"Now, here, you see, it takes all the running you can do, to keep in the same place. If you want to get somewhere else, you must run at least twice as fast as that!"

Kategorie: Europa (Seite 3 von 9)

Die Herausforderungen ähneln sich – die Lösungen auch

Es gab mit Sicherheit den einen und anderen, der beim Uiendag von pflanzenbaulich durchaus möglichen Erträgen weit über 100 t pro Hektar träumte – aber selbst die Gutgläubigsten wurden ziemlich schnell von der Realität der staubigen Äcker rundum die Versuchsstation Rusthoeve eingeholt.

So mancher Zwiebelanbauer im ehemaligen Herzen des niederländischen Zwiebelanbaus wird froh sein, wenn er überhaupt eine um den Faktor zehn geringere Ernte einfahren kann und es ist nicht so, dass 2022 das eine schlechte Jahr ist, dass auch einmal dabei sein kann: In vier der letzten fünf Jahre war die Situation ähnlich.

So wandelte sich im Laufe der Jahre dann auch der Fokus des Zwiebeltags von einem eher mechanistisch geprägten Weltbild hin zu einem eher systemischen Naturverständnis. Statt zu lamen- und diskutieren, wie sich der eine Wirkstoff mit dem anderen ersetzen lassen könnte, wurde zunehmend das digitale schwarz und weiß um das Regenbogenspektrum erweitert.

Als mit der Aufhebung der Produktschappen ein Zwiebel-Aus für Forschung und Wissenschaft drohte, organisierte sich der Sektor kurzerhand selbst und stellte mit Uireka Beeindruckendes auf die Beine. Und so könnte durchaus etwas dran sein, dass sich von der vollkommen zu Unrecht als altbacken verschrienen Zwiebel eine Menge lernen lässt.

Statt Ertragsoptimierung stand Ende August beim Zwiebeltag das Thema Innovation im Fokus. Für sich genommen ähnlich aufregend wie Nachhaltigkeit, füllte sich der Begriff aber schnell mit Leben angesichts der Herausforderungen, die mehr oder weniger als gesetzt galten: mehr Hitze, weniger Wasser, Versalzung der Böden.

Dazu größerer und vor allem auch anderer Insektendruck – und generell aufgrund des Dauerstresses für Schaderreger äußerst empfängliche Kulturen. Das Ganze unter gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die der Landwirtschaft nicht immer nur gewogen sind. Als Schlagworte, die zeigen, dass die Themen längst größer als der Zwiebelanbau allein sind, fielen u.a. Nullemission und Biodiversität.

In der Geschichte des Zwiebeltags gab es dann auch noch nie so viele Aussteller, die Lösungen jenseits der klassischen Agrarchemie zeigten, sei es in der mechanischen Unkrautbekämpfung, den präventiv wirksamen Biostimulanzien, dem Risikomanagement oder dem Einsatz von Sensorik und Prognosemodellen.

Dem Zwiebeltag geht traditionell das Zwiebelfrühstück voraus, eine Art informelles Treffen, das Fieberthermometer-gleich die Stimmung in der Branche wiederspiegelt. Dieses Jahr hangelte sich die Diskussion an einer Reihe Statements entlang, die Meinungsbild-technisch leicht erkennbar mit dem Aufzeigen einer grünen oder roten Karte entweder unterstützt oder abgelehnt werden konnten.

Die Anwesenden waren größtenteils überzeugt davon, dass es gelingen wird, die jetzt noch im Zwiebelanbau durchschnittlich ausgebrachten 13 kg Wirkstoff bis zum Jahr 2030 halbieren zu können. Sportlich dann auch das nächste Thema: bei der Frage, ob die niederländische Zwiebel auch im Jahr 2030 noch ein bedeutender Spieler auf dem Weltmarkt sein wird, schieden sich die Geister.

Half im ersten Fall also das Vertrauen auf die eigene Innovationskraft dabei, sich im Glauben bestärkt zu fühlen, auch über regulatorische Hürden hinweg zu kommen, vertraute kaum einer Anwesenden darauf, dass der derzeit noch vorhandene Innovationsvorsprung die Vormachtstellung der niederländischen Zwiebeln auf ewig sichern werde.

