"Now, here, you see, it takes all the running you can do, to keep in the same place. If you want to get somewhere else, you must run at least twice as fast as that!"

Kategorie: Corona (Seite 2 von 3)

Corona macht Hoffnung

Ist im Englischen etwas wie Kraut und Rüben, wird es schnell sehr lautmalerisch: topsy-turvy geht noch einigermaßen, higgledy-piggledy hingegen verlangt volle Konzentration, um bei der Aussprache nicht ins Schleudern zu kommen. Was aber will uns das Landwirtschaftsministerium nun mit der Kampagne „Kraut und Rüben. Gibt’s nicht für’n Appel und’n Ei“ sagen? Sind Kraut und Rüben zu teuer, als dass es sie für einen Apfel und ein Ei geben würde? Oder sind Äpfel und Eier etwa zu billig? Steht vielleicht ein Systemwechsel an und wir tauschen demnächst wieder Naturalien?

Nein, natürlich steckt viel mehr dahinter: dieser vielleicht letzte Streich Julia Klöckners soll schaffen, was all die (nein, nicht: Aldi) Kampagnen der Vergangenheit nicht vermochten: die Wertschätzung von Lebensmitteln beim Verbraucher und damit gleichzeitig die Wertschöpfung beim Erzeuger zu steigern. Denn, da ist sich unsere Landwirtschaftsministerin sicher: Die „Landwirtschaft soll noch mehr auf Klima- und Umweltschutz, auf Artenvielfalt und den Tierschutz achten“. Sie weiß aber auch: „das gibt es nicht zum Nulltarif“, denn Investitionen sind nötig: „in neue Produktionsmethoden, moderne Ställe und Technik“. Was in Klöckners Argumentation zumindest dann auch bedeutet, dass dummerweise nur die Zulieferindustrie von der gestiegenen Wertschätzung profitieren wird.

Vielleicht steckt aber auch eine ganz andere Botschaft hinter der Kampagne: die günstigen Angebote, die es für den sprichwörtlichen Apfel und das Ei zu kaufen gibt, haben etymologisch ihren Ursprung im Schnittpunkt von Angebot und Nachfrage. Werden Gegenstände in großen Mengen produziert und angeboten, kosten sie meist nicht viel, zumindest so lange ein deutlicher Angebotsüberhang besteht. Soll der Preis steigen, muss entweder das Angebot verknappt oder die Nachfrage vergrößert werden. Und genau deshalb ist Klöckners Inwertsetzungsstrategie von Beginn an zum Scheitern verurteilt: Ohne das eine oder das andere oder am besten beides wird es nicht gehen.

Die von Klöckner ins Rennen geworfenen Hashtags #UnsereErnteUnserEssen #MehrWertschätzung ergeben auf Twitter keinen Treffer. So wenig Treffer sind selten

Tim Jacobsen

Seit Wochen fluten spanische Erdbeeren die Frischetheken der deutschen Supermärkte, kostet das Pfund einmal nicht 99 ct, sondern sprengt es die 1 € Schallmauer, ist es ziemlich sicher, dass der knallbunte Reduktionsaufkleber den Preis kurz vor Ladenschluss wieder zuverlässig in den zweistelligen Centbereich drückt. Auch in Spanien müssen Erdbeeren bewässert, gedüngt und gepflückt werden, auch in Spanien kostet Verpackungsmaterial Geld. Der LKW hat zwar Platz für sehr viele Erdbeeren, mit Luft und Liebe fährt aber auch der nicht.

Zu Beginn der Coronakrise gab es diesen kurzen Moment, als von vielen der Stress des Alltags abfiel und dieser Alltagstress noch nicht abgelöst worden war vom Stress, keinen gewohnten Alltag mehr zu haben. Eine kurze Zeitlang schien es, als würde gleichzeitig mit dem Virus eine Art Läuterung Einzug halten. Auch Menschen, deren Alltag sonst zwischen Aufstehen und ins Bettgehen generalstabsmäßig durchgetaktet war, schienen auf einmal große Entschleunigungsfans geworden zu sein. Das tut uns doch mal allen gut und der Umwelt sowieso, war ein Stück weit die Losung des letztjährigen Frühlings. Denn dass da irgendwas mit der Natur im Argen ist, hatte sich ja schon länger herumgesprochen.

