"Now, here, you see, it takes all the running you can do, to keep in the same place. If you want to get somewhere else, you must run at least twice as fast as that!"

Kategorie: Europa (Seite 2 von 9)

Breit aufgestellt in die Zukunft

Auch wenn die Engländer eigentlich den Unterschied zwischen einem Castle und einem Herrenhaus sehr genau nehmen und Castle Howard dementsprechend gar keine Burg, sondern ein Manor House sein müsste, hat, ebenfalls wieder typisch englisch, trotz der semantischen Unschärfe die eindrucksvollere Gebäudebezeichnung letztendlich das Rennen gemacht.

Von Anfang an war der seit über 300 Jahren von Familie Howard genutzte barocke Perle nicht für Verteidigungs- sondern Repräsentationszwecke gedacht und das funktionierte damals auch schon ein bisschen wie aus dem legendären Bausparkassenvideo über ein fiktives Klassentreffens bekannt: statt mit mein Boot, mein Haus, mein Auto zu  glänzen ging es darum, einer möglichst beeindruckenden Kunstsammlung ein möglichst spektakuläres Zuhause zu geben.

Und so reisten die weitgehend von lästiger Erwerbstätigkeit befreiten Nobelmänner und –frauen von Kunstsammlung zu Kunstsammlung, im Gepäck hatten sie dann jeweils Visiten-karten sowie eine Einschätzung des Gesehenen, in gewisser Weise ähnelte das Ganze streng genommen stark den moderen Social Media nur halt ohne Internet. Der Dritte Earl of Carlisle konnte sich vor Likes wahrscheinlich kaum retten, denn so etwas gab seinerzeit in Privathäusern nicht:

Die vier Figuren, die die die Ansicht des Castle auch heute noch oder besser wieder prägende 21 m hohe Kuppel tragen, wurden in den Jahren 1709-1712 von niemand geringerem als Giovanni Pellegrini künstlerisch ausgearbeitet, der bereits das Kuppelgemälde in der Londoner St. Paul´s  Cathedral gemalt hatte. Fast schon überflüssig zu erwähnen, dass Charles Howard der erste war, der einen nicht säkularen Prachtbau von einer Kuppel krönen ließ und dies wahrscheinlich nur möglich war, weil mit dem Dramaturgen und Tunichtgut John Vanbrugh jemand Fachfremdes für die Architektur zuständig war.

Schön, aber auch nicht ganz billig

Dass das Ganze natürlich auch mächtig ins Geld ging, lässt sich daran ablesen, dass die Bauarbeiten für den Ostflügel nur langsam in Schwung kamen und zwei Earls of Carlisle später der Westflügel dann in deutlich abgespeckter Form errichtet wurde, was der unsymmetrischen Fassade auch heutzutage noch einen ganz besonderen Charme verleiht. Als es finanziell wieder einmal besonders knapp wurde, musste auch der noch weit von Geschäftstüchtigkeit entfernte Nachfolge-Earl die Schuldurkunden mitzeichnen, da allen Beteiligten klar war, dass eine Generation nicht ausreichen würde, um die über Generationen angehäuften Schulden auch nur ansatzweise tilgen zu können.

Auch heute noch verschlingt der Unterhalt eines solchen Gebäudes erhebliche Summen. Und gar nicht so selten müssen Schlossbesitzer im Vereinigten Königreich und wahrscheinlich auch anderswo trotz all der gemeinhin vermuteten Schätze und Ländereien angesichts zuweilen zu großer Diskrepanzen zwischen Ein- und Ausgaben die Finger zum Schwur heben. In der wechselvollen Geschichte gab es aber auch immer wieder glückliche Umstände, die die größten Löcher stopfen halfen.

Tu felix austria, nube

So war es eine Zeitlang unter Sprösslingen von in der Welt zu immensem Reichtum gekommener Familien en vogue, sich jemanden des alten Adels Englands zu angeln. Auch der Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Union begünstigte Großgrundbesitzer finanziell. Flächenprämien waren zuvor nicht Teil der Bilanzen gewesen.

Mitte des 18. Jahrhunderts konnte der 7. Earl of Carlisle nicht weniger als fünf Dörfer und rund 5300 ha sein eigen nennen, am eigenen Bahnhof konnte er auch Queen Victoria samt Mann begrüßen. Ein knappes Jahrhundert später dann ein Schicksalsschlag, der Castle Howard fast das Schicksal von Henderskelfe Castle bescherte, der Burg an gleichem Ort, auf deren Ruinen Castle Howard errichtet wurde.

Am 9. November 1940 – und auch hier gibt es wieder eine wahrscheinlich typische englische Unterscheidung in Dinge, die während des Kriegs passierten und Dinge, dei wegen des Kriegs passierten- zerstörte ein verheerender Brand während des Kriegs Kuppel und Teile des Anwesens. Es dauerte 22 Jahre, bis 1962 die Kuppel wieder aufgebaut war, bereits zehn Jahre zuvor war Castle Howard wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden.

2019 noch 270 000 Besucher

Höhepunkt des Besucherjahres ist, wenn sich im Herbst in einem zweiwöchigen Handumdrehen das ganze Castle in ein Weihnachtswunderland verwandelt. Dieses Jahr lautet vom 2.11.2023 – 2.01.2024 das Motto Christmas in Neverland. J.M. Barries Peter Pan samt Kapitän Hook und Piraten werden zum Leben erweckt, Jolly Rogers wird die Gallerien entlang segeln und die prächtigen historischen Räume sich in tropische Lagunen verwandeln.

In etwa jeder dritte der 270 000 Besucher nutzt die Weihnachtszeit für eine Stippvisite. An Heiligabend bzw. Boxing Day ist allerdings geschlossen, Familie Howard will den 15 m hohen Baum im Kuppelsaal dann ganz für sich selbst haben. Wahrscheinlich hauptsächlich, um Geschenke darunter zu verstecken – und ein bisschen vielleicht auch dafür, sich selbst zu belohnen, das Hasardeurstück, einen dermaßen großen, schweren und furchtbar umständlich zu handhabenden Baum im Innenraum aufzustellen, wieder einmal gemeistert zu haben.

Diversifizierung ist King

Allerdings reicht der finanzielle Erlös aus dem Kartenverkauf – Weihnachtsshow hin und her – nicht, Gärten und Schloss in Schuss zu halten. Auch der Beitrag, den die Landwirtschaft liefern kann, macht aus roten noch keine schwarzen Zahlen, auch wenn das Fleisch der Rinder der Aberdeen-Angus-Mutterkuhherde dann im äußerst gut bestückten Farmshop zu durchaus kostendeckenden Preisen verkauft wird. Ein Teil der landwirtschaftlichen Flächen dient dem Vertragsnaturschutz, auf den selbst bewirtschafteten Flächen wird hauptsächlich Winterweizen und Triticale angebaut.

Wurzelgemüse- und Kartoffelspezialisten sorgen für die Bestellung eines weiteren Teils der Flächen, Grün- und Brachland machen den Rest der nicht bewaldeten Flächen aus. In den Wäldern von Castle Wood ersetzen einheimische Eichen, Bergahorne und Kirschen zusehends die Nadelbaumbestände. Der Castle-eigene Brennholzlieferservice erfreut sich großer Beliebtheit.

Als eine der letzten Baumschulen auf der Insel liefert Castle Howard´s Tree Nursery Bäume made in Britain. Eine beachtliche Sammlung mehr oder weniger exotischer Species sind im Yorkshire Arboretum unweit des Haupthauses zu finden und macht Appetit auf einen Besuch des ebenfalls sehr gut bestückten Garden Centres, von dessen Freilandflächen, wie könnte es anders sein, stets auch die Schlosskuppel zu sehen ist.

