"Now, here, you see, it takes all the running you can do, to keep in the same place. If you want to get somewhere else, you must run at least twice as fast as that!"

Kategorie: Europa (Seite 1 von 9)

Willkommen im Erdbeeruniversum 2.0 – powered by Dyson

Sir James, der Mann, der einst mit beutellosen Zyklonen den eher an größtmöglichen Wattzahlen orientierten Staubsaugern den Krieg erklärte, hat sich zuletzt auch der Erdbeere verschrieben – und zwar, wie könnte es anders sein, nicht irgendwie ein kleines bisschen, sondern auf spektakulärste Weise. Denn wo andere noch von Vertical Farming träumen, dreht sich bei Dyson bereits das „Hybrid Vertical Growing System“.

Der neueste Clou in Dysons riesigem Gewächshauskomplex in Lincolnshire, der 26 Acres und damit ungefähr 10,5 Hektar groß, mehr als 1,2 Mio. Erdbeerpflanzen beherbergt und Großbritannien ganzjährig mit rund 1.250 t Früchten versorgt, ist ein rotierendes Riesengerüst für Erdbeerpflanzen, das eher an ein Jahrmarkts-Riesenrad erinnert als an von Hedgerows eingezäunter Countryside im ländlichen England.

Zwei gigantische Aluminiumstrukturen, jeweils größer als zwei hintereinander geparkte von Urlaubspostkarten aus der Hauptstadt des Vereinigten Königreichs wohlbekannte Doppeldeckerbusse, die langsam und elegant 6 000 Pflanzen pro Einheit durch den Raum rotieren. Der Effekt? 250 % Ertrag, wie das Unternehmen im einschlägigen Fachorgan Youtube stolz verkündet (https://www.youtube.com/watch?v=FA6BCIWPJ30). Einmal mehr ein formidabler Image-Coup für Dyson.

Dabei geht es nicht nur um Ertragsmaximierung, auch die Qualität profitiert: Die rotierenden Beerenriesenräder sorgen dafür, dass jede Pflanze – oben wie unten – stets optimales Licht abbekommt. Natürliches Licht wird durch gezielte LED-Beleuchtung ergänzt, vor allem in den lichtarmen Wintermonaten. Ein ausgeklügeltes Drainage- und Bewässerungssystem sorgt dafür, dass die Pflanzen weder verdursten noch ertrinken.

Es ist die Art von Ingenieursleistung, bei der man fast erwartet, dass irgendwo ums Eck bereits ein Dyson-Raumschiff mit Gewächshausmodul geparkt ist und auf Startfreigabe wartet. Zwölf Monate Planung, Konstruktion und unzählige Schrauben später sind Technologie und Technik hinter dem System genauso faszinierend wie futuristisch:

Es sind nicht nur die Erdbeeren in langen Reihen in den drehbaren Strukturen, es sind die Roboter, die Sensoren, das UV-Licht und all die anderen kleineren und größeren Stellschrauben, die bei Dyson ausgereizt scheinen und dem Anschein nach zumindest den Stand der Dinge markieren. Bei Dyson ist sogar der biologische Pflanzenschutz automatisiert.

Die Energie für dieses botanische Meisterwerk stammt von einem benachbarten Biogasreaktor – einem der größten des Landes. Dieser verarbeitet Ernterückstände aus den umliegenden Feldern, erzeugt Strom und Wärme für bis zu 10 000 Haushalte – und liefert gleichzeitig CO₂ für das Glashaus. Sogar die Gärrückstände werden wieder als Dünger auf die Felder gebracht.

In Summe entsteht ein in sich geschlossener Kreislauf, bei dem Nachhaltigkeit gewissermaßen nicht nur grün aussieht, sondern auch nach Erdbeere schmeckt. Was Dyson hier abzieht, könnte mehr als der Gag eines gelangweilten Tech-Milliardärs mit zu viel Land und zu vielen Ideen sein. Es ist ein technologischer Feldzug gegen Ineffizienz in der Lebensmittelproduktion – mit Präzision, wie man, wie bereits erwähnt, sie sonst hauptsächlich aus der Raumfahrt kennt.

Und auch, wenn der ein oder andere Spötter Dyson vorwirft, eine große Show um etwas so Einfaches wie eine Erdbeere zu machen – der Erfolg gibt ihm Recht. Ein Vierteltonne Erdbeeren pro 100 Quadratmeter Fläche? Das ist mehr als beeindruckend. Und die Technik ist skalierbar – für Tomaten, Paprika oder gar Cannabis (sollte Dyson sich eines Tages für Medizinalprodukte interessieren).

Der Ideengeber und Eigentümer scheint dabei rastlos wie eh und je. Der mittlerweile weit über 75 Jahre alte Brite hatte schon in jungen Jahren ein Faible fürs Ungewöhnliche: Die Idee des beutellosen Staubsaugers kam ihm, nachdem er sich über verstopfte Staubsäcke geärgert hatte. Der Rest ist Geschichte: Staubsauger, Händetrockner, Ventilatoren – alles mit einem gewissen James-Bond-Flair, minus die Explosionen. Dass er nun Landwirtschaft neu erfindet, überrascht eigentlich nur die, die seine Karriere nicht verfolgt haben.

Denn Dyson ist kein Unternehmer, der Trends jagt – er schafft sie. Und sein Erdbeeranbausystem ist nicht einfach nur „High-Tech-Landwirtschaft“, sondern eine Vision, wie moderne Nahrungsmittelproduktion aussehen könnte: automatisiert, ressourcenschonend, lokal. In einer Zeit, in der britische Supermärkte im Winter zwischen spanischen und marokkanischen Erdbeeren wählen müssen, bringt Dyson die Heimatbeere zurück ins Regal – frisch, süß, CO₂-arm.

Natürlich gibt es auch Kritik: Der Aufwand ist enorm, die Maschinen sind teuer, die Systeme komplex. Kritiker fragen: „Lohnt sich das wirklich?“ Auf Plattformen wie Reddit wird heiß diskutiert – zwischen Faszination und Skepsis. Manche feiern Dyson als Pionier, andere spotten über „Tech-Overkill“. Doch Dyson Farming lässt sich nicht beirren. Das nächste Ausbauprojekt – zusätzliche 4,7 ha Gewächshausfläche – ist bereits geplant. Die Ausweitung auf weitere Fruchtarten ist nur eine Frage der Zeit.

Und während in mancher Schrebergartenkolonie noch über die perfekte Erde für Freilanderdbeeren debattiert wird, drehen sich in Lincolnshire schon die nächsten Beerenräder gen Sonnenlicht. Die Frage ist nicht mehr, ob Vertical Farming eine Zukunft hat – sondern nur noch, wie laut es dabei summt, klickt und rotiert.