Viele, die nicht von existentiellen Zukunftsängsten bedroht waren, nutzten die Zeit im ersten Lockdown zum Frühjahrsputz, und über all das Entrümpeln und Renovieren geriet die Begeisterung über die ungeahnten Möglichkeiten, die das Coronakrisenpaket gewissermaßen als Nebenwirkung mit sich brachte, schnell wieder in Vergessenheit. Spätestens als die Empörung über die Verhältnisse bei Tönnies im Juni letzten Jahres schneller verpufft ist als es dauert eine Bratwurst zu essen, war mehr oder weniger klar, dass wir wieder im gleichen Trott gelandet waren. Mit dem kleinen Unterschied, dass eigentlich immer noch allen klar ist, dass wir den Karren an die Wand fahren, uns aber die Ablenkungsmöglichkeiten der Vorcoronazeit fehlen, weshalb wir uns dann ja auch mit Sehnsucht die Zeit vor Corona herbeiwünschen.

Da wir aber mittlerweile auch selber nicht mehr so sind, wie wir vor Corona waren, wird es nie wieder so sein können wie es davor war – und einmal mehr zeigt sich, dass uns nur Humor durch schwierige Zeiten helfen kann. Wahrscheinlich haben noch nie so viele Leute genau um 21:00 Lust bekommen, doch noch einmal vor die Tür zu gehen und eine Runde zu drehen. Und vielleicht hat sich ja doch was geändert, vielleicht ist doch etwas von der Entschleunigung haften geblieben. Und dann wären die zum Ende der Ladenöffnungszeit noch einmal deutlich vergünstigten spanischen Erdbeeren ein Zeichen dafür, dass es eben nicht länger unbedingt das größte Schnäppchen sein muss, dass internationale Lieferketten auch angesichts noch so ausgetüftelter Lieferkettengesetzen stärker als zuvor hinterfragt werden und dass die Begeisterung für regionale und saisonale Produkte, wie sie sich im letzten Frühsommer manifestiert hatte, kein Strohfeuer war.

Tim Jacobsen

Am Thema Corona kam keiner vorbei

Mitte März war eine der Hauptfragen des online abgehaltenen zweiten FAZ-Kongresses: Wie gut steht Deutschland in der Krise da? Jens Spahn ließ in der Beantwortung dieser Frage keine Zweifel aufkommen: Besser als man denkt. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mahnte eingangs der Veranstaltung: Wir sollten uns in der Corona-Krise nicht von Schwarzmalerei anstecken lassen.

Schlussredner Sebastian Kurz gab sich optimistisch, dass im Sommer Normalität in das öffentliche Leben zurückkehren könnte. Der österreichische Bundeskanzler berichtete von einer Reise nach Israel: Dort kehrte angesichts einer hohen Durchimpfungsrate Anfang März die Normalität zurück. Kurz erläuterte, dass in Österreich mittlerweile wöchentlich mehr als ein Viertel der Bevölkerung getestet werde. Die hohe Zahl an Testungen sei zwar „kein Allheilmittel“, aber sie würde dazu beitragen, „dass die Ansteckungen nicht explosionsartig steigen“.

Auf die Frage, ob uns ein Zeitalter der Pandemie bevorstehe, erwiderte Kurz, er teile Steinmeiers Einschätzung, dass wir lernen müssten, mit dem Virus zu leben; er sei optimistisch, dass Corona „von einer pandemisch-politischen Frage wieder zu einer medizinischen Frage“ werde. Es sei zwar auch in Zukunft mit weiteren Mutationen des Virus zu rechnen, dafür müssten dann analog zur Grippeimpfung die Impfstoffe angepasst werden.

Gesundheitsminister Jens Spahn griff die Äußerung von Steinmeier auf, dass der deutsche Hang zum Perfektionismus nicht die wirksame Bekämpfung des Virus beeinträchtigen dürfe und Pragmatismus gefragt sei. Allerdings hielt Spahns Ankündigung, die Ausweitung der Schnelltest-Kapazitäten sei ein Paradebeispiel dafür, wie Bund, Länder und Gemeinden neue Maßnahmen in die Tat umsetzten, dem Realitätscheck nur wenige Tage später nicht stand.

Vielleicht ahnte er auch schon wie es weitergehen würde, als er sich während des Kongresses wünschte, dass den Entscheidungen von Bund und Ländern mit mehr Nachsicht begegnet werden sollte: „Dass nicht alles gleich ein Debakel und Desaster ist“, was nicht auf Anhieb reibungslos funktioniere. Es müsse auch in die Beurteilung einbezogen werden, dass „täglich viel gelingt“.