Typisches und untypische Einkommensquellen

Neben dem Hofladen mit seiner Auswahl regionaltypischer Produkte gibt es natürlich auch noch den für Sehenswürdigkeiten typischen Shop mit Andenken und Souvenirs in allen Farben, Formen und Preisklassen. Etwas versteckt hinter dem Great Lake liegt der sog. Caravan Park, ein Camping- und Glampingplatz, der dem Vernehmen nach sehr gut gebucht sein soll und einen wesentlichen finanziellen Beitrag zum Erhalt leistet.

Wer dann schon immer gerne einmal im Great Lake schwimmen gehen wollte, ist beim sog. Multisport-Event herzlich willkommen: Aqua-, Tri- und Duathlon sowie diverse Einzeldisziplinen stehen zur Auswahl, es geht durch den Great Lake und über die nach der Familie benannten Howardian Hills.

Etwas komfortabler sind die ehemaligen Landarbeiterhäuschen, die liebevoll saniert mit Holzofen und Antiquitäten direkt aus dem Schloss an diejenigen vermietet werden, denen eine ungnädige Genealogie nicht sowieso einen eigenen Palast beschert hat. Die nobleren unter uns, dürfen dann auch im Haupthaus schlafen und zwar genau in den Betten, die auch beim Rundgang zu sehen sind.

Filmstar Castle Howard

Und wer nun denkt, dass er oder sie Castle Howard schon einmal irgendwo gesehen haben, dann lässt sich anhand des Geburtsjahres schnell herausfinden, wo das gewesen sein könnte. Den Älteren fällt vielleicht Brideshead Revisited ein, der Zehnteiler samt Kinofilm, der eine Restaurierung des beim Brand zerstörten Gartensaals erlaubte. Die musikalisch Begeisterten erinnern sich vielleicht an den Videoclip zu Four out of Five, in dem der Arctic Monkeys Leadsänger Alex Turner sogar das Broadwood square piano aus dem Jahr 1805 spielen darf.

Der Zeichentrickkater Garfield hat auch schon in dem Schloss gewohnt und wer vergeblich das aus der Streamingserie Brigderton bekannte Clyvedon Castle gesucht und nicht gefunden hat, sollte sich Castle Howard noch einmal genauer anschauen. Nicht nur für Castle Howard sind solche Filmaufnahmen sowohl aus finanzieller als auch aus Aufmerksamkeitssicht äußerst interessant, die ganze Region profitiere vom Aufschlag der Filmcrews.

Tim Jacobsen

Rishi Sunak und seine Konservativen machen einen in Manchester drauf, Man City verliert gegen Wolverhampton und ich wäre bald Tom Hanks geworden

Begonnen hat das Ganze ja ein paar Tage zuvor, da hatte der besuchte Unternehmer netterweise einen Bus besorgt, damit wir allesamt ohne Zeitverlust von links nach rechts und wieder zurück transportiert werden können. Meinen Sitznachbarn habe ich dann ernstscherzhaft gefragt, ob das die letzten Pollen sind , die er da eingesammelt hat, worauf der dann doch seine Männertragödie Erkältung ins Rennen warf. Donnerstagmittag dann der Absturz in Richtung ich-muss-auch-sterben, am Freitag ein kurzes Aufbäumen, um noch die Boardkarte für Samstag im Büro auszudrucken.

Samstag hätte ich dann spätestens stutzig werden sollen, als die 175-Jährige im schön geputzten BMW-SUV vor mir beim Anfahren nach der Grünumschaltung erst einmal mit dem Rückwärtsgang startete, aber da war ich noch zuversichtlich, schlimmer wird es heute nicht mehr. Ankunft in Manchester, wie immer direkt zu meinen Orangefarbenen Lieblingen, aber die so alle-Extras-eingebucht, das ließ sich teils rückgängig machen, OK, aber dann, nein, die Kreditkarte funktioniert nicht. Noch einmal, und danach der Hinweis, dass es nicht sixtmal geht, sondern nach dreimal die Sperre droht.

Plan gescheitert, was tun? Eventuell mit der guten alten EC-Karte weiter nach York? Am Ticketautomaten dann ein Schild, wegen-des-Streikes-werden-schon-gar-keine-Zugfahrkarten-mehr-verkauft. OK, dann vielleicht das Zimmer in York zu stornieren versuchen und stattdessen bei immer noch strömenden Regen erst einmal in Manchester bleiben und den nächsten Tag mit frischen Ideen abwarten?

Billigste Zimmer für eine Nacht 350 Pfund aufwärts, am Flughafen selbst gab es schon gar keines mehr. Zum Flughafenassistancedesk: ja, der Flughafen hat 24/7 auf, würde er zwar nicht empfehlen, aber notfalls könnte ich da schon ruhiges Eckchen irgendwo finden. Kurz noch nach National Express gesurft, aber auch die zwei letzten viereinhalb-Stunden-Verbindungen ausverkauft.

OK, dann langsam mal auf Übernachtung am Schalter einstellen und mit wieder fahrenden Zügen einen neuen Plan entwickeln. Aber erst einmal Wasser kaufen. Und siehe da: Kreditkarte und Code funktionieren einwandfrei. Wieder in den so überflüssig langsamen Bus gesetzt, der das Rental Car Village mit den Terminals verbindet und der dafür länger braucht als der Flug von Köln nach Manchester.

Bei den vielleicht Oktoberfestgeschädigten Alex und Konsti aus Pullach immer noch kein Weiterkommen, aber Franko, mein ganz persönlicher Held des Vermieters aus Parsippany, ließ sich von den Schauergeschichten der Oberbayern nicht entmutigen, und buchte von der Kreditkarte ab.

Und ich konnte fünf Stunden später als geplant und anders als Tom Hanks und sein historisches Vorbild doch noch Car Rental Village mit einem kleinen, feinen fahrbaren Untersatz verlassen.

Rishi Sunak wusste als Regierungschef naturgemäß mehr als ich und natürlich auch bereits von dem Streik und ließ sich samt Frau im standestypischen englischen Allräder zur Party Conference nach Manchester bringen. Noch dazu, wo er ja auch gerade die Pläne für eine Hochgeschwindigkeitszuganbindung Nordenglands gekappt hatte.

Und während die Fußballer von Man City nach Hause fahren konnten, wurden wohl in vielen Hotelzimmern der von außerhalb stammenden Fans die Minibars geleert, ob der verloren gegangenen Partie oder der aufgerufenen astronomischen Hotelpreise wegen der Abertausenden von Parteigranden und Cityfans sei einmal dahingestellt.

Tim Jacobsen

Es geht auch anders

Beim letzten prae-Corona OECD Better Life Index kam Deutschland auf ein Pro-Kopf-Einkommen von 33 652 US-$ pro Jahr, Finnland lag bei 29 374 US-$. Deutschland damit über dem OECD-Durchschnitt von 30 563 US-$ pro Jahr und Finnland etwas darunter. Andere Statistiken sehen Finnland ein kleines bisschen weiter vor Deutschland, es gibt also allen Grund anzunehmen, dass sich die Durchschnittseinkommen nicht weit unterscheiden.

Dass im finnischen Straßenbild Luxuslimousinen eher selten zu sehen sind, heißt dann auch nicht, dass die Einkommen gleicher verteilt sind als bei uns, sondern ist wahrscheinlich eher Ausdruck einer zurückhaltenderen Mentalität. Nachdem wir an anderer Stelle schon von einem Erdbeerproduzenten berichtet haben, der während der Hauptsaison im Supermarkt noch stets 7,90 € für seine süßen Früchtchen realisieren kann – und dies wohlbemerkt nicht für ein Kilogramm, sondern ein 500 g Schälchen – hier nun der Blick in einen Blumenladen.