Vielleicht bringt Dyson demnächst auch einen Heim-Erdbeerautomaten auf den Markt: Selbstreinigend, klimatisiert, mit App-Anbindung. „Hey Dyson, ernte meine Erdbeeren.“ Bis dahin bleibt festzuhalten: Wenn ein Staubsaugerhersteller es schafft, Erdbeeren effizienter zu produzieren als viele, die sich tagein, tagaus darüber den Kopf zerbrechen – dann haben wir vielleicht zu lange in nur eine Richtung gedacht.

Tim Jacobsen

Und täglich grüßt das Murmeltier

Wahrscheinlich wird es so gewesen sein, dass die Haushaltshilfen meiner Großeltern am Wochenende mit ihren eigenen Familien zu Mittag aßen und am Sonntag schon allein aus mangelnder Kochpraxis in eine Wirtschaft gegangen werden musste. Da dort dann aber auch tatsächlich stets ein Großteil aller Nichten, Neffen, Tanten und Onkels zusammenkamen, glichen diese Mittagessen immer auch ein bisschen einem Gärtnerstammtisch. In meiner Erinnerung dominierten Diskussionen über das Wetter die Gespräche.

Der Strelitzienanbau sowie die Schnittrosen unter Glas hatten die Ölpreiskrisen überlebt, personelle Engpässe entstanden dadurch, dass die türkischstämmigen Mitarbeiter nach Jahrzehnten fernab der Heimat ihren Ruhestand lieber wieder zuhause verbringen wollten. Lehrlinge kamen und gingen, fleißige Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien blieben. Die Preise für Gehölze wurden im Katalog nachgeschlagen und den Lohn gab es freitags in Papiertüten.

Die großen Alleebäume in den Revieren hatten ihre Daseinsberechtigung, da ja doch ab und zu ein verunglückter Baum an der Bundesstraße durch einem typengleichen ersetzt werden wollte. Profit stand nicht unbedingt an erster Stelle: Einer meiner Onkel zog mit seiner Fuchsiensammlung den Neid botanischer Gärten auf sich, ein anderer tauchte im Nebenberuf ab in die Miniaturwelt der Bonsais, ein dritter ging regelmäßig in Südamerika auf Jagd nach unbekannten Masdevalliae.

Ungemütlich wurde es mit der Einführung des Faxgerätes. Statt Verkaufsgesprächen am Telefon mit der Wählscheibe gab es fortan schnöde Preisabfragen. Computertabellen ersetzten Notizbücher und immer seltener wurde mittags die Hofeinfahrt mit dem großen Tor verschlossen – Gartencenter und Baumärkte machten ja schließlich auch keine Mittagsstunde.

Seit einigen Jahren wachsen statt Raritäten, Exoten und dem Standardbaumschulsortiment wieder wie vor gut siebzig Jahren Kartoffeln und eher robustere Gemüsearten auf meinem früheren Kinderspielplatz. Die nahgelegene Großstadt bietet genügend Menschen ein Zuhause, die gerne einen Aufpreis dafür zu zahlen bereit sind, ihren Kindern wiederum zeigen zu können, dass Lebensmittel eben nicht im Supermarkt wachsen.

Warum erzähle ich Ihnen das alles? Wenn Sie diese Zeilen lesen, dann ist es fast auf den Tag genau zwanzig Jahre her, dass ich mich zum ersten Mal an dieser prominenten Stelle zu Wort melden durfte. Damals hatte die Diskussion um die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Gartenbaus mit der Auseinandersetzung über die Sozialabgabensätze polnischer Saisonarbeitskräfte und der Energiekostendiskusssion gerade einen Höhepunkt erreicht.

Seinerzeit war Michael Porters Diamantenmodell zur Beurteilung der Konkurrenzfähigkeit von Staaten in Bezug auf einzelne Branchen gerade der letzte Schrei und zumindest unter Ökonomen setzte sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass niedrige Gestehungskosten nur ein Produktionsfaktor von vielen sind.

Vieles von dem, was unser Land lebenswert macht, trägt auf seine Weise dazu bei, dass wir es uns leisten können, auch einmal über das Ziel hinaus zu schießen, da wir ja in gewisser Weise auf anderen Gebieten schon in Vorleistung gegangen sind. Menschheitsgeschichtlich sind wir gepolt auf Problemlösung: kam der Säbelzahntiger, mussten wir uns in Windeseile entscheiden zwischen Kämpfen oder Laufen.

Heutzutage heißt der Säbelzahntiger Cutoff-Kriterium, Mindestlohn oder Schilf-Glasflügelzikade. Wörter bei denen einem unweigerlich der Kamm schwillt. Vergessen dürfen wir dabei aber nicht, dass, hätten die Apologeten auch nur bei einem der Katastrophenszenarien der letzten Jahrzehnte Recht behalten, es schon lange keine Landwirte und Gärtner mehr bei uns geben würde.

Die Gärtnereien und Betriebe in und mit denen ich aufgewachsen bin, gibt es auch heute alle noch – wenn auch mitunter in einem anderen Erscheinungsbild und mit einem anderen Geschäftsmodell. Auch wenn dies der Drohkulisse Mindestlohnerhöhung keinen Abbruch tut, war oft die Betriebsnachfolge der größte Stolperstein.

Tim Jacobsen

Wie alles mit allem zusammenhängt: Revolutioniert Dyson auch den Erdbeeranbau oder will er nur Steuern sparen?

Im November 2024 kündigte die neu gewählte Labour Regierung an, die Befreiung von der Erbschaftssteuer für landwirtschaftliche Betriebe ab einer Million Pfund aufheben zu wollen, , was zu Massenprotesten im gesamten Königreich führte. 32 Jahre zuvor war die Übertragung von landwirtschaftlichen Betrieben zwischen den Generationen unter dem konservativen John Major- zum Schutz der Ernährungssicherheit von der Steuer befreit worden. Die neue Regelung soll im April 2026 in Kraft treten und sieht eine Erbschaftssteuer von 20 % auf Beträge über diesem Schwellenwert vor.

Die Landwirte führen ins Feld, dass sie zwar reich an Vermögen, aber arm an Bargeld seien, was zu einer Situation führe, in der Erben Ackerland verkaufen müssten, um ihren Steuerpflichten nachkommen zu können. Befürworter der Änderung argumentieren damit, dass wohlhabende Privatpersonen Ackerlandkaufen, um der Erbschaftssteuer zu entgehen. Regierungsangaben zufolge würde die Maßnahme etwa 27 % der landwirtschaftlichen Betriebe im Vereinigten Königreich (ungefähr 56700 landwirtschaftliche Betriebe) betreffen.