Auf seine Feststellung angesprochen, am Ende der Pandemie werde man einander manches verzeihen müssen, erklärte der Bundesgesundheitsminister, dass es nach zwölf Monaten Pandemie wahrscheinlich keine Entscheidung mehr gebe, „die nicht irgendjemand für falsch hält“; so gesehen, gebe es eben auch keine Entscheidung, „bei der ich nicht jemand um Verzeihung bitten müsste“.

Christian Lindner erinnerte daran, dass die politischen Entscheidungen nicht nur die Gesundheitsschäden, sondern auch die sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise einkalkulieren müssten. Die gesellschaftliche Akzeptanz der verhängten Einschränkungen sinke. Der FDP-Chef plädierte dafür, dass es außer in besonders von Corona belasteten Gebieten möglich sein müsste, „mehr zu öffnen“.

Tim Jacobsen

Ihr Landhändler hilft

„Wir dürfen nicht noch mehr wertvolle Zeit verlieren“, mahnt Baywa-Vorstandschef Klaus Josef Lutz in einem Brief an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der in verschiedenen Medien zitiert wird. Der lahmenden deutschen Impfbereitschaft müsse Beine gemacht werden, weshalb der Land- und Baustoffhändler der Bundesregierung gerne übriggebliebenen Astra-Zeneca-Impfstoff abkaufen und die eigene Belegschaft impfen wolle: „Die Verabreichung des Impfstoffs garantiere ich professionell und schnell zu organisieren.“

Tim Jacobsen

Es bleibt kompliziert

Mit dem Inkrafttreten der Coronaschutzverordnung vom 22.02.21 blieb in Nordrhein-Westfalen zumindest der Betrieb von so genannten „weiteren Einzelhandelsgeschäften, die kurzfristig verderbliche Schnitt- und Topfblumen sowie Gemüsepflanzen und Saatgut verkaufen, soweit sie den Verkauf hierauf einschließlich unmittelbaren Zubehörs (Übertöpfe und so weiter) beschränken“, zulässig.

Ihre Nonfoodverkaufsaktivitäten nicht aufstocken durften die „Einrichtungen des Einzelhandels für Lebensmittel“ und auch „auf Wochenmärkten darf das Sortiment solcher Waren, die nicht Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs sind, nicht gegenüber dem bisherigen Umfang ausgeweitet werden“.

„Der Betrieb von Bau- und Gartenbaumärkten“ war weiterhin „nur zur Versorgung von Gewerbetreibenden, Handwerkern sowie Land- und Forstwirten mit den jeweils betriebsnotwendigen Waren zulässig, anderen Personen darf (und das war tatsächlich eine vorsichtige Wendung zum Guten) der Zutritt nur für den Verkauf von Waren gemäß Satz 1 Nummer 7 (das sind die bereits genannten kurzfristig verderblichen Schnitt- und Topfblumen sowie Gemüsepflanzen und Saatgut) gestattet werden.“

Trotz bestem Frühlingswetter macht sich allerorten eine deutlich spürbare Verzagtheit breit

Tim Jacobsen

Ein Jahr nachdem am 22. März 2020 der erste Corona-Shutdown in Kraft trat, scheint Deutschland von dem so oft geforderten einheitlichen Vorgehen in der Krise weiter entfernt denn je: was in Bonn Ende Februar bereits erlaubt war, hatte 60 km rheinaufwärts in Koblenz schon keine Gültigkeit mehr. Wurde der erste Shutdown mit der Wiedereröffnung der Friseurläden am 4. Mai 2020 nach sieben Wochen gelockert, öffnen nun die Friseure nach zehnwöchiger Zwangspause Anfang März wieder. Kinder und Jugendliche dürfen je nach Bundesland mal mehr, mal weniger und manche überhaupt nicht in die Schule oder Kindergarten gehen – und sind dabei mehr als nur doppelt gekniffen:

Nicht nur ist absehbar, dass in den letzten zwölf Monaten bei vielen Schülerinnen und Schülern aus Richtung Schule nur sehr wenig ankam und so mancher komplett aus dem Raster gefallen ist. Es zeigt sich auch einmal mehr, dass die Schwachen und Schutzbedürftigen in unserer Gesellschaft keine Lobby haben – anders als viele Wirtschaftsunternehmen, die auf großzügige finanzielle Hilfen pochen können. Die Kosten hierfür landen dann allerdings wiederum in Form von Schulden auf den Schultern der Kinder, die sie dann im Laufe ihres Lebens abzahlen müssen – obwohl sie bei den Hilfen weitgehend leer ausgingen und ohnehin schon zu den am schwersten Betroffenen gehören.