Zwischen einem Pizzaexpress, einem Haushaltswarengeschäft und einer Supermarktfiliale ist Kukkakauppa Madonna an der Mariankatu nun nicht unbedingt eine der Topadressen in der finnischen Hauptstadt, sondern insgesamt vielleicht eher im gehobenen Mittelfeld angesiedelt. Spannend ist dann ein Rückblick auf die 51-jährige Unternehmensgeschichte: Es waren die Nachkriegsjahrzehnte, in denen viele Finnen die neu erlangte Freizügigkeit innerhalb des nordischen Wirtschaftraum nutzten, um besser bezahlte Arbeitsplätze in Schweden zu suchen.

Bis weit in die 1980er Jahre hinein konnte der finnische Lebensstandard nicht mit demjenigen im wohlhabenderen Schweden konkurrieren und mit dem Zerfall der Sowjetunion folgte Anfang der 1990er Jahre der nächste Rückschlag. Das Land durchlief eine schwere Wirtschaftskrise, zeitweilig waren bis zu 20 % der Erwerbstätigen arbeitslos. Aber auch davon erholte sich die finnische Wirtschaft: Ob Finnland den Phoenix-artigen Aufstieg des Landes wirklich Nokia zu verdanken hat oder ob umgekehrt Nokia das keineswegs zufällige Produkt einer klugen Wirtschaftspolitik war, wird noch Generationen von wissenschaftlichen Arbeiten füllen.

Unsere Kukkakauppa Madonna konnte sich durch all die Jahre hin behaupten, und hat dies nicht nur, aber auch ihrer Kundenorientierung zu verdanken und so bleibt dann auch heutzutage kein Wunsch unerfüllt: „In unserem Blumenladen finden Sie Blumen, die genau zu Ihnen passen, für jeden Tag, für Hochzeiten und Partys. Auch Schnitt- und Topfblumen sowie alle floristischen Bindearbeiten sind möglich. Für den Transport in die Hauptstadtregion bietet unser Geschäft einen Lieferservice, mit Interflora geht es auch in andere Teile Finnlands oder ins Ausland.“

Hochzeitsbögen und elegante Brautsträuße gibt es genauso wie Kränze für Partys, Taufen und Beerdigungen sowie Sträuße im Wochenabo: „Die Blume der Woche kann ganz nach Ihrer Wahl ein Blumenstrauß, ein Gesteck oder eine Topfblume sein.“ Im digital-affinen Finnland können auf Wunsch Bestellungen natürlich auch kontaktlos über Datenleitungen abgewickelt werden.

Ist das dann alles für sich genommen schon einigermaßen eindrucksvoll, fällt der deutsche Discountpreise gewöhnte Tourist fast vom Glauben ab: Maljaköynnös, bei uns besser bekannt als Mandevilla gehen in überschaubarer Größe für 45 € über den Tresen, die leicht übersetzbaren Pelargoni in nicht unbedingt Topqualität für schlappe 15 €. Da trifft es sich gut, wenn es dann die Pelargonie zusammen mit dem Übertopf zum Setpreis gibt: der Topf kostet solo 7,50 €, klar dass es dann für Beides gemeinsam mit 22,50 € keinen Sonderpreis gibt.

Tim Jacobsen

Was isst Deutschland?

Wohl jeder hat zumindest in der entfernten Familie jemanden, der, auch wenn er wollte, gar nicht wüsste, wie Nudeln überhaupt gekocht werden – während andere, nicht weniger liebe Verwandte aus Spaghettini oder Spaghettoni einen Glaubenskrieg machen. Pastinaken und Petersilienwurzeln nutzten geschickt die Ge- und Abwöhnung an und von Erdnußbutter, Papaya und Avocados, um aus der Versenkung zurück zu kehren – und so ist in aller Abgedroschenheit an der Beständigkeit des Wandels durchaus etwas dran.

Im Vergleich März 2023 zum selben Monat des Vorjahres sticht zwar mit einem Plus von 27 % Gemüse heraus, richtig viel teurer ist aber mit 71 % Zucker geworden, über den so gut wie niemand spricht. 402 € geben wir alle im Schnitt Jahr für Jahr für Lebensmittel aus; der Anteil des Haushaltseinkommens, der in Polen für Lebensmittel ausgegeben wird, liegt um die Hälfte höher als bei uns.

Der Umsatz mit Biolebensmittel sank im Vorjahr im Vergleich zu 2021 zwar um 3,5 %, lag aber immer noch 25 % über dem von 2019. Interessanterweise war in der letzten Saison der Preisaufschlag für konventionelle Möhren über alle Absatzkanäle hinweg ausgeprägter als für Bioware. Noch extremer: Bei Zwiebeln ging in der zu Ende gehenden Saison konventionelle Ware ab wie Schmitz Katze, die Biokollegen dagegen konnten schon fast froh sein, das konstante Preisniveau der Vorjahre zu halten.

Doof dann auch, wenn die solvente Stammkundschaft das direktvertriebene Ökofleisch nicht mehr zu zahlen bereit ist, sich auf Discounterbio stürzt – und gleichzeitig am 30 % Ziel des Koalitionsvertrags festgehalten wird. Richtig attraktiv wird die Umstellung dadurch nicht, auch wenn Biobauern zumindest von der Preissteigerung für synthetische Dünger nicht betroffen sein sollten. Eier sind übrigens die am häufigsten gekauften Bioprodukte, noch vor Obst und Gemüse sowie Kartoffeln und den Mopros.

Der Ökolandbau schneidet in vielen Dingen besser ab als die konventionelle Landwirtschaft, die Frage, wie groß die Ertragseinbußen sind, scheidet die Geister. Smart Farming könnte eine Art Mini-game-changer werden, der große Wurf wäre allerdings eine Anpassung des EU-Gentechnikrechts. Nicht unbedingt etwas Neues: Schon die Urbios diskutierten darüber, ob nicht Molekularbiologie geradezu dafür gemacht wäre, den nicht chemisch unterstützen Pflanzen in ihrem Überlebenskampf alle denkbaren Vorteile zu bieten. Seinerzeit soll die Stimmungslage ungefähr fifty-fifty gewesen sein.

Letztendlich ist das Ganze aber mehr eine Art Scheindiskussion angesichts dessen, dass von 50 m2, die es braucht, um ein Rind 1 kg schwerer werden zu lassen, standortabhängig eben auch bis zu 2,5 dt Kartoffeln abgefahren werden können. Seit dem Jahrhundertwechsel ging der Milchkonsum bei uns um rund ein Zehntel zurück, die Alternativen aus Hafer, Soja und Mandel eroberten 5,5 % Marktanteil.

Erfreuliche 72 % der Deutschen greifen täglich zu Obst und Gemüse, wieder einmal sind die Frauen mit 81 % vernünftiger als die Männer mit 63 %. Fleisch gibt es bei 19 % unserer Frauen jeden Tag, hier liegen die Männer mit 31 % deutlich darüber. Mit unseren durchschnittlich 52 kg Fleischkonsum liegen wir zwischen den 4 kg in Indien und den 110 kg in Amerika, Australien und Argentinien irgendwo in der Mitte.

Die Beliebtheit von Suppen und Eintöpfen steigt mit dem Alter, beim Ketchup ist es andersrum. Frauen trinken mehr Kräutertee als Männer und Männer viermal so viel Alkohol. 78 kg Lebensmittel werfen wir alle durchschnittlich weg und von den 7,4 % der Treibhausgasemissionen, die auf die Landwirtschaft entfallen, stammen zwei Drittel aus der Tierhaltung.