Wütend machten die Steuerpläne der Labour-Regierung auch Staubsauger-Milliardär James Dyson, der sich als einer der schärfsten Kritiker der neuen Erbschaftsteuer auf Landwirtschafts- und andere Familienbetriebe hervorgetan hat. Als „bösartig“ bezeichnete Dyson die Budgetpläne von Finanzministerin Rachel Reeves in einem Gastkommentar in der „Times“. „Kein Unternehmen kann Reeves’ zwanzigprozentigen Steuer-Zugriff über­leben“, schimpfte er. Nicht weniger als den „Tod des Unternehmertums“ siehe er kommen.

Dass der 77 Jahre alte Unternehmer und Erfinder sich so sehr für die Steuerbelastung der Bauern interessiert, könnte auch daran liegen, dass er selbst eines der größten Landwirtschaftsunternehmen des Vereinigten Königreichs zusammengekauft hat. Besonders in Lincolnshire im Nordosten Englands, wo es sehr gute Böden gibt, sowie in Somerset im Südwesten hat er im vergangenen Jahrzehnt große Flächen erworben.

Insgesamt fast 15000 ha Land gehören der Dyson Farming Ltd. Damit ist der Mann, der mit der Erfindung von Hightech-Staubsaugern, Hände- und Haartrocknern zum fünfreichsten Briten aufstieg, inzwischen auch unter den fünf größten Produzenten für Getreide, Bohnen und Kartoffeln des Landes angekommen. Neben den klassischen Ackerbaukulturen baut Dyson auch Erdbeeren im großen Stil an. Auf seiner Farm in Lincolnshire wachsen mehr als eine Million Erdbeerpflanzen in Gewächshäusern, die mit LED-Lichtern beleuchtet werden.

Die Gewächshäuser mit insgesamt mehr als 100000 m2 Fläche sind hoch technisiert. So erspähen Roboter des Start-ups Dogtooth aus Cambridgeshire mit optischen Sensoren die reifen, roten Früchte. Ein Greifarm pflückt und legt sie in Kisten. Alles ist so weit automatisiert wie nur möglich. Dank des Einsatzes von UV-Licht kommen so gut wie keine Fungizide zum Einsatz. Rund 1250 t Erdbeeren sind der Lohn der Mühen. Der Bioabfall wird in großen Faultürmen vergoren, und das daraus entstehende Gas und die Wärme wird für die Beheizung der Treibhäuser genutzt.

Mehr als 140 Mio. Pfund hat Dyson nach eigenen Angaben in den vergangenen Jahren in die Modernisierung seiner gleichnamigen Faming Limited investiert. Und er plant Großes, auch wenn der ausgewiesene Gewinn von fünf Millionen Pfund angesichts der großen Investitionen eher mäßig scheint Kritiker werfen ihm (und anderen Promi-Landwirten wie Jeremy Calrkson) vor, sie wollten mit ihren Farmen lediglich Steuern sparen. Dyson weist dies zurück.

Bei dem angenommenen Wert seiner Farmaktivitäten in Höhe von gut 600 Millionen Pfund und möglichen rund 120 Millionen Pfund Erbschaftsteuer fällig, haben seinen Beteuerungen, die Investitionen in die Landwirtschaft dienten garantiert nicht dem Zweck, Erbschaftsteuer zu vermeiden, zumindest einen Beigeschmack. Zumal der dreifache Vater und sechsfache Großvater vor fünf Jahren auch bereits seine nach Singapur verlegt hatte – auch dies selbstredend nicht aus steuerlichen Gründen.

Die Motivation für sein Engagement in der Landwirtschaft sei eine andere, beteuert Dyson. Er wolle helfen, moderne Technologien und nachhaltige Anbaumethoden zu etablieren sowie dazu beitragen die Lebensmittelqualität und Versorgungssicherheit insgesamt zu verbessern. Der Absolvent des Londoner Royal College of Art hatte sich ab den Siebzigern in technische Erfindungen und Konstruktionen vergraben und ließ sich dabei von Fehl- und Rückschlägen nicht entmutigen.

Seine ersten Ideen wie das Transportboot Sea Truck floppten, ebenso die eigenwillige Konstruktion einer Schubkarre, die nicht auf einem Rad, sondern auf einer Kugel rollen sollte. Auch der Wasser-Quad wurde kein Erfolg. Erst mit dem effizienten Hightech-Staubsauger, der ohne Beutel (und später ohne Stromkabel) auskommt, gelang Dyson der Durchbruch. Angeblich hat er in fünf Jahren 5127 Prototypen gebaut, bis ihn das Ergebnis endlich befriedigte. In dieser Zeit war die Familie knapp bei Kasse, sie lebten vom Gehalt von Dysons Frau, einer Kunstlehrerin.

Auch die Markteinführung war schwierig. Da die britische Industrie abwinkte, ging Dyson nach Japan. Schließlich wurde der Staubsauger ein globaler Markterfolg. „Der Dyson“ ist inzwischen ein Haushaltsname, mehr als zehn Millionen Briten nutzen ihn. In den meisten Ländern hat die Firma einen Marktanteil von mehr als zwanzig Prozent, in Deutschland sind Dyson-Staubsauger beliebter als die heimischen Marken Miele und Bosch. Immer neue Modelle designen Dysons Ingenieure im Forschungs- und Entwicklungszentrum in Malmesbury, Südengland.

Verglichen mit den Hightech-Produkten in Dysons Sortiment, die in den jeweiligen Produktkategorien oft Marktbeherrschend wurden, scheint der Konkurrenzkampf im Erdbeergeschäft vergleichsweise hart. Dysons Erdbeeren, die er über die Supermarktketten Sainsbury’s und Marks & Spencer verkauft werden, liegen preislich am obersten Ende. Künftig soll mit mehr Union-Jack die britische Herkunft noch stärker hervorgehoben werden. Einblick in das Hightechgewächshaus gewährt https://tinyurl.com/4prt9ty3.

Tim Jacobsen

Aufstieg und Fall eines Tomatenimperiums

Ohne Tomaten kein English Breakfast: „The Guernsey Tom“ mit ihrer markanten Kugelform hatte zu ihren besten Zeiten im Vereinigten Königreich einen Marktanteil von rund 60 %. Mehr als zwei Jahrzehnte lang bestimmten die roten Früchte das Leben auf der britischen Kanalinsel unweit der französischen Küste. Noch 1967 hatte jeder dritte Inselbewohnet beruflich irgendwas mit Gartenbau zu tun, ab Erntebeginn dominierten Tomatentransporter das Verkehrsgeschehen auf der Insel. Dreißig Jahre später war der Anteil der Guernsey-Tomaten auf unter 1 % gefallen, im gleichen Zeitraum ging die Anbaufläche von knapp 300 ha auf gut 5 ha zurück.