Auch ein Jahr später ist kein Konzept erkennbar, wie wir aus der Krise wieder herausfinden können. Handwerkliche Fehler wie das Impfchaos und die Diskussion um Schnelltests verstärken diesen Eindruck nur und so macht sich Ende Februar trotz bestem Frühlingswetter allerorten eine deutlich spürbare Verzagtheit breit. Wenn auch nur in homöopathischen Dosen bleibt als Heilmittel gegen den Corona-Blues, dass die gestiegenen Benzinpreise nicht nur eine Folge der CO2-Bepreisung sind, sondern auch ein Zeichen dafür, dass sich die Wirtschaftslage weltweit erholt.

Tim Jacobsen

Trostspender in guten wie in schlechten Zeiten

Am Anfang stand ein Stück Treibholz, die Aussicht auf Sommerferien an der kroatischen Adriaküste und eine gewisse handwerkliche Begabung, die mit einer absolvierten Tischlerausbildung untermauert wurde und wieder dringend ein kreatives Ventil suchte. Es ist wahrscheinlich nicht zu weit hergeholt, zu vermuten, dass Ralf Knoblauchs weiterer Karriereweg, der nach dem Theologiestudium zur Diakonsweihe führte, in gewisser Weise auch die Vorstellung davon prägte, was er in dem Stück Strandgut sah. So entstand der erste einer mittlerweile mehr als hundertköpfigen Schar von Königen.

Während seiner drei Wochen Sommerfrische merkte Knoblauch schnell, dass es ein leichtes war, auf dem Campingplatz über den König mit anderen ins Gespräch und dabei ohne Umschweife vom Smalltalk auf Grundsätzlicheres zu kommen. Es ist die Erinnerung an die eigene Menschlichkeit, an die Königswürde, die jedem von uns zu Teil ist und die von den grobgehauenen Figuren ausgehe, erklärt Knoblauch.

Das mache diese Figuren zu universellen Botschaftern der Menschlichkeit und so finden sich weltweit eine Vielzahl seiner Könige, die bald darauf von weiß gewandeten Königinnen komplettiert wurden, an Orten, wo Menschen sich begegnen. An Orten, an denen das Thema Würde eine besonders große Rolle spielt, sei es nun in Altersheimen und Hospizen, Beratungsstellen für Menschen in Not oder den Schiffen der Flüchtlingsretter auf dem Mittelmeer.

Eigen-artige Kunst, im wahrsten Sinne des Wortes

Tim Jacobsen

Während der ersten Wochen der Coronapandemie waren die Könige auch in Bäckereien und Einkaufszentren anzutreffen, als Trostspender, aber auch als Einladung, berührt zu werden und nicht zuletzt durch diese Berührung etwas in Gang zu setzen. Das immer gleiche weiße Hemd, die immer gleiche schwarze Hose, der Sockel, der den Figuren ein stabiles Fundament bietet sowie die goldene Krone, mal auf dem Kopf, mal abgelegt und manchmal in der Hand getragen unterstreichen den Werkstoff Holz mit all seinen Rissen und Unebenheiten.

Die dann wieder an unsere eigenen Risse und Unebenheiten erinnern. Und so wird der Wecker im Bonn-Lessenicher Pfarrhaus auch weiterhin werktags um 5:00 morgens läuten und wird sich Ralf Knoblauch für ein Stündchen in Klausur begeben, um beim Behauen und Gestalten seiner Königsskulpturen auch die im eigenen Berufsalltag an sozialen Brennpunkten gemachten Erfahrungen zu verarbeiten. Und so sind die Figuren dann mal mehr, mal weniger nach vorne  geneigt und manchen fehlt sogar ein Arm. Einen Zuversicht vermittelnden, offenen Gesichtsausdruck haben sie jedoch alle gemein.