Sind Produktionskosten von 25 ct / kg und mehr heutzutage zwar schon in Dürre geplagten Landesteilen an der Tagesordnung, könnten sie bis 2030 angesichts der allgemeinen Kostenentwicklung auch für Vollertragsjahre Standard werden und das Gefüge auf dem Weltmarkt nachhaltig verschieben. Zudem ja auch nicht einmal jede zehnte Zwiebel in den Export geht, regionale Produktion also eher die Regel als die Ausnahme ist.

Angesichts dieser vielfältig komplexen Herausforderungen stellt sich dann fast automatisch die Frage, ob sich die eigene Marktposition anders als mit neuen Business-Konzepten und Sektor-übergreifenden Innovationen sichern lässt, was allgemein verneint wurde. Und da war dann das Thema Nachhaltigkeit auf einmal auch nicht mehr weit weg – um die Beschäftigung mit Product Environmental Footprint Category Rules wird mittelfristig niemand hinwegkommen.

An diesem Punkt gab es dann aber erst einmal Entwarnung: Zwar entfällt knapp die Hälfte des ökologischen Fußabdrucks eines aus den Niederlanden nach Indonesien exportierten Kilogramms Zwiebeln auf den Anbau, ein knappes Viertel auf den Transport und rund ein Zehntel auf die Lagerung, dennoch macht die hohe Anbaueffizienz das in unseren Breiten erzeugte Produkt zu mindest aus ökologischer Sicht konkurrenzfähig.

Dass es aus Sicht der Teilnehmerinnen und Teilnehmer für eine florierende Zukunft mehr brauchen werde, bewies die große Unterstützung, die die letzte These fand: Landwirtschaft, wie wir sie heute kennen, hat ihre beste Zeit gehabt und wird auf absehbare Zeit verschwinden. Anpassungen sind ein Muss und keine Option. Und auf einmal klang all das, was auf dem Uiendag in Colijnsplaat gezeigt wurde, nicht mehr nach Zukunftsmusik sondern nach einem Ausblick in eben jene Zukunft.

Auch wenn es zuweilen mühsam erscheint, sich aus der eigenen Komfortzone heraus zu bewegen, gilt seit dem 24. Februar mehr denn je, dass der Status Quo unweigerlich im gegenwärtigen Strudel der Ereignisse untergehen wird und die Zukunft denen gehört, die sich aufmachen.

Oder wie Jonas Deichmann Mitte August auf dem Möhrenforum erklärte: jede Weltumrundung beginnt mit einem ersten Schritt. Und da einmal um die Welt ja nur schwer vorstellbar ist, hilft es, die einzelnen Etappen gedanklich kleinzuhalten – und vor allem auch „vielleicht“ und „wenn alles gut geht“ aus dem Wortschatz zu streichen.

Tim Jacobsen

Die weiteren Aussichten: teurer und teurer

Herauszufinden, ob jemand gerade noch unter 50 Jahre alt ist oder darüber, ist relativ einfach, guckt man sich Fotoalben aus der jeweiligen Kindheit an. Diejenigen von uns, die noch relativ weit vorne Aufnahmen von sich auf Auto-leeren Autobahnen haben, kamen mit Sicherheit vor dem 16. Dezember 1973 auf die Welt. Es waren streng genommen nur drei Sonntage, die in der Rückbetrachtung den Mythos der autofreien Sonntage schufen. Der Jom Kippurkrieg war Geschichte, auf den Ölmärkten entspannte sich die Lage, angesichts der nahenden Feiertage hieß es schnell wieder Auto-Bahn frei. Auch wenn die Ölpreise seitdem streng genommen weitgehend unbemerkt kontinuierlich stiegen und dieser sich wie ein Naturgesetz anfühlende Preisanstieg niemanden ernsthaft vom Autofahren abgehalten hätte – mitunter eines der Probleme, das gewissermaßen Öl ins Feuer der gegenwärtigen Energiekrise gießt.