Man muss ein bisschen in der Zeit zurückgehen, um verstehen zu können, warum sich gerade dort eine florierende Tomatenindustrie entwickeln konnte. Den feinen Herrschaften im fernen London war es wohl irgendwann zu bunt geworden und sie zogen die Zügel an, unterbanden Schmuggel und Piraterie und stürzten die Inselökonomie im 19. Jahrhundert in eine tiefe Depression. Die Inselbewohner besannen sich auf ihre Standortvorteile wie den günstigen klimatischen Voraussetzungen und den für das Vereinigte Königreich zahlreichen Sonnenstunden und begannen, Tafeltrauben anzubauen.

Das erste kommerziell genutzte Gewächshaus wurde 1840 errichtet, ab 1861 verband ein regelmäßig verkehrendes Dampfschiff die kleine mit der großen Insel weiter nördlich. Während 1915 noch gut 2500 t Trauben geerntet wurden, waren es 1958 nur mehr 300 t, gleichzeitig hatte die samenvermehrte `Potentate´ Stück für Stück die Rebstöcke abgelöst. Kaum ein Haus auf Guernsey, an das kein Gewächshaus angebaut wurde. Die Inselbewohner profitierten in dieser Zeit auch von dem in heutigen Maßstäben äußerst kurzen Shelflife ihrer Produkte und der noch benötigten vielen Handarbeit auf dem Weg von der Ernte zu den Verbrauchern.

Die Bootsbauer sattelten auf Gewächshausbau um, es entstand eine Art Tomaten-Monokultur, Böden und Substrat wurden Dampf-sterilisiert und Anthrazitkohle aus Wales verfeuert. Ihren endgültigen Höhenflug erreichten die Guernseytomaten nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Gewächhausanlagen hatten die deutsche Besetzung überstanden, die phänomenalen Profite im Tomatenanbau sorgten für Goldgräberstimmung, schnell standen die Tomaten für die Hälfte des Bruttoinseleinkommens. Trotz der geographischen Nähe zu Frankreich blieb das Vereinigte Königreich der einzige Handelspartner.

Schnell stellte sich heraus, dass ein kooperativer Ansatz gerade in logistischer Hinsicht der nächste Schritt sein müsste. Folgerichtig übernahm 1952 das besonders in der Anfangszeit nicht unumstrittene Guernsey Tomato Marketing Board (GTMB) die weiteren Schritte ab der Ernte, so genannte Inspektoren sorgten für die Qualitätsbeurteilung und legten somit auch die Höhe der Familieneinkommen fest. Das GTMB nahm in Zeiten von Überproduktion Ware aus dem Markt und verklappte diese zu Dumpingpreisen auf der Insel, um den Preis im Vereinigten Königreich hochzuhalten.

Die Perfektionierung des Anbaus führte dazu, dass bald jeder Einwohner Guernseys rein rechnerisch mehr als 1000 t Tomaten im Jahr produzierte. In den 1970er Jahren begann sich dann aber der Himmel über der Tomateninsel zu verdüstern. Schuld daran waren je nach Interessenlage die Supermärkte, das Advisory Board, das GTMB, die Niederländer, die größeren Produktionsbetriebe oder auch alles zusammen. Das Ende der Tomatenerfolgsgeschichte unterscheidet sich dabei nicht so groß vom Aus regional bedeutsamer Industriezweige anderenorts.

Beigetragen zum Niedergang hat mit Sicherheit die Umstellung von Anthrazitkohle auf Öl. Den Preisanstieg im Jahr 1973 hatte niemand vorhersehen können, Öl wurde nicht nur um ein Vielfaches teuer, es wurde auch rationiert. Besonders hart traf dies die Gärtner, die zuvor auf den Rat des Advisory Board vertraut und auf Modernisierung gesetzt hatten. Auch die Zinsen stiegen deutlich und spätestens, als dann Ware aus Spanien und von den kanarischen Inseln flankiert von niederländischen Tomaten das Frühsegment eroberte, war „The Guernsey Tom“ nicht mehr konkurrenzfähig und zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Arbeitslosigkeit ein Thema. Den Schlussstrich unter die einstige Erfolgsgeschichte zog das Jahr 1999, als Guernsey offiziell Tomatennettoimporteur wurde.

Es ist ein Einfaches diese Entwicklung als ein weiteres Beispiel für die Zerstörungskraft der Globalisierung anzusehen. Unbezweifelt führt das Öffnen von Grenzen zu stärkerem Wettbewerb, aber während die Tomaten auf der Strecke blieben, machte die Insel als Off-shore-Standort für finanzielle Dienstleistungen aller Art Karriere. Mit den Tomaten auf der Strecke blieben allerdings auch Sozialstrukturen, die das Leben auf der Insel über viele Jahrzehnte geprägt hatten.

Die Kannibalisierung der Guernsey-Tomaten durch nach niederländischem Vorbild vor allem im landschaftlich vergleichsweise großzügigen Südengland entstandene Gewächshausanlagen mag eine Rolle für den Niedergang gespielt haben. Am schwersten gewogen hat mit Sicherheit aber eine Entwicklung, die dem Einzelhandel eine stets bedeutendere Rolle zuwies: hatte das GTNB noch die Informationshoheit und volle Kontrolle über Liefermengen, -wege und -zeitpunkte, begannen die Supermärkte – der Strichcode feierte gerade runden Geburtstag – spätestens mit der Wahl Margaret Thatchers im Jahr 1979 zunehmend alle Trümpfe in der Hand zu haben.

Und wenn da dann, wie heute fast schon üblich, vier Handvoll verschiedene Tomatensorten und -arten angeboten werden müssen, kann das mit einer „one size fits all Guernsey standard round“ nicht klappen. Auch Henry Ford produzierte zwar fast zwei Jahrzehnte lang ausschließlich das Modell T in schwarz, musste dann aber doch einsehen, dass die Geschmäcker nun einmal verschieden sind.

Tim Jacobsen

Clarkson’s Farm revisited

In den vorhergegangenen 16 Episoden war bereits mehr als deutlich geworden, dass Jeremy Clarkson nicht unbedingt als Landwirt auf die Welt gekommen ist. Dass die Diddly Squat Farm dennoch lange genug am Leben blieb, um auch die seit Anfang Mai bei Prime Video verfügbare dritte Staffel fertig drehen zu können, liegt vor allem an der tatkräftigen Unterstützung Clarksons durch seine Freundin Lisa Hogan, den Praktiker Kaleb Cooper, den Theoretiker Charlie Ireland und den Mann für alles Gerald Cooper.