Tim Jacobsen

Corona-Pandemie feiert Geburtstag

Als wir uns im Februar 2020 zum ersten Mal Gedanken zur Viruspandemie machten, diskutierten wir auch die Mutationsgefahr, den Trade off zwischen Virulenz und Pathogenität und konnten doch nicht ahnen, dass wir ein Jahr später live, in Farbe und nicht ausgeschlossen am eigenen Leib Zeuge werden, welche Implikationen der evolutionäre Wettlauf zwischen Erreger, in diesem Fall Sars-CoV-2, und Wirt, das wären dann potentiell wir alle, mit sich bringt.

Auch wenn „britische Variante“ irreführend ist, da niemand weiß, wo diese Kombination von 17 Mutationen im Virenerbgut tatsächlich entstanden ist, so hat die Gefahr damit neben der offiziellen B1.1.7 einen eingängigen Namen bekommen. Es scheint, als ob diese Variante die bisher am weitesten verbreitete Variante verdrängt – was bei Evolutionsbiologen unter Fitnessvorteil geführt wird, bedeutet für den normalen Menschen, dass er oder sie sich leichter anstecken kann.

Und das schlägt sich dann in der Reproduktionszahl nieder, was im Umkehrschluss bedeutet, dass sich diese kaum noch unter die von Seiten der Politik geforderten Werte bringen ließe, der Kreislauf aus hohen Fallzahlen, zufällig auftretenden Mutationen sowie der evolutionären Auslese also weiter befeuert würde. Impfstoffe könnten dann paradoxerweise dazu beitragen, den Selektionsdruck zu erhöhen und dadurch an Wirksamkeit verlieren, wenn die Lage nicht schnell unter Kontrolle gerät.

„Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich einander viel verzeihen müssen“

Jens Spahn

Es ist die Frage, ob angesichts der bspw. auf www.gisaid.org anschaulich gemachten Häufung von Mutationen die bisherigen Bekämpfungsstrategien noch Gültigkeit haben können. Den Königsweg zu kennen, kann niemand behaupten. Vielleicht ist es aber so, dass, statt scheibchenweise den Lockdown zu verlängern, die Wahrheit darin liegen könnte, dass sich das Virus tatsächlich nicht wieder verabschieden wird. Und die eigentliche Frage dann lauten müsste, mit welcher Infektions- und Erkrankungsrate wir zu leben bereit sind – ähnlich wie wir bereit sind, Tote im Straßenverkehr oder an Lungenkrebs Verstorbene in Kauf zu nehmen.

Mit seiner Ende April gemachten Äußerung „wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich einander viel verzeihen müssen“ wird Jens Spahn unbezweifelt in die Pandemieannalen eingehen. Von den Coronatoten sollen in Deutschland im letzten Jahr mehr als die Hälfte Bewohner von Alten- und Pflegeheimen gewesen sein – eine Tragödie, die derzeit ihre Fortsetzung findet. Auch in den Schulen wurden die relativ unbeschwerten Sommermonate nicht dafür benutzt, sich auf die Verschärfung der Lage während der Wintermonate vorzubereiten. Wahrscheinlich hätte auch eine Analyse der Kontaktdaten der ersten Pandemiemonate mehr Hilfreiches ans Tageslicht befördert als die mittlerweile in der Versenkung verschwundene Corona App, ganz zu schweigen davon, dass wir erst gewissermaßen mit einem Jahr Verspätung begonnen haben, auf die Suche nach Mutanten zu gehen.

Bleiben Sie gesund!

Tim Jacobsen

Die weiteren Aussichten: zunehmend stürmische Böen oder Sturmböen

„Realitätschock“ ist das passende Buch für ein Jahr, indem im Rückblick Januar und Februar vielleicht noch mit die beiden besten Dinge waren. Zwar ließe sich argumentieren, dass die dunkle Jahreszeit vielleicht der unpassende Zeitpunkt ist für zehn wenig aufmunternde Lehren, die Sascha Lobo aus einer scheinbar ständig komplexer werdenden Gegenwart zieht. Vielleicht hat der Blogger und Buchautor aber auch Recht, wenn er behauptet, dass wir uns viel zu lange ausgeruht haben auf einer Art von Wunschvorstellung und uns nun wappnen sollten für kommende Brüche und Veränderungen.

Und dafür braucht es Lobo zufolge eine gewisse Alarmiertheit und den Schmerz der Erkenntnis. Mit Klimawandel, Brexit, Rechtspopulismus, Mi- und Integration lässt er keines der gegenwärtig großen Problemfelder aus. Lobo will die Probleme nicht gegeneinander ausspielen, vielmehr möchte er uns zeigen, dass wir in sehr vielen Bereichen unseres Lebens eine Wunschvorstellung für die Realität gehalten haben – eine Erkenntnis, die während der Lektüre langsam einsickert und deren Wahrheitsgehalt sich mit jeder weiteren Covid-19-Katastrophenmeldung weiter bestätigt. 421 Seiten kosten 12,00 €.