Gut die Hälfte Deutschlands wird in der einen oder anderen Form bewirtschaftet und so wird schnell klar, dass Insektenhotels hier und bestäuberfreundliche Blüten da allenfalls Kosmetik sein können und es vor allem mehr Diversität in der Fläche braucht.

Insekt ist dabei nicht gleich Insekt, mit rund einer Million Arten sind Insekten die artenreichste Tiergruppe überhaupt. Andere Länder, andere Sitten: während nicht nur in Bayern Insekten eher langsam Eingang in unsere Speisekarten finden werden, sind sie für rund ein Viertel der Weltbevölkerung der Proteinlieferant schlechthin.

Vielleicht kommen wir aber auch noch einmal mit einem blauen Auge davon – zumindest was die Insekten angeht. Wer schon einmal einen Vorgeschmack darauf bekommen möchte, wie es gehen könnte, die bis 2050 wahrscheinlich 10 Mrd. Menschen zu ernähren, sollte einen Blick in „Eat Good“ wagen.

Auch auf die Gefahr hin, eine der Haupterkenntnisse der Rezeptsammlung zu spoilern: mit den Lancet-Kommissions-Empfehlungs-gerechten 350 g Gemüse und 200 g Obst täglich sollte uns Gärtnerinnen und Gärtnern eigentlich nicht bang vor der Zukunft sein!

Tim Jacobsen

Nachhaltigkeit muss in allen Facetten nachhaltig sein

Eigentlich ist der Rosenanbau ja eine einfache Sache, wie die meisten von Ihnen wahrscheinlich aus eigener Erfahrung wissen. Schwierig wird es, wenn Sie versuchen wollen, damit auch Geld zu verdienen. Und weder Regionalität noch Saisonalität sind ganz neue Erfindungen, vielmehr haben sie bereits den Speiseplan der Jäger und Sammler bestimmt. Relativ neu dagegen ist, dass sesshaft gewordene Menschen zumindest in den sehr wohlhabenden Ländern dieser Welt dann Trick 17, 53 und 86 bedacht haben, um möglichst niemals auf gar nichts verzichten zu müssen.

Und so hat uns die großtechnische Ausbeutung von Erdöllagerstätten nicht nur Nylonstrümpfe und jede Menge anderen Verpackungsmüll beschert, sie machte auch den vor Wetterkapriolen und Klimaperikeln geschützten geschützten Anbau von Schnittrosen überhaupt erst möglich. Befeuert von günstiger Energie und der wirtschaftlichen Prosperität der Wirtschaftswunderjahre schossen die Gewächshäuser in den Nachkriegsjahren wie CDU-geführte Bundesregierungen aus dem Boden. Auf die erste große Koalition unter Kiesinger folgten die Sozialliberalen und der Ölpreisschock. Vier autofreie Sonntage manifestierten, dass die Limits to Growth auf betrieblicher Ebene schneller sichtbar wurden als die Tinte des Clubs of Rome trocknen konnte.

Ein paar pfiffige Gärtner schifften daraufhin nach Teneriffa aus, die ganz Wagemutigen verschlug es nach Ecuador. Hier trafen sie in gewisser Weise auf den Rosengarten Eden. Cayambe liegt auf 3000 Metern ziemlich exakt auf dem Äquator. Die einzigartigen Lichtverhältnisse, die gemäßigten Temperaturen und die fruchtbaren Böden haben Cayambe gewissermaßen zur Welthauptstadt der Rosen gemacht. Manche sagen, dass Rosen nirgends besser gedeihen als dort – und dies mit vergleichbar geringem Aufwand: stehen bei uns High-Tech-Gewächshäuser industriellen Produktionsanlagen in nichts nach, genügen dort ein paar Dachlatten und Plastikfolie. Ein kleines Problem sind die Distanzen. Nun werden Rosen zwar nicht aus Flugscham rot, ein bisschen ein Spaßverderber ist die Entfernung allerdings allemal. Zweites Problem sind die nur aus unserer Sicht niedrigen Löhne in Ecuador.

Kolumbien nahm den Arbeitskosten-Unterbietungshandschuh gerne auf, genauso wie die Berufskollegen in Kenia, die dann wiederum mit Äthiopien einen Billiganbieter in direkter Nachbarschaft hatten. Ganz verschwunden ist der Schnittrosenanbau allerdings auch bei uns nicht. Mit Leidenschaft und zuweilen auch Leidensfähigkeit halten bei uns auf rund 125 ha Gärtnerinnen und Gärtner die Rosen-Stellung, jenseits der deutsch-niederländischen Grenze sind es noch ein paar mehr, von ehemals knapp vierstelligen Anbauzahlen fehlt allerdings auch hier jede Spur. Energie ist auch fünfzig Jahre nach der Ölpreiskrise Aufregerthema Nummer eins, dazu kommt die eher noch weiter auseinandergegangene Lohnpreisschere zwischen uns und dem globalen Süden. Einige haben aufgerüstet, bei Marjoland beispielsweise kommt der Berg zum Propheten.

Manches ist hingegen auch über all die Jahre hinweg relativ stabil geblieben: Neben Sergei Lawrow und Jean Asselborn im Außenministeramt beispielsweise auch die dominierende Rolle der genossenschaftlichen Koninlijke Floraholland, des größten Blumenhändlers der Welt. Bis 2008 war das 700 mal 740 Meter große Aalsmeerer Versteigerungsgebäude mit direktem Flughafenanschluss nichts weniger als das größte Gebäude der Welt – und gleichzeitig der globale Flaschenhals für Ex- und Importe im Zierpflanzenbereich. Es war über viele Jahre eher die Regel als die Ausnahme, dass Blumen aus Südamerika statt der Direttissima über Mittelamerika zweimal Weltmeere überfliegen mussten, bevor sie in Nordamerika Herz und Sinne erfreuen konnten.

Auch wenn die Frage „brauchen wir das oder kann das weg“ für sich genommen spannend zu diskutieren wäre, lässt sich das Ganze auch weniger hoch aufhängen: Wäre denn nicht allen gedient, wenn sich in Absatzmarktnähe unter ähnlichen Umständen wie in Ecuador Rosen produzieren ließen? Die Niederlande sind damit schon einmal raus und auch der Alpennordkamm bei uns kommt an das Tageszeitenklima des nullten Breitengrades nicht einmal Ansatz-weise heran. Luiz Corella ließ sich davon nicht entmutigen. Im fernen Mexiko vom Heimweh nach Spanien und dem Wunsch, die besten Rosen der Welt anbauen zu wollen, gepackt, fand er zwei Autostunden nördlich von Madrid am Oberlauf des Dueros in 1100 Metern Höhe Licht- und Temperaturverhältnisse, die zumindest in Europa ihresgleichen suchen. Dazu die perfekte Anbindung an das europäische Autobahnnetz: 19 Stunden brauchen LKWs von Soria nach Aalsmeer.

Der Businessplan stand 2013. 2015 begannen die Bauarbeiten und im September des Folgejahres wurden die ersten Rosen gepflanzt. 14 ha ist der Neubau groß, verschlungen könnte er um die 50 Mio. € haben. Eine mögliche Verdoppelung der Anbaufläche war von Anfang an Teil des Plans. Es dauerte weniger als zweieinhalb Jahre, bis sich im Januar 2019 mit der Einführung der Premiumsortierung Aleia Máxima die Produktionsprozesse offensichtlich eingespielt hatten. Nahezu zeitgleich mit der Optimierung der Produktionsprozesse begann sich allerdings auch der Himmel über den ansonsten wolkenfreien, Schnee bedeckten Berggipfeln Nordspaniens zunehmend zu verdüstern. Im Sommer 2019 machten Gerüchte die Runde, dass es bei der Entlohnung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu Unregelmäßigkeiten gekommen sei.