Wem die Reise in die Cotswolds zu weit ist, kann den Diddly Squat Farm Shop auch im Internet besuchen

Clarkson wollte angesichts bescheidener bzw. nicht vorhandener Erlöse hinwerfen, Cooper hatte aber bereits mit der Bestellung begonnen und Ireland Dünger geordert, bevor dieser nahezu unerschwinglich wurde. Und so machten sich die fünf, die unterschiedlicher nicht sein könnten, auf in ein neues Jahr, das im Zusammenschnitt herausfordernder nicht hätte sein können. So viel sei an dieser Stelle in Anlehnung an das Märchen-übliche „und wenn sie nicht gestorben sind“ verraten, Staffel vier wird nächstes Jahr erscheinen.

Tim Jacobsen

Bente zum Geburtstag

Eigentlich müsste der folgende Text mit einem Warnhinweis beginnen, immerhin geht es darin um Schurkenstaaten, Ausbürgerungen, Völkermord, Terrorismus, Spionage, Tarifkämpfe mit zweistelligen Abschlüssen, Klimawandel, drohende Deindustrialisierung, staatliche Bevormundung und nicht zuletzt auch um Diktatoren und Invasionen, wären wir nicht alle dieser Themen müde, weil sie uns sowieso jeden Tag mit dicken Lettern aus den Zeitungen anschreien.

Wer nun denkt, dass früher halt einfach sowieso alles besser war, wird nun eines Besseren belehrt, denn es geht im folgenden Text nicht um das Jahr 2024, sondern um genau ein halbes Jahrhundert zuvor:

Fünf Euro ins Phrasenschwein: Alles muss sich ändern, damit es so bleibt, wie es ist

Das Jahr 1974 sollte eigentlich mit Fahrverboten beginnen, stattdessen stellt Horst Brandstätter Anfang Februar auf der Nürnberger Spielwarenmesse erstmals in Playmobil verfeinertes Erdöl vor. Im selben Monat wird Alexander Scholschenizyn aus der Sowjetunion ausgewiesen und findet bei unserem Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll Unterschlupf.

Anfang März wird die Vereinbarung über die Einrichtung einer Ständigen Vertretung, die heute nur noch als Kölschkneipe weiterlebt, zwischen den beiden deutschen Staaten unterzeichnet, kurz davor stimmt der Bundestag dem Atomwaffensperrvertrag zu.

Die Roten Khmer legen derweil, von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbemerkt, das Fundament für die fünfjährige Schreckensherrschaft Pol Pots, der rund ein Drittel der Bevölkerung Kambodschas zum Opfer fällt.

Mitte März werden in Deutschland die als Antwort auf den Ölpreisschock eingeführten Tempolimits wieder abgeschafft, seitdem gilt auf Landstraßen wieder Tempo 100 und darf auf Autobahnen vielerorts nach Belieben gerast werden. Zum ersten Mal gibt es Energieferien, die heute eher unter dem Namen Semesterferien bekannt sind.

Ende März wird das Alter für Volljährigkeit von 21 auf 18 Jahre gesenkt, einen Monat später Günter Guillaume als Spion des anderen Deutschlands entlarvt.

Der israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir wird zum Verhängnis, den Jom-Kippur-Krieg ein halbes Jahr zuvor nicht kommen gesehen zu haben und tritt zurück. Die Nelkenrevolution beschert Portugal Demokratie, Augusto Pinochet festigt seine Diktatur in Chile.

Das Schreckgespenst Punkteregister wird am 1. Mai eingeführt, fünf Tage später kommt Bente Jacobsen zwar auch in Flensburg, aber ohne Punkte zur Welt. Am selben Tag, dem 6. Mai 1974 und nur wenige Stunden später tritt der in beiden Deutschlands gleichermaßen beliebte Entspannungspolitiker Willy Brandt zurück.

Am 8. Mai besiegt der FC Magdeburg in Rotterdam AC Mailand und gewinnt den Europapokal der Pokalsieger.

Das NSDAP Mitglied Walter Scheel wird am 15. Mai in der Bonner Beethovenhalle Bundespräsident, am Tag darauf wird Helmut Schmidt wenige Meter rheinaufwärts im Bundestag Kanzler.

Im Wonnemonat Mai betritt auch der 3,71 m lange und 70 PS starke Nachfolger des Käfers die Weltbühne, für 8000 Mark gibt es 800 kg Auto. Der Jubiläumsgolf Edition 50 aus dem Jahr 2024 ist gut einen halben Meter länger, hat mehr als doppelt so viel PS und kommt auf den sechsfachen Kilopreis. Die beiden Modelle bilden den Anfang und auch das absehbare Ende einer 37 Millionen Artgenossen umfassenden Ahnenreihe.

Im Juni 1974 streikt der öffentliche Dienst für drei Tage, rückwirkend zum Jahreswechsel werden die Gehälter um 11 % erhöht.

Die gesetzlichen Grundlagen für das Bundesumweltamt werden geschaffen.

Am 7. Juli werden wir unter tatkräftiger Mithilfe des unlängst verstorbenen Bernd Hölzenbein Fußballweltmeister. Schwalbe ist übrigens eines der wenigen Worte, die das Niederländische eins zu eins aus dem Deutschen übernommen hat.

Hätte das eine Deutschland zuvor nicht gegen das andere Deutschland verloren, hätten statt Schweden, Jugoslawien und Polen die Niederlande, Brasilien und Argentinien gedroht und uns wäre 32 Jahre später der Sommermärchenhit der Sportfreunde Stiller erspart geblieben.

Mitte Juli 1974 geht in Biblis das seinerzeit weltweit größte Atomkraftwerk ans Netz, sieben Tage nach der Katastrophe von Fukushima wird der Reaktor in Block A Mitte März 2011 zum letzten Mal heruntergefahren.

Ende Juli besetzt die Türkei halb Zypern, fast gleichzeitig schütteln die Griechen ihre Militärdiktatur ab.

Präsident Nixon reist ebenfalls im Juli 1974 in die Sowjetunion und wird wenig später in Amerika von der Watergate-Affäre eingeholt. Sein Nachfolger Gerald Ford unterzeichnet im November in Wladiwostok ein Abkommen zur Rüstungskontrolle, zuvor nehmen die USA erstmals diplomatische Beziehungen mit der DDR auf.

Im anderen Deutschland schlägt Frankfurt den HSV, wird Pokalsieger und der FC Bayern zum dritten Mal in Folge Deutscher Meister, bevor die Fohlen erneut die nächsten drei Jahre übernehmen.

Ende August schenkt Ferry Porsche seiner Schwester den überhaupt allerersten 911er mit Heckflosse zum Geburtstag, am anderen Ende der Speedskala steht vielleicht ähnlich stilprägend die Kastenform der in Form des Volvo 240 gegossene Schwedenstahl.