Tim Jacobsen

Keine Feier ohne … Julia Klöckner

Der Oktober hatte es in sich: nicht nur ging mit der Landung von Julia Klöckner unser neuer Hauptstadtflughafen in Betrieb, im Gepäck hatte die Landwirtschaftsministerin am 21.10.20 zudem die Verhandlungsposition der EU-Agrarminister zur Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). Zwei Tage später hatte dann auch das EU-Parlament angesichts von knapp 2 000 Änderungsanträgen zwar wahrscheinlich zumindest in so manchem Detail den Überblick verloren, sich dann aber letztendlich doch auch auf eine gemeinsame Linie geeignet.

Den ersten Geburtstag feiern konnte im Oktober „Land schafft Verbindung“. Der Gründungslegende nach hat Julia Klöckner auch in diesem Fall den Startschuss gegeben haben, indem sie in einem Interview zur Nitrat-Richtlinie androhte, Strafzahlungen von der Altersvorsorge der Bauern bezahlen zu wollen, falls die Landwirte nicht mitspielten. Maike Schulz-Broers stieß dies so sauer auf, dass sie die Facebook-Gruppe „Land schafft Verbindung“ (LsV) ins Leben rief, innerhalb weniger als 24 Stunden zählte diese tausende von Mitgliedern.

Zum dritten Mal zum Präsident des Deutschen Bauernverbands (DBV) gewählt wurde ebenfalls im Oktober Joachim Rukwied – wie könnte es anders sein, nach der Videoeinspielung eines Grußwortes von Julia Klöckner. Startete Rukwied seine erste Amtszeit noch mit nordkoreanischen 95 %, waren es vor vier Jahren 89 %, dieses Jahr konnte er gerade noch vier Fünftel der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen.

Im Gegensatz zu 2008, als der Bundesverband Deutscher Milchviehhalter die Gunst der Stunde nutzt und sich neben dem Platzhirsch positionieren wollte, konnte LsV in den letzten zwölf Monaten davon profitieren, dass die Problemlage mit Düngeverordnung, Klimaschutz und Biodiversität sehr viel breiter ist als die eher monothematisch angelegten Milchpreise; und während Facebook deutschlandweit im Jahr 2008 noch bei insgesamt 100 000 Nutzern dümpelte, brachte es LsV innerhalb weniger Monate auf über 30 000 Abonnenten.

Zwar ist dies im Vergleich zu rund 285 000 im DBV organisierten Mitgliedern noch vergleichsweise überschaubar, dass etwas im Gange ist, was sich wie der sprichwörtliche Geist nicht wieder zurück in die Flasche zwingen lässt, zeigt, dass Rukwied in seiner Grundsatzrede zum einen dazu aufforderte, den Altherrenclub DBV zu verjüngen, wobei sich aus Sicht des DBV-Präsidenten davon schon alle unter 40 Jahren angesprochen fühlen dürfen; zum anderen entdeckte Rukwied in Erfurt anscheinend auch das andere Geschlecht und forderte „die Frauen“ auf, sich zu engagieren und im DBV einzubringen.

„Gemeinsam. Europa wieder stark machen“

Das Motto der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ist wichtiger denn je

Als Präsident des Ausschusses der berufsständischen landwirtschaftlichen Organisationen war Rukwied auch an den Verhandlungen zur Gestaltung des Mehrjährigen Finanzrahmens 2021-2027 (MFR) beteiligt, der – und so schließt sich der Kreis – letztendlich Voraussetzung für die Ausgestaltung der GAP ist. Im Juli 2020 einigten sich die Staats- und Regierungschefs der EU auf einen MFR in Höhe von 1 074,3 Mrd. €; ein Wiederaufbaufonds (NGEU) mit zusätzlich 750 Mrd. € soll helfen, die Coronafolgen zu lindern. Für die erste Säule der GAP sind 356,4 Mrd. € vorgesehen, für die zweite Säule 77,8 Mrd. €. Während die Kombination aus MFR und NGEU von manchem EU-Parlamentarier als „historischer Schritt“ begrüßt wurde, erkannten andere in der Gestaltung des MFRs hauptsächlich die Zementierung eines „weiter so“.