Am 16. Oktober 2019 dann die Beantragung des Voluntary Creditor Contests, der trotz Zahlungsschwierigkeiten eine Fortführung der Geschäftstätigkeit erlaubt. Als Ursache für die unternehmerische Schieflage wurde der Rückzug eines Großinvestors benannt. Die US-amerikanische Full Moon übernahm schließlich im Sommer 2020 für wahrscheinlich unwesentlich mehr als ein Zehntel der mutmaßlich ursprünglich investierten Summe den nordspanischen Rosenproduzenten. Am 12. März 2021 wurden an der Veiling Rhein Maas die allerletzten `Red Naomi´-Rosen aus Soria versteigert.

Die letzten Nachrichten, die aus Soria zu hören waren, klingen insgesamt eher nach einer Investitionsruine im ländlichen Raum. Full Moon Investments hatte und hat offensichtlich größere Schwierigkeiten, eine der begehrten Lizenzen für den Anbau von medizinischem Cannabis in Spanien zu bekommen. Zwischenzeitlich waren drei von vier vergebenen Lizenzen in den Händen von Mitgliedern des spanischen Königshauses. Begründet wurde dies damit, dass befürchtet wurde, die Lizenzen könnten reine Handelsware werden, sobald sie in ausländischen Besitz kämen.

Im Fall von Aleia Roses noch viel mehr als bei der „vertically integrated cannabis business development group“ war die gute Idee Vater und Mutter des Gedankens. Einmal mehr zeigte sich aber, dass Nachhaltigkeit aus drei Dimensionen besteht, auf mindestens drei Säulen beruht: Neben Ökologischem und Sozialem darf eben auch die Ökonomie nicht zu kurz kommen. Und vielleicht, aber auch nur ganz vielleicht, war das Ganze zumindest eine etwas waghalsige Geschäftsidee, also das eine wie das andere.

Tim Jacobsen

Clarkson´s Farm geht in die zweite Runde

Als Jeremy Clarkson im Dezember 2022 eine Kolumne in The Sun veröffentlichte, in der er davon träumte, dass die Frau des Bruders des britischen Thronfolgers eines Tages nackt durch die Straßen des Vereinigten Königreich paradieren und dabei von einer aufgebrachten Menge mit Exkrementen beworfen werde, geriet er nicht zum ersten Mal in das Auge eines veritablen Shitstorms. Clarkson, der sich selbst als „Petrolhead“ bezeichnet, polarisiert und provoziert durch grenzwertige, politisch unkorrekte Äußerungen und mehr als nur satirisch-ironische Seitenhiebe – was vor vielen Jahren bereits dazu führte , dass die altehrwürdige BBC seinen Top Gear-Vertrag nicht verlängerte. Die nicht ganz so kritischen Kollegen von Amazon Prime Video hat er mit seinen zweifelhaften Äußerungen nun ähnlich weit gebracht.

Die zweite Staffel von Clarkson´s Farm war zu der Zeit allerdings bereits abgedreht und auch eine dritte Staffel im Kasten. Dem Vernehmen nach soll danach nun aber auf jeden Fall Schluss sein. Und so lässt sich dann in Zeiten von Cancel Culture ein ungutes Gefühl nicht ganz verheimlichen, was Clarkson allerdings alles widerfährt, bevor er am Ende der zweiten Staffel dann tatsächlich erste Gäste in seinem Hofrestaurant begrüßen kann, ist dermaßen unterhaltsam und aus dem Leben gegriffen, dass es den alltäglichen Wahnsinn auf den Höfen nicht nur im Vereinigten Königreich in kaum zu übertreffender Weise dokumentiert. Um einmal mehr den Spagat zwischen unternehmerischer Freiheit, missgünstiger Nachbarschaft und Auflagen-orientierten Behörden gewissermaßen im Extremform aufzuzeigen, brauchte es ein charmantes Ekel wie Clarkson, der in Clarkson´s Farm das spielt, was er am Besten kann: sich selbst.

Tim Jacobsen

Aufklärung, die Spaß macht

Zurück von weggewesen: auch bei den Kollegen einmal über den Kanal begann im letzten Jahr nach mehrmaligem Coronawinter- und -sommerschlaf wieder die Veranstaltungssaison. Einigermaßen bezeichnend, dass sich die Mund- und Nasenbedeckungen bis zum Wiedereinstieg in den öffentlichen Nahverkehr diesseits der Passkontrolle eine Pause verdient hatten, aber geschenkt: England im Spätherbst wie eine andere Welt, die Kathedralen strahlten im Dunklen um die Wette, Schlittschuhbahnen luden zur vorweihnachtlichen Ausfuhr und der Sieg der englischen Nationalelf über die Vereinigten-Königsreichs-Kollegen aus Wales wurde – public viewing at its best – ein- und ausgehend gefeiert.

Nachdenklicher stimmte, was auf der Onion and Carrot Conference (OCC) diskutiert wurde. Und damit sind nicht die Ausführungen des aus Missouri stammenden Präsidenten der US-amerikanischen National Onion Association gemeint, der in der Biden Administration den Grund für alles Übel auf der Welt sah und seinen europäischen Berufskollegen riet, doch einfach nicht zu verkaufen, wenn die Preise nicht stimmen. Erinnerte Greg Yielding mit markigen Sprüchen und Cowboyhut an die Karikatur eines Westernhelden, erfüllte David Exwood die Erwartungen an die Rede eines Bauernverbandsvizepräsidenten – wobei Häme angesichts des selbsteingebrockten Brexits mit Sicherheit fehl am Platz ist.

Nachhaltigkeit der Inflationsbekämpfung zu opfern und mit noch mehr Saisonarbeitskräften aus Nepal und Indonesien Arbeitsmarktlücken stopfen, hört sich zwar nach einem Plan an, aber einem vielleicht eher kurzsichtigen. Steilvorlage für Emeritus Tim Lang, der gemeinhin als einer der klügsten Köpfe Englands gilt. Und auf einmal waren die Probleme unserer mit Linksverkehr gesegneten Berufskollegen auch unsere: Ohne Importe geht es auch in England nicht, hüben wie drüben führt falsche Ernährung zu Riesenkosten für die Gesundheitssysteme und konzentriert sich die Marktmacht im Lebensmitteleinzelhandel auf eine Handvoll anerkannt profitorientierter Unternehmen.

Und da die Engländer uns normalerweise einen Schritt voraus sind, wird auch in Deutschland die Lücke zwischen der Lebenserwartung privilegierter und weniger privilegierter Bevölkerungsschichten größer werden. Die nie erreichten mindestens Fünf am Tag werden zukünftig noch mehr zu einem Luxusproblem werden und auch bei uns zeigt sich: Die Tafeln sind nicht die Antwort und können das Problem auch nicht lösen. Die Politik ist gefragt, Lang wünschte sich einen 1943er Hot Springs Moment – auch wenn eigentlich in den letzten knapp achtzig Jahren genug Zeit gewesen wäre, der seinerzeit im Rahmen der UN Conference on Food and Agriculture aufgestellten Forderung nach einer „ausreichenden und angemessenen Versorgung eines jeden Menschen mit Nahrung“ nachzukommen.