Der wiederum kommt Ende Oktober auf den Markt, als Muhammad Ali gerade mit George Foreman um den Weltmeistertitel aller Klassen kämpft und den bis dahin unbesiegten sieben Jahre jüngeren Foreman in der achten Runde K.O. schlägt.

Zuvor hatte die Volkskammer zum 25-jährigen Bestehen der DDR noch den Begriff der deutschen Nation und das Ziel Einheit aus der Verfassung gestrichen und sich damit endgültig Richtung Breschnew verabschiedet.

Holger Meins stirbt am 9. November in der Justizvollzugsanstalt Wittlich mit einem BMI von 11,6. Am 13. November hält Jassir Arafat eine Rede vor der UNO-Vollversammlung, neun Tage später wird dort die Resolution 3236 angenommen, die das Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung und Eigenstaatlichkeit prinzipiell anerkennt.

So neigt sich Jahr eins nach der durch den Jom-Kippur-Krieg ausgelösten Ölkrise seinem Ende zu, der Dezember 1974 macht dann mit einer zu dieser Zeit zumindest noch außergewöhnlichen Temperaturanomalie den Skifahrern das Leben schwer.

Und so können wir vieles, was uns in diesem Jahr als nicht ganz so gelungen begegnet, bereits in der Rückschau auf 1974 wiedererkennen. Ähnlich wie die Golfstaaten versuchte auch Mobuto mit dem Rumble in the Jungle internationale Anerkennung zu finden.

Die Palästina-Frage ist auch fünfzig Jahre und zahllose Vollversammlungen später ungeklärt und mal gewinnt die eine Fußballmannschaft, mal die andere.

Hohe Energiepreise führen bei Großverbrauchern, in Gesellschaft und Politik zu einer Reaktion, die dann die Menetekel als Übertreibung oder als notwendiger Anstoß zum Wandel entlarven.

Klimawandel gibt es schon immer, nur jetzt halt nicht länger in der Form „1934 und dann erst 1974 wieder einmal ein zu warmer Winter“.

Das vielleicht Schönste, was sich aus 1974 lernen lässt, ist die Geschichte mit dem Golf und dem Käfer. Das bereits erwähnte SS-Mitglied Ferry Porsche war auch an der der Entwicklung des KdF-Wagens maßgeblich beteiligt.

Von 1938 trat der Käfer dann seinen Siegeszug als das bis 2002 und eben jenem Golf weltmeist meist verkaufte Automobil an.

Vierzig Jahre nach der Entwicklung war aber auch der beste Käfer in die Jahre gekommen, die Rendite des Wolfsburger Autobauer stark unter Druck und die weiteren Aussichten alles andere rosig.

Und da entschied sich Volkswagen, mit dem Entwicklungsauftrag 337 gegen Evolution und wählte die Revolution: nicht rund, sondern kantig und eckig, nicht verspielt, sondern streng. Statt luftgekühlter Boxer hinten wassergekühlter Vierzylinder vorne.

Der Mut der Verzweiflung vielleicht, aber ausgezahlt hat er sich und sollte uns allen Mahnung sein.

Tim Jacobsen

Du hast keine Chance, aber nutze sie

Es ist ein bisschen schwierig geworden, die Frage, wie es einem so geht, in voller Überzeugung positiv zu beantworten. Der Grund für die schlechte Laune sind dabei dann nicht unbedingt die kleinen oder großen Zipperlein, von denen die einen von uns mehr, die anderen weniger geplagt sind. Auch die ersteinmal vielleicht etwas gar hohen Spargelsaisoneinstiegspreise haben daran keine Schuld, genau so wenig wie der Temperaturdipp, der den Beginn der Beet- und Balkonsaison auf nach Ostern vertagt.

Wenn bei unserem ehemals fünftwichtigsten Exportpartner Gefangenen Körperteile abgeschnitten werden und das Ganze dann staatlich orchestriert in den sozialen Medien stattfindet, dann ist unseren ehemaligen russischen Freunden einmal mehr gelungen, was kaum möglich schien, nämlich für Fassungslosigkeit zu sorgen.

Putins in Zweckgemeinschaft verbundener Diktatorkollege Kim macht derweil mit einem simulierten Angriff auf sein Nachbarland auf sich aufmerksam und eine „militärische Sonderoperation“ Chinas in Taiwan scheint nur mehr eine Frage der Zeit zu sein. Die Luftbrücke in den Gazastreifen verhilft einmal mehr den Stärkeren zu ihrem „Recht“ und unsere Fregatte „Hessen“ wird im Roten Meer umdrehen müssen, sobald die Munitionsschränke leer sind.

„Wer sich nicht in Gefahr begibt, der kommt darin um“

Herbert Achternbusch

Wie auch im Fall unserer militärischen Unterstützung der Ukraine stellt sich hier berechtigterweise die Frage, wem eigentlich damit gedient ist, wenn unsere Verteidigungsfähigkeit bis ins kleinste Detail in aller Öffentlichkeit diskutiert wird? So reicht dann das kleine Einmaleins, um den Tiger zahnlos werden zu lassen: wenn bis zu 20 Taurus Marschflugkörper benötigt werden, um die Kertschbrücke nennenswert zu beschädigen, dann bleiben von den kolportierten einsatzbereiten 150 bei uns nicht mehr viele über.

Bei den Luftverteidigungssystemen wie dem mit dem klangvollen Namen „Patriot“ sieht es noch ernüchternder aus und wenn dann der französische Staatspräsident – zugegebenermaßen etwas unkoordiniert – Bodentruppen für die Ukraine ins Rennen wirft, dann wirkt das zwar deutlich wehrhafter als die Angst unseres Bundeskanzlers vor der russischen Bombe, zeigt aber auch, dass wir in Zeiten, in denen europäische Einigkeit wichtiger wäre als vieles andere, wir eher dabei sind, uns Bedeutungs-mäßig selbst zu atomisieren.

Umfragewerte der AfD unter dem magischen Verfassungs-relevanten-Drittel werden bereits als Erfolg gefeiert und dann haben wir Donald Trump und den Klimawandel an dieser Stelle auch nur einmal kurz der Vollständigkeit halber erwähnt. Dabei ist Angst eigentlich etwas ganz praktisches, mit erhöhtem Puls und Blutdruck reagieren wir schneller und sind leistungsfähiger als im Normalzustand. Anders verhält es sich aber mit der Angst vor eher abstrakten Dingen wie dem Verlust von Sicherheit oder der diffusen Gefahr kriegerischer Auseinandersetzungen.