Da nun also sowohl der Finanzrahmen als auch die Positionen von Agrarrat (Sie ahnen es bereits: natürlich unter Vorsitz von Julia Klöckner) und Parlament stehen, geht es in die Trilogverhandlungen zwischen Kommission, Parlament und Rat. Allzu riesengroß sind die Abweichungen nicht: das Parlament will 30 % der Direktzahlungen an höhere Umweltstandards koppeln – die sog. Eco-Schemes – und eine Umwidmung von 10 % der landwirtschaftlichen Fläche in biodiversitätsfördernde Landschaftselemente. Direktzahlungen sollen bei 100 000 € gekappt werden, außer es kommen mehr als 12 % der Direktzahlungsmittel kleinen und mittleren Betrieben zugute. 35 % der Zweiten-Säule-Mittel sollen für Klima- und Umweltmaßnahmen ausgegeben werden.

Dem Agrarrat hingegen reicht ein verpflichtendes Mindestbugdet für Eco-Schemes von 20 % in insgesamt abgeschwächter Form. Mehr Wahlfreiheit für die Umsetzung höherer Umwelt- und Klimastandards und eine Beibehaltung der in der aktuellen GAP enthaltenen Regelung zu produktionsgekoppelten Beihilfen atmen eher den Geist eines „alles bleibt so wie es ist“. Es wird erwartet, dass der Trilog im ersten Quartal 2021 abgeschlossen werden und die GAP dann ab 2023 greifen kann.

Der Oktober brachte aber nicht nur Entwicklungen mit sich, deren Auswirkungen sich mal mehr, mal weniger direkt bemerkbar machen werden: Die Bundesregierung beschloss Ende am 28.10.20 die stufenweise Erhöhung des Mindestlohns auf über 10 € bis Juli 2022 und das Länderministerkanzlerinnenkabinett (MPK) versetzte wenige Stunden später Veranstaltungsgewerbe, Hotels, Gast- und Sportstätten in einen verfrühten Winterschlaf, aus dem wir Anfang Dezember hoffentlich möglichst zahlreich wieder erwachen. Der Oktober brachte deutschlandweit auch flächendeckend Regen – genügend, um nach der eingangs erwähnten erfolgreichen Eröffnung des Berliner Flughafens auch mit einer guten Nachricht enden zu können.

Tim Jacobsen

Kein Kurzstreckenlauf, sondern ein Ultramarathon

Es ist ein bisschen, wie wenn alle bereits wüssten, dass bald wieder landesweit Stubendienst angesagt ist: Da harrt die muntere Tennisrunde am Freitagabend dann noch einmal besonders lange aus, schließlich gelten die verschärften Versammlungsregeln ja erst ab Samstag. Ein Schelm, wer denkt, dass es epidemiologische Erkenntnisse waren, die dazu geführt haben, den Niederlanden in ihrer Gesamtheit ausgerechnet ebenfalls genau zum 17.10.20 hin den Status Risikogebiet zu verleihen, mit samt all der damit zusammenhängenden Quarantäneauflagen. So konnten die Urlauber aus den alten Bundesländern bis zum turnusmäßigen Wechsel zumindest noch eine Herbstferienwoche lang die vielleicht überhaupt letzten Tage ohne Alltagsmaske genießen.

Nach all dem, was sich gegenwärtig abzeichnet, wird auch der erste Coronawinter nicht unser letzter sein

Tim Jacobsen

Da wird im spärlich möblierten Norden noch umarmt und geherzt, im Süden der Republik lautet dagegen in den Pendlervororten Münchens die Losung, dieses Jahr nicht mehr ins Büro in die Landeshauptstadt zu kommen – so unterschiedlich die Bedrohungslage, so unterschiedlich auch der Umgang damit. Das Frühwarnsystem leere Toilettenpapierregale spricht allerdings eine deutliche Sprache, genauso wie die Zahlen des Robert Koch Instituts. Wer aber jemals die Quarantäneanordnung des Gesundheitsamtes nach Ablauf ebendieses Quarantänezeitraums bekam, bekommt Zweifel, ob wir tatsächlich noch Herr der Lage sind.

