem sog. Ultimatumspiel, das Verständnis der „anderen Person“ für die Entscheidung des „ichs“, wenn dieses in selbstgewählter Unkenntnis handelt.

Warum Menschen sich überhaupt in selbstgewählte Unkenntnis flüchten, könnte Vu zufolge daran liegen, dass manche Menschen grundsätzlich gerne als altruistisch gelten wollen; die vorsätzliche Unwissenheit erlaube es ihnen dann, dieses Selbstbild aufrechtzuerhalten, ohne altruistisch handeln zu müssen.

Und schon sind wir direkt an den Frischetheken unserer Supermärkte gelandet. Lieber das regionale Produkt oder das günstigere mit den vielen Food miles? Lieber Stallhaltung oder Premium? Lieber deutscher Mindestlohn oder 210 € im Monat in Marokko? Und während manch Gutsituiertem Lebensmittel gar nicht teuer genug sein können, ist bei anderen ab Mitte des Monats die Kasse leer.

Grundsätzlich, und das ist das beruhigende an Vus Erkenntnissen, sind die meisten Menschen bereit, das Richtige zu tun, wenn sie sich über die Konsequenzen ihres Handelns vollständig informiert fühlen. Allerdings, und auch das zeigt die Studie, spielt der gesellschaftliche Druck sowie der Wunsch, sich selbst in einem guten Licht zu sehen, in der Entscheidungsfindung keine kleine Rolle.

Da Rechtschaffenheit oft kostspielig, mühsam und aufwändig ist, bietet selbstgewählte Unkenntnis einen einfachen Ausweg. Im Umkehrschluss sollte ein tieferes Verständnis dieses Mechanismus´ allerdings auch ermöglichen, in Dingen, die uns wichtig sind, die Weichen so zu stellen, dass dieser Ausweg möglichst unattraktiv erscheint.

Tim Jacobsen

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