Patentrezepte zum Umgang mit dem Gefühl der Hilflosigkeit gibt es leider nicht. Aber nur, weil wir nicht mit einem Handstreich den Klimawandel aufhalten oder uns in die zumindest in unseren Breiten äußerst überschaubare Welt der Kohl-Jahre zurückkatapultieren können, bedeutet das nicht, dass wir nichts machen können. Wer schon einmal während der spoga+gafa durch die Hallen der Messe Köln gewandelt ist, wird bei so manchem Produkt zumindest still und heimlich Nutzen und vielleicht auch Sinn hinterfragt haben.

Vom 16. bis 18. Juni 2024 hat sich die größte Garten- und BBQ-Messe der Welt das Leitthema „Responsible Gardens – verantwortungsvolle Gärten“ auf die Fahnen geschrieben; angesichts des Konsumaufrufs, der mit den meisten der dort gezeigten Artikel einhergeht, eine auf den ersten Blick überraschende Wahl. Auch Aussteller und Besucher aus so gut wie allen Herren Ländern in der Domstadt zusammen zu bringen, scheint erst einmal wenig nachhaltig. Nachhaltig wird das Ganze dann aber genau dadurch, dass eben alle an einem Ort zusammenkommen.

In „verantwortungsvollen Gärten“ ist das Substrat dann vielleicht noch nicht vollkommen Torf-frei und es wird an heißen Sommertagen auch einmal der Wasserhahn aufgedreht, aber bitte nicht vergessen: auch die längste Wanderung beginnt mit einem ersten Schritt. Rechtsstaatlichkeit können wir von Deutschland aus nicht per Dekret in Russland einführen, wohl aber können wir dafür Sorge tragen, dass die Fundamente unserer eigenen Gesellschaft nicht erschüttert werden, sei es nun von rechts, von links oder durch pure Gleichgültigkeit. Ähnlich wie torf-reduziertes Substrat keinen großen Aufwand darstellt, sollte die Europawahl am 9. Juni 2024 mindestens genau so dick wie GreenTech und FlowerTrials in Woche 24 im Kalender markiert sein.

Tim Jacobsen

Streikweltmeister Deutschland?

In der ersten Januarhälfte dieses Jahres war es so, dass die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) streikte, das Ganze aber weitgehend in den Bauernprotesten, die ja sowieso auch das ganze Land lahmlegen sollten, unterging. Später lieferten sich dann GDL und das Bodenpersonal der Deutschen Lufthansa eine Art Wettstreit, und da wollten dann auch die Flugbegleiter nicht außen vor bleiben. Schließlich musste auch der Nahverkehr noch einmal in die Schlagzeilen und am Ende wusste niemand mehr, was noch fährt oder fliegt, von eigenen Transportmitteln einmal abgesehen, die sich dann die Straßen mit anderen Glücksrittern teilten und ganz ohne Blockade von selbst für Entschleunigung sorgten.

Die Bauernproteste gingen dann ein bisschen aus wie das Hornberger oder auf modern vielleicht eher Heilbronner Schießen; zum Glück möchte man im Rückblick meinen angesichts so mancher Parole, die wenig Lösungs-orientiert für ein eher klar unverträgliches Miteinander stand. Wer nun denkt, die bis Ende März 300 Stunden umfassende Bestreikung des Personen- und Güterverkehrs in dieser Tarifrunde sowie die fünf Warnstreiks bei der Lufthansa hätte es in dieser Form noch nie geben, liegt allerdings falsch. 2015 gilt als Spitzenstreikjahr. Vor allem durch die Arbeitskämpfe bei der Deutschen Post und dem sog. Kita-Streik fanden damals mehr als 2 Mio. Arbeitstage nicht statt.

Für das Jahr 2022 weist das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung 225 Arbeitskämpfe mit 674 000 ausgefallenen Arbeitstagen aus, deutlich mehr als die Bundesagentur für Arbeit, die allerdings selbst darauf verweist, dass bei der Verwendung ihrer Daten „die Unsicherheit und Untererfassung des Gesamtniveaus zu berücksichtigen“ seien. International sind wir, was Streiks angeht, eher Mittelfeld. In Belgien und Frankreich fielen von 2012 bis 2021 im Schnitt 96 beziehungsweise 92 Arbeitstage im Jahr je tausend Beschäftigte aus, deutlich mehr als unsere 18 Tage.

Eine Erklärung dafür ist, dass bei uns das Mittel des Arbeitskampfes eigentlich nur in Verhandlungsphasen für Tarifverträge erlaubt ist. In Frankreich hingegen darf jeder zum Streik aufrufen. Anders als in Deutschland sind bspw. auch Generalstreiks zulässig. Neu ist, dass Tarifkonflikte bei uns zuletzt schneller eskalierten. Honni soit qui mal y pense zeigen die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften in den letzten Jahren eine deutlich rückläufige Tendenz.

Das mittlere Bruttomonatsgehalt eines Lokführers liegt mit 38 Stunden Wochenarbeitszeit bei 3735 Euro, die Flugzeugabfertiger liegen nicht weitab. Knapp 10 % kürzere Arbeitszeiten und ein gutes Sechstel mehr in der Lohntüte fordert die GDL. Die Kosten durch Arbeitskämpfe für die Gesamtwirtschaft sind schwierig festzustellen. Lufthansa sieht sich 2024 durch Streiks schon mit 250 Mio. € belastet. Die Kosten für einen Tag Bahnstreik beziffert das Institut der deutschen Wirtschaft auf 100 Mio. €.

Unter den aktuellen Arbeitskämpfen leiden aber vor allem Millionen von Reisenden. Und so lässt sich den Forderungen, dass Streiken schön und gut ist, aber irgendwann eben auch ein Ende und wenn es gar nicht anders geht in Form einer Schlichtung haben muss, durchaus etwas abgewinnen. Und wahrscheinlich ist das dann immer noch mehr als der Saldo der „Woche der Wut“, die vielleicht mehr Porzellan zerschlagen hat, als unbedingt nötig gewesen wäre.

Tim Jacobsen

Wie alles mit allem zusammenhängt

Man könnte meinen, es liegt ein Fluch auf dem Zwiebelforum: nach der Erstausgabe 2014 ging es mehr oder weniger direkt vom Bonner GSI an die russische Riviera zu den Olympischen Winterspielen, die wiederum nur den Deckmantel für die Annektion der Krimhalbinsel darstellten. Womit nun leider auch der Krieg in der Ostukraine ziemlich genau sein Zehnjähriges hat.

2018 sorgte Orkantief Friederike passend zum Veranstaltungsbeginn in Peine für Verwüstung und Chaos in Deutschland. 2020 ging es ins Haus am Weinberg nach St. Martin – dort gab es einen der letzten spektakulären Sonnenaufgänge zu sehen, bevor es dann für uns alle „ab in den Lockdown“ hieß.