Die Zweifel werden dann nicht kleiner, wenn sich das Ganze innerhalb von sechs Wochen noch einmal wiederholt. Nun mag dies ein Bonner Spezifikum sein, warum aber jemand bspw. Halligallidrecksauparty auf dem Balkan feiern, sich dann mit einem zumindest in Bayern auf Kosten der Gemeinschaft gehenden Coronatest die Absolution erteilen lassen kann und Kinder, die für eine Kursstunde das Klassenzimmer mit einem später positiv getesteten Mitschüler teilten, ohne Pardon vierzehn Tage in Quarantäne, also dem Gesundheitsamtwortlaut nach in ihr Zimmer eingesperrt werden müssen, ist zumindest schwierig nachzuvollziehen.

Es lag mit Sicherheit auch an der der Land- und Forstwirtschaft wenig zuträglich durchweg äußerst freundlichen Wetterlage, dass viele der im Frühjahr eingeführten Einschränkungen kaum jemanden sauer aufstießen. Was aber passiert, wenn Lockdown und miesepetriges Wetter die Menschen nicht mehr aus dem Haus kommen lässt? Demonstrationen in Berlin und anderswo haben gezeigt, wie schnell der gesellschaftliche Diskurs gegenwärtig eskalieren kann. Im März hat sich niemand vorstellen können, dass der November nun bereits unser neunter Monat unter Coronavorzeichen ist. Nach all dem, was sich gegenwärtig abzeichnet, wird auch der erste Coronawinter nicht unser letzter sein.

Tim Jacobsen

AHA

Die Corona-Regeln sind ein Flickenteppich. Und während manche wie Saarlands Ministerpräsident Tobias Hans ein einheitliches Vorgehen wenn schon nicht Europa-, dann zumindest bundesweit fordern, sprechen sich andere wie Partei- und Amtskollege Rainer Haselhoff gegen starre Regeln aus. Wie so oft, scheint auch in diesem Fall der Mittelweg die beste Lösung: Ein einheitliches Vorgehen sowohl innerhalb Deutschlands als auch in der EU, gepaart mit strengeren Maßnahmen, wenn es das Infektionsgeschehen notwendig macht.

Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund, warum das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung nicht EU-weit geregelt wird, genauso wie für Feste und Veranstaltungen standardisierte Vorgaben gelten sollten, die sich für jedermann nachvollziehbar an der Zahl der Neuinfektionen in der jeweiligen Region orientieren. Auch müssen Quarantänemaßnahmen und Testauflagen für Reisende einer klaren Logik folgen, sonst führen sie zu einer frustrierenden Verwirrung bei den Betroffenen. Eines ist klar: Wer beim Regelwerk nicht (mehr) durchblickt, ist eher geneigt, es nicht zu befolgen.

Klar ist auch: Obwohl sich die Vorhersagen der Epidemiologen in so manchem Detail unterscheiden, scheinen zwei Tatsachen unstrittig: das Virus Sars-Cov-2, das Covid-19 verursacht, wird uns auch weiterhin erhalten bleiben. Gleichzeitig wird der Erfolg in der Pandemiebekämpfung maßgeblich auch vom Erfolg der Präventionsmaßnahmen abhängen. Und da scheint einiges in die richtige Richtung in Bewegung gekommen zu sein: die weitgehende Einhaltung der von der Bundesregierung proklamierten AHA-Regeln scheint tatsächlich dazu zu führen, dass allen Lockerungen zum Trotz der Anstieg an Neuinfektionen nicht die prognostizierten Steigerungsraten erreicht.

Eines ist klar: Wer beim Regelwerk nicht (mehr) durchblickt, ist eher geneigt, es nicht zu befolgen

Tim Jacobsen

Im siebten Monat seit Ausbruch der Pandemie in Deutschland ist dies immerhin ein kleiner Lichtschimmer am Horizont, auch wenn höchstwahrscheinlich noch ein sehr langer Weg vor uns liegt. Abkürzen ließe sich dieser nur, wenn je nach Schätzung zwischen 55 und 80 % der Bevölkerung immun gegen das Virus wären, sei es nun aufgrund einer Infektion oder eines Impfstoffs. Aber auch wenn wir von diesen Zahlen noch meilenweit entfernt sind, haben wir es mit „Abstand, Hygiene, Alltagsmasken“ ein zumindest kleines bisschen auch selbst in der Hand, ob die 500 Krankenhausbetten in Messehalle 26 zumindest perspektivisch wieder Platz machen können für eine Grüne Woche mit Publikumsverkehr.

Tim Jacobsen

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