Die 2008er Wirtschaftskrise und vieler ihrer Nachfahren und Vorläufer lassen grüßen

Tim JAcobsen

Wie verzwickt das Problem ist, zeigt Langs Vergleich inflationsbereinigter Konsumentenpreise: Möhren waren 2019 halb so teuer wie 1988, Zwiebeln um die Hälfte billiger. Das Preispendel schlug zwar in den Folgejahren in die Gegenrichtung aus und spätestens mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine wurde dann auch dem letzten klar, dass die Preise gewissermaßen durch die Decke gehen. Die Chance, folgerichtig die Erzeugerpreise neu zu tarieren, wurde jedoch verpasst, auch 2022 ließen sich Zwiebel und Möhren im Handel finden, die den Preisaufschwung seit 2019 irgendwie nicht mitbekommen hatten.

Die Antwort des LEHs lautete nämlich allgemeinhin, dass die Inflation „im Schulterschluss mit den Produzenten“ bekämpft werden müsse. Etwas, das Ged Futter dann eher als „auf den Schultern der Produzenten“ interpretierte. Der ehemalige Chefeinkäufer ist Experte für unlautere Wettbewerbspraktiken im Vereinigten Königreich und konnte jedem und jeder nur raten: Augen auf bei der Geschäftspartnerwahl. Es seien zwar unruhige Zeiten, doch – und da zeichnete sich dann auch endlich einmal eine lang erwartete gute Nachricht ab – werde die abnehmende Hand angesichts abnehmender Warenverfügbarkeit zukünftig weniger Spielraum haben und auf zuverlässige Partner angewiesen sein.

Damit ist allerdings noch nicht das Problem gelöst, dass in Krisenzeiten der Obst- und Gemüseverzehr leidet und das besonders in weniger begüterten Bevölkerungsschichten: mehr als ein Viertel aller Haushalte mit Kindern mussten in England in den letzten Monaten Mahlzeiten ausfallen lassen. Davon betroffen waren mehr als 4 Mio. Kinder. Knapp 10 Mio. Erwachsene mussten in den letzten Monaten auf die eine und andere Mahlzeit verzichten. Die Hälfte der Haushalte mit moderat bis niedrigen Einkommen machte Abstriche an den Obst- und Gemüsetheken, was zu einem Rückgang der Verkäufe um knapp ein Zehntel im Vergleich zur Prä-Covid-Zeit führte.

Schulgärten, wie von Joe Mann während der OCC angeregt, werden allerfrühestens mittelfristig für Veränderung sorgen. Deutlich schneller könnte es dann mit Simply Veg gehen, dem neuesten Streich des IPA Effectiveness-Preisträgers Dan Parker. Anders als noch in der ebenfalls sehr sehenswerten „Eat them to defeat them“-Kampagne hilft Veg Power dieses Mal dabei, mit Hilfe von simplyveg.org.uk preiswert und geschmack-voll die Klippen der „Permakrise“ ernährungstechnisch zu umschiffen. Wobei weder ausgewogen oder gesund noch regional oder saisonal im Vordergrund stehen, es klammheimlich aber dann doch tun.

Parker hatte sieben Jahre Vorlauf, die komplett privat finanzierte Kampagne rund zu bekommen. Zeit, die uns fehlt. Mit nur einem Bruchteil der einen Milliarde Euro, die als Anschubfinanzierung zur Förderung des Umbaus der Tierhaltung eingeplant sind, könnte hier Großes geschaffen werden.

Tim Jacobsen

Hoffnung in Sicht?

In den letzten Wochen gab es manchmal Tage, da habe ich mir beim zu Bett gehen gedacht: Eigentlich ganz gut, dass heute wieder einmal keiner eine Atombombe gezündet hat. So richtig Spaß macht das alles nicht mehr und da passt dann ganz gut zum allgemeinen Stimmungsbild, dass der allerletzte Coronaschreck Höllenhund heißt.

Zwar schreitet die Legalisierung von Marihuana mit Riesenschritten voran, ob das dann aber helfen wird, die Energiepreis-heiß-gelaufenen Gemüter zu kühlen, bleibt fraglich und so doppel-wummst Bazooka-Kanzler Scholz munter vor sich hin. Ähnlich wie beim Tankrabatt und dem Neuneuroticket geht die Bundesregierung irgendwie davon aus, dass wir irgendwann einmal wieder eingelassen werden ins Energiepreisparadies.

Fluktuationen an den Energiemärkten gab es zwar schon immer und wird es sicherlich auch in Zukunft geben, Prognosen, die eine Wiederannäherung an das Preisniveau vor dem 24.02.2022 vorhersagen, haben allerdings einen dermaßen hohen Seltenheitswert, dass sie begierig von den Medien aufgegriffen werden, da in der allgemeinen Aufregung auf alles geklickt wird, was nur ein Fünkchen Hoffnung verspricht.

Aber auch unsere zukünftigen Handelspartner sind nicht ohne und können rechnen. Ist dann der Oktober eigentlich viel zu warm, stauen sich die Schiffe an den LNG-Terminals und auf einmal sind zwar die Erdgaspreise sogar negativ, aber die Krise noch lange nicht vorbei.

Derweil wachsen die Schuldenberge und der Schatten, der auf zukünftige Generationen fällt, wird länger und länger. Und sollten 20 °C plus Anfang November eigentlich Alarmsignal genug sein, braucht es Sekundenkleber, befahrene Straßen, Tomatensuppe, Kartoffelbrei und Gemäldegalerien, um auf das eigentliche Drama, das sich gar nicht so im Verborgenen abspielt, aufmerksam zu machen.

Ein Teil des Hamburger Hafens geht an China; auch Schröder wischte seinerzeit ministerielle Bedenken beiseite und trug wesentlich zur jetzigen misslichen Lage bei. Parteikollegin Esken löscht ihr Twitterprofil, da ihr die missliebige Kommentierung zu viel wurde.

Noch einmal 192100 Schuss Munition, zwei Überwasserdrohnen, vier Panzerhaubitzen und zwei Mehrfachraketenwerfer gingen in der vorletzten Oktoberwoche an die Ukraine und selbst wenn der Vergleich hinken mag: Im September 2022 wurden weltweit allein rund 192700 Personenkraftwagen der Marke Mercedes-Benz verkauft, das macht mehr als 6400 Autos am Tag.

An der Antwort auf die Frage, wie das nun alles weitergehen soll, zerbrechen sich gerade so einige den Kopf: Steinmeier stimmte Deutschland zuletzt auf „raue Jahre“ ein, die Friedensdividende sei aufgebraucht – neben der unilateralen Abrüstung Deutschlands meinte er damit wahrscheinlich auch die Jahr für Jahr zuverlässig erzielten Exportrekordüberschüsse, die wir neben dem deutschen Ingenieursgeist vor allem auch Putins Billigenergie zu verdanken hatten.

Blenden wir einmal kurzfristige Effekte aus, die im Einzelfall tragische Schicksale mit sich bringen werden, gehen Agrarökonomen im Allgemeinen davon aus, dass der Einfluss des Krieges in der Ukraine auf das Wohl und Wehe der Landwirtschaft hierzulande überschaubar bleibt. Dies liegt vor allem daran, dass Agrarexporte weitgehend von den Sanktionen ausgenommen sind, der Welthandel also auch zukünftig Preisausschläge abpuffern wird und wir zudem kaum abhängig von ukrainischen Agrarexporten sind.

Der viel diskutierte Anbau von Ackerkulturen auf Stilllegungsflächen wird nach Ansicht der Experten alles andere als Kriegs-entscheidend sein – dies liegt nicht zuletzt aber auch in der Natur der Sache, da diese Flächen ja auch nicht umsonst stillgelegt wurden. Ob die EU-Hilfsfonds über kurzfristige Entlastung hinaus auch mittelfristig Wirkung zeigen, ist derzeit noch nicht abschätzbar. Wissenschaftlich belegbar ist dagegen ein mittelfristiges Einpendeln der Energiepreise auf etwa 20 % über dem Preisniveau vor der russischen Ukraineinvasion.