Aus dem Zweijahresrhythmus wurde kurzerhand ein Vierjahresrhythmus. 2024 war dann zwar die von Rukwied ausgerufene Wut-Woche gerade passend zu Veranstaltungsbeginn zu Ende gegangen, als wollte der Wettergott das Ganze aber nicht auf sich sitzen lassen, schüttelte Frau Holle, was vom Himmel ging und sorgte im wenig Winter-erprobten Rheinland für garantiert-nicht-Genehmigungs-pflichtige Entschleunigung.

Grund genug, ein bisschen wütend zu sein, hätten wir eigentlich alle: Stiftung Warentest rechnet vor, dass der CO2-Steueranteil an Benzin, Diesel, Heizöl und Erdgas zu Jahresbeginn um rund 50 % gestiegen ist. Von dem im Koalitionsvertrag angekündigten „sozialen Kompensationsmechanismus“ fehlt jedoch jede Spur, interessanter Weise genauso wie von einem Aufschrei in der Bevölkerung.

Die OECD attestiert der deutschen Durchschnittsfamilie die zweithöchste Abgabenlast aller OECD-Staaten. Nicht verwunderlich, sollten die Haushaltsdaten dann auch eigentlich gar nicht so schlecht sein, und liegen relativ zur Wirtschaftsleistung dann auch tatsächlich deutlich über denjenigen vom letzten Vorpandemiejahr. Wohin das ganze liebe Geld versickert, lässt sich je nach politischer Gesinnung unterschiedlich interpretieren und ausschlachten.

In all dem Gehupe und dem ganzen Trubel der zweiten Januarwoche ist nicht nur ein bundesweiter dreitägiger Bahnstreik komplett untergegangen, sondern auch, dass nicht nur Landwirte Leidtragende der Sparbeschlüsse waren, die von einem unzurecht zum Buhmann gemachten Bundesverfassungsgericht angeordnet wurden. Auch das Strompreispaket, das die Reduzierung der Stromsteuer für das gesamte produzierende Gewerbe auf das europarechtlich zulässige Mindestmaß bedeutet hätte, fiel dem Rotstift zum Opfer.

Die Verdoppelung der Netzengelte macht bei Haushaltskunden ein paar Dutzend Euro aus, bei industriellen Mittelständlern sind das schnell ein paar Hunderttausend Euro. Auch Gießereien und Verzinker, Kunststoff-, Metall- und Stahlverarbeiter stehen im Wettbewerb mit Unternehmen aus Ländern, in denen nicht nur der Strompreis deutlich niedriger ist. Höfesterben heißt im Rest der Wirtschaft Konkurs und Privatinsolvenz.

Hier eine leerstehende Werkhalle, dort die eine und andere Stellenstreichung werden Zeugnis davon ablegen, dass zumindest im Fall der Strompreise der Markt funktioniert hat: das auch durch den Atomausstieg verknappte Angebot führte und führt zu steigenden Preisen. Davon nicht ganz losgelöst sollte die Diskussion sein, ob der Netzausbau genauso wie der Ausbau der Erneuerbaren wirklich über den Strompreis finanziert werden muss.

Die DZ Bank prognostizierte Anfang Januar einen Rückgang der Anzahl landwirtschaftlicher Betriebe in Deutschland von derzeit 256 000 auf 100 000 im Jahr 2040. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gab es noch 1,8 Mio. Bauernhöfe, im Jahr 1960 zählte das damalige Bundesgebiet rund 1,5 Mio. landwirtschaftliche Betriebe. Bis 1980 halbierte sich diese Zahl, in den folgenden 20 Jahren sank sie noch einmal um fast die Hälfte auf rund 450 000 im Jahr 2000 – und das trotz fünf neuer Bundesländer. Gab es zu Beginn von Angela Merkels Regierungszeit noch knapp 400 000 landwirtschaftliche Betriebe waren es 2021 nur noch gut 260 000.

Ob letztendlich die Kluft zwischen Stadt und Land im Laufe der „Woche der Wut“ etwas kleiner geworden ist, wird sich zeigen müssen. Zu oft schon hätten diejenigen, die diesen Winter wieder einmal am Straßenrand Beifall klatschten, die Gelegenheit gehabt, im Alltag auf die Jagd nach dem ultimativen Supermarktschnäppchen zu verzichten und durch ihr Konsumverhalten Wertschätzung zum Ausdruck zu bringen.

Was auf jeden Fall im Gedächtnis bleiben wird, ist eine erneute Verrohung des Debattentons: neben „ohne Bauern gibt es keinen Jungbäuerinnenkalender“ gab es eben auch die Anschuldigung unseres Bauernpräsidenten, im Berliner Regierungsviertel habe noch nie jemand geschwitzt oder gearbeitet. Und schon baumelten die Ampeln an Galgen.

Tim Jacobsen

Erklärbär Staatssekretär

Hermann Onko Aeikens kennt seine Bauern: Der 1951 geborene Agrarwissenschaftler war Minister in Sachsen-Anhalt, auch die Bundeslandwirtschaftsminister Schmidt und Klöckner vertrauten auf seine Dienste. Und wenn dann dieser Hermann Onko Aeikens den Bauern bescheinigt, dass sie es versäumt hätten, etwas gegen die Entfremdung zu tun, dann könnte dies in der spätestens seit dem Bekanntwerden des möglichen Endes ihres Dieselprivilegs wieder eher konfrontativen Gesamtlage für wohltuende Einordnung sorgen.

Daran, dass die Landwirtschaft systemrelevant ist, lässt Aeikens keine Zweifel aufkommen. Wie in kaum einem anderen Wirtschaftszweig gebe es in der Landwirtschaft allerdings jede Menge Zielkonflikte – Aeikens versucht, in seinem 276 Seiten umfassenden „Unsere Landwirtschaft besser verstehen – Was wir alle wissen sollten“ über Zusammenhänge, Widersprüche und Auswüchse aufzuklären. Aeikens hält Balance, lenkt den Blick sowohl auf die Bauern vor Ort als auch auf die große Weltbühne des internationalen Agrarhandels, und stellt die Bauern dabei weder als Verlierer noch als Gewinner dar.

In groben Zügen zeichnet er den Wandel der deutschen Landwirtschaft seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach, nichts weniger als einer der Garanten unseres Wohlstandes, stellt aber auch die  Frage nach den Grenzen dieser Entwicklung. An den Stellen, an denen der Autor den nüchternen Agrarwissenschaftler Agrarwissenschaftler sein lässt und in Plauderlaune gerät, gewinnt das Ganze an Farbe und wird lebendig – auch wenn der eigentlich Vorzug des im Mitteldeutschen Verlag erschienen Buches ist, ein hoch emotionales Thema erfrischend unaufgeregt zu betrachten.

Tim Jacobsen

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