Und da gilt es dann doch einmal etwas genauer hinzuhören, schließlich steigen nicht nur die Diesel-, Benzin-, Gas- und Strompreise. Dünger, Agrarchemie und eigentlich so gut wie alles andere wird teurer. Allerdings werden den Analysten zufolge auch die Preise für Agrarprodukte und Nahrungsmittel steigen, was zum einen auf Produzentenseite zwar den Preisanstieg auffangen könnte, zum anderen aber über die Preisinflation bei Nahrungsmitteln dann negative Effekte auf die Wirtschaftsdaten haben wird.

Spannend wird sein, zu sehen welche Auswirkungen die EU-weit wenig einheitlichen Energiepreisbremsen auf den Ernährungssektor und damit auch den Gartenbau in den jeweiligen Ländern haben werden. Die Niederländer beispielsweise haben zumindest bisher relativ konsequent den Kurs verfolgt, über Preissignale Anreize zum Energiesparen setzen und zum Umstieg auf alternative Energiequellen animieren zu wollen. Wie lange der frischgebackene Agrarminister dort dem Druck standhält bleibt abzuwarten.

Verfahrener dann die Situation bei uns. So gut wie alle W-Fragen scheinen unbeantwortet, was das die drei Wohltaten-und-Entlastungspakete der Bundesregierung in Bezug auf den Gartenbau angeht: Wenn Topfbasilikum im Gewächshaus subventioniert werden soll, warum dann nicht auch Schnittrosen unter Glas? Der derzeit noch im Bundeslandwirtschaftsministerium tätige potentielle Nachfolger Kretschmanns bleibt, wie zuletzt auch beim Zukunftskongress in Berlin, in seinen Aussagen mehr als nur vage.

Vielleicht hat er aber auch nur die uns nachfolgenden Generationen im Blick. Das wäre ehrenhaft – nur sagen sollte er es halt dann auch.

Tim Jacobsen

Ausnahmezustand wird zum Normalzustand

In den Jahren seit dem Fall der Berliner Mauer war etwas in Vergessenheit geraten, dass fossile Energieträger nicht nur eine fantastische Möglichkeit sind, in Zeiten großer Nachfrage eine Menge Geld zu verdienen, sondern auch ein Furcht-einflößendes-Druckmittel gegenüber denjenigen, die davon gerne etwas abhaben möchten. Nicht unbedingt verwunderlich, spielt dann auch gegenwärtig Nachhaltigkeit nicht mehr die ganz große Rolle in der öffentlichen Diskussion und unser Wirtschaftsminister Robert Habeck muss nicht nur in den arabischen Golfstaaten eine Menge Kröten schlucken.

Selbst wenn der unterkomplexe Ratschlag lautet, nicht die eine Abhängigkeit durch die nächste zu ersetzen, sondern vielmehr die Bezugsquellen möglichst weit zu fächern, spielen neben Fragen aus der Abteilung wie-wollen-wir-leben und mit-wem-wollen-wir-Geschäfte-machen auch technische Aspekte eine große Rolle, wie die ganze LNG-Terminaldiskussion zeigt. Vor Beginn des Krieges kam etwa die Hälfte des nach Europa importierten Erdgases aus Russland, nur ein Zehntel des EU-Verbrauchs wurde innerhalb der EU gefördert. Ein Viertel der Rohölimporte stammte aus Russland, gleichbedeutend mit der Hälfte der russischen Rohölexporte und auch die Hälfte der Kohleeinfuhren stammte aus Russland.

Alternative Lieferländer stehen mit Nordafrika und der Golfregion zumindest der Theorie nach parat. Da wird es dann aber schnell hakelig. Eigentlich sind die Handelsbeziehungen Richtung Nordafrika im Allgemeinen wohl etabliert. Wenn dann aber Algerien, das auf sehr großen Erdgasvorkommen hockt, wegen Streitigkeiten in der Westsahara kein Gas mehr Richtung Marokko schickt, kann über die Maghreb-Europe-Pipeline auch keines mehr nach Spanien kommen. Um das Ganze dann noch etwas komplizierter zu machen, ist Gazprom im traditionell Russland-freundlichen Algerien auch an den dortigen Gasfeldern beteiligt.

Auch Libyen sitzt auf Gasreserven, die in verflüssigter und tiefgekühlter Form als Flüssiggas Europa erreichen. Mehr als zehn Jahre Bürgerkrieg haben jedoch auch in der Gasinfrastruktur Spuren hinterlassen, zumal die ostlibysche Bürgerkriegsfraktion wiederum auf Unterstützung aus Russland zählen kann. Ägypten hat erst kürzlich das vielleicht größte Gasfeld im Mittelmeerraum erschlossen, bis die technischen Voraussetzungen dafür geschaffen sind, die Exportkapazitäten zu erhöhen, wird es allerdings noch dauern, zumal der Energiebedarf im eigenen Land angesichts des Bevölkerungswachstums rasant steigt.

Der Zypernkonflikt erschwert einen Pipelinebau aus dem östlichen Mittelmeerraum Richtung Südeuropa. Die Türkei selbst leitet wiederum zum einen aserbaidschanisches Erdöl nach Griechenland und Italien, ist bezüglich ihrer eigenen Energieversorgung aber stark von Russland abhängig; könnte aber hinsichtlich der Nutzung fossiler Energieträger aus dem (irgendwann vielleicht wieder Sanktions-befreiten) Iran und Irak zukünftig eine gewichtige Rolle einnehmen.

Bleiben die Golfstaaten. Saudi-Arabien, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate könnten mit ihren sog. freien Kapazitäten den Ölpreis maßgeblich beeinflussen, die OPEC hielt jedoch erst an einem mit Russland vereinbarten Ölförderplan fest, um dann auf Druck der USA erst einer Erhöhung der Fördermenge zuzustimmen, um dann Mitte Oktober die Fördermenge erneut zu drosseln. Auch beim Erdgas gibt es ähnlich wie beim Erdöl mit OPEC+ ein Gas Exporting Countries Forum; LNG aus Katar geht vertraglich gebunden vornehmlich nach China und Japan, die  für Deutschland angekündigten Lieferungen haben den Umfang von wenigen Stunden Nord Stream unter Volllast.

Ungelöste regionale Konflikte gibt es auch im Nahen Osten zuhauf. Interessant ist, dass der weltweit größte Erdölexporteur Saudi-Arabien bis 2030 die Hälfte seiner Energie aus erneuerbaren Quellen gewinnen will. Die Vereinigten Arabischen Emirate haben ähnliche Pläne, südlich von Dubai entsteht derzeit auf 77 km2 das größte Solarkraftwerk der Welt. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate haben sich dann auch beide gleichermaßen auf die Fahnen geschrieben, auf den Energiemärkten der Zukunft mit Wasserstoffexporten weiterhin an führender Stelle mitmischen zu wollen.

Geht es um kurzfristigen Ersatz russischen Erdgases, fehlen weitgehend die technischen Voraussetzungen, Gas kostengünstig aus dem Nahen Osten nach Europa schaffen zu können – von all den mehr oder weniger weit reichenden Implikationen, die damit verbunden wären, einmal abgesehen. Zwar standen vor dem Beginn des russischen Invasionskriegs ähnlich wie in der Golfregion auch in Europa die Zeichen auf Energiewende und wenn sich auch diese Dynamik sich seit dem 24. Februar 2022 noch einmal beschleunigt hat, hat der Energieplan der Europäischen Kommission Lücken, die sich nur mit Hilfe der Golfstaaten schließen lassen werden. Langfristig wird es ohne die Golfstaaten nicht gehen können.

Ob und wie weit diese Entwicklungen von Russland bei der Entscheidung zur Invasion der Ukraine bereits mit-eingeplant waren, wird sich wahrscheinlich nie zur Gänze klären lassen. Analysten beobachten allerdings schon seit längerem einen Ausbau russischer Energiebeziehungen Richtung pazifischer Raum. Ob das Kalkül aufgeht, muss die Zukunft zeigen – Fakt ist: China importiert unbeirrt von den westlichen Sanktionen munter weiter Öl, Kohle und Gas aus Russland (wobei wir Deutschen die letzten sind, die deswegen ein Fass aufmachen sollten). Die lange gemeinsame Grenze verbindet, dennoch stammt der Großteil der chinesischen Energieimporte nicht aus Russland, auch wenn die beiden Länder neben der Power of Siberia auch eine Ölpipeline durch Kasachstan sowie die Ostsibirien-Pazifik-Pipeline verbindet.

Auch Japan, Südkorea und Vietnam sind dankbare Abnehmer russischen Flüssiggases. Malaysia, Indonesien und Australien sind die einzigen Nettoenergieexporteure im asiatisch-pazifischen Raum. Malaysia ist nicht nur der fünftgrößte Flüssiggasproduzent der Welt, das Land liegt an der Straße von Malakka zudem geostrategisch äußerst günstig. Indonesien ist der weltweit größte Kohleexporteur, ein Großteil der gegenwärtig erzielten Mehrerlöse wird dazu verwendet, den Energieverbrauch im eigenen Land zu subventionieren. Indien leidet stark unter den Energiepreissteigerungen, die gewissermaßen ungefiltert an die Bevölkerung weitergegeben werden. Russisches Öl zu Sonderkonditionen wird als einer der Auswege gesehen, den Energiehunger des aufstrebenden Subkontinents zu stillen.

Eines der europäischen Armenhäuser, Rumänien, könnte aus der Energiekrise als einer der Sieger hervorgehen: Im Schwarzen Meer werden eine Reihe nicht erschlossener Ressourcen vermutet und auch das Potenzial für Strom aus regenerativen Quellen ist noch lange nicht ausgereizt. Schon jetzt ist Rumänien zweitgrößter Gasproduzent in der EU. Ob und wie Deutschland seine eigenen Reserven nutzen und statt in den USA gefracktes Gas gewissermaßen ein Produkt aus dem Regionalfenster einspeisen wird, hängt vermutlich vom Verlauf des Winters, den Preisentwicklungen auf den Weltmärkten und dem Füllstand der Gasspeicher spätestens im Herbst 2023 ab.

Gehen erst einmal flächendeckend die Lichter aus, wird auch niemand mehr Details der Laufzeitverlängerung diskutieren wollen – auch wenn zumindest dieses Szenario den Experten zufolge derzeit eher unwahrscheinlich erscheint. Keinesfalls vergessen werden darf aber auch: Russland ist für viele Länder nicht nur aus fossilenergetischen Gründen ein interessanter Partner, sondern auch als Lieferant nicht fossiler Rohstoffe.

Tim Jacobsen

Eine Krise kommt selten allein

Luxusprodukte sind eine Welt für sich: Wer sich schon einmal auf die Suche nach einem möglicherweise Generationen überspannenden Erbstück gemacht hat, wird im Uhrenladen erst einmal belehrt worden sein, dass diese Dinger zum Gegenwert eines Mittelklassewagens eben keine Mitnahmeartikel sind, sondern die Möglichkeit zum Erwerb eines solchen Schmuckstücks überhaupt erst nach dem Absitzen einer Warteliste in Reichweite kommt.

Außer vielleicht, Sie sind Erling Haaland und versüßen ihren ehemaligen Arbeitskollegen den eigenen Weggang mit einer in tickende Armbänder umgesetzten halben Million. Als Beschenkter haben Sie dann allerdings das kleine Problem, dass Ihr Name eingraviert ist, was den Wiederverkaufswert unter Umständen schmälert – während Sie als Otto Normalverbraucher mit dem Verlassen des Uhrenladens ein sehr gutes Geschäft gemacht haben, schließlich liegt der Straßenpreis schnell beim Doppelten dessen, was auf der Preisliste ausgewiesen ist.

War Mangel über viele Jahre im wahrsten Sinne des Wortes eher ein Luxusproblem, hat uns der 24. Februar vor Augen geführt, dass wir uns wohl in unserer Wohlfahrtsblase ein bisschen zu wohl gefühlt haben. Die deutsche Wirtschaft ist keinesfalls so krisenfest, wie uns suggeriert wurde – und das nicht nur bei der Versorgung mit fossilen Brennstoffen.

Praktisch war es ja: wir haben eingekauft, was wir brauchten, und der billigste Anbieter bekam den Zuschlag. Dass damit allerdings erhebliche Risiken einhergingen, wurde geflissentlich ausgeblendet. Corona bescherte uns, ohne, dass wir es so richtig gemerkt hätten, dann einen Vorgeschmack auf das, was das leichtfertige Vertrauen auf der-Markt-wird-es-schon-richten auch bedeuten kann. Auf einmal gingen in einem der reichsten Länder der Welt Medizinprodukte zur Neige.

Die Invasion der Ukraine öffnete dann in gewisser Weise die Büchse der Pandora und offenbarte die Systemrisiken vieler Lieferketten. Das immer wieder geforderte Diversifizieren ist dabei nicht in jedem Fall zielführend: Deutschland bezog bis vor kurzem gut ein Fünftel seines Rohaluminiums aus Russland, ein etwas kleineres Fünftel trugen die Niederländer bei. Nur bekamen die wiederum ihr Aluminum, Sie ahnen es bereits, aus Russland.

Japan hat, was seine Rohstoffarmut angeht, ähnlich wenig zu bieten wie wir – stellt sich aber irgendwie schlauer an. Hinter dem etwas sperrigen Wirtschaftssicherheitsgesetz verbirgt sich die Erkenntnis, dass sich wirtschaftliche Stärke und nationale Sicherheit in Zukunft noch mehr als heutzutage bereits gegenseitig bedingen.

Schnell ist man dann bei den Technologien, ohne die es keine Energiewende geben wird – und die es dann gewissermaßen beide ohne Bor, Graphit, Kobalt, Lithium, Magnesium, Niob, Silicium, Titan oder andere seltene Erden und Metalle nicht geben wird. Nur ist die Anzahl der Anbieter dieser so genannten kritischen Rohstoffe eher überschaubar und nicht alle der Herkunftsländer entsprechen unserem Verständnis von Menschenrechten.

Würde China den Rohstoff-Hahn in Folge eines was-auch-immers zudrehen, brächte dies aktuellen Schätzungen zufolge Halb-Industriedeutschland zum Erliegen. Knapp neun Zehntel des weltweit gehandelten Magnesiums stammen von dort, ohne Magnesium keine Autos, Flugzeuge und Elektronikartikel.

Bei Penicillin hat China gemeinsam mit Indien einen ähnlich großen Marktanteil, bei Arzneiwirkstoffen insgesamt liegt er marginal niedriger. Neon wurde knapp, als die Stahlwerke in Mariupol und Odessa nicht mehr produzieren konnten. Zwar werden unter der Sächsischen Schweiz bedeutende Vorkommen an seltenen Erden und Metallen, bis damit China die Stirn geboten werden kann, wird aber noch viel Wasser die Elbe hinabfließen.

Es bleibt sportlich.

Tim Jacobsen

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