Denn so viel ist klar: nur Preisdruck sorgt dafür, dass mittel- und langfristig in sparsame Technologien investiert wird. Und wenn nun derzeit die Erwartung vorherrscht, dass die Gaspreise womöglich bald wieder sinken, verhindert das Technologiesprünge – auch wenn sich die Experten streng genommen nur darüber streiten, wie hoch der Faktor ist, um den Energie teurer wird und ob nun Erdgas oder Elektrizität die größten Sprünge machen wird. Der Tankrabatt setzte in dem Zusammenhang wahrscheinlich auch das falsche Zeichen, suggerierte er doch, dass nach den drei Monaten alles wieder beim Alten sein sollte. Streng genommen setzen auch die Verzichtsappelle den falschen Akzent, besonders in Kombination mit den üblichen Abrechnungsmodalitäten beim Erdgasbezug. Wird beim Tanken jedes Mal aufs Neue die Preisentwicklung offensichtlich, kommt beim Erdgas die Erkenntnis erst mit der Erhöhung des Abschlages.

Der autofreie Sonntag und die Sparappelle, die Deutschlands Reaktion auf die Drosselung der Energieexporte aus arabischen Ländern war, die wiederum die Reaktion auf die gar nicht so heimlichen Waffenlieferungen des Westens an Israel war, welches kurz zuvor von Ägypten und Syrien überfallen worden war, senkten den Benzinverbrauch zwar kurzfristig, aber leider auch nur für äußerst kurze Zeit, um rund ein Zehntel. Ein bisschen kommt dann „ewig grüßt das Murmeltier“ Stimmung auf: Auch 1973 stand Deutschland im Verdacht, unter Rücksicht auf eigene Wirtschaftsinteresse die gemeinsame Linie des Westens eher kurvenförmig zu interpretieren. Auch 1973 war eines der Hauptprobleme, dass der Nachfrage in Deutschland ein wenig diversifiziertes Angebot gegenüberstand.

Eine spannende Frage, die in der gegenwärtigen Embargodiskussion nur selten diskutiert wird, ist, ob wir denn nicht auch beim Nichtbezug des Erdgases aufgrund von so genannten Take-or-Pay-Regeln trotzdem weiterbezahlen müssten. Käme es zum Importverbot unsererseits, wäre entscheidend, ob die Force-Majeure-Klausel in den Lieferverträgen auch hoheitliche Maßnahmen umfasst. Falls nicht, würde bei Vertragslaufzeiten bis teilweise zum Jahr 2036 noch viel Geld über den Dnepr Richtung Russland fließen. Eine weitere spannende Frage ist, wo im Fall der Fälle als erstes der Hahn zugedreht wird. Glashersteller berichten, dass sie ihren Gasbedarf allenfalls um die Hälfte senken können, wollen sie eine Zerstörung ihrer Schmelzwannen verhindern. Und was passiert, wenn BASF in Ludwigshafen keine Ausgangsstoffe mehr produziert, Thyssenkrupp keinen Stahl mehr liefert?

Es muss aber auch nicht immer an den offensichtlichen Dingen scheitern: was, wenn aufgrund von Energieengpässen kein Papier und Verpackungsmaterial mehr produziert werden kann, wenn sich zwar grundsätzlich die Fließbänder weiterdrehen, aber schlicht und einfach die Windschutzscheiben fehlen? Auch die Meinungen darüber, wie und ob überhaupt irgendetwas abgeschaltet werden kann, gehen auseinander. Wenn der Weiterbezug nicht über die Verteilstationen abgeschaltet werden kann, wer wird die Schieber auf den Betriebsgeländen bedienen? Und wer möchte der Schuldige daran sein, dass es Zeit, Kosten und Mühen bedeutet, nach einem Druckabfall im Gasnetz das System wieder ans Laufen zu bringen?

Ebenfalls ungeklärt, wenn auch angesichts der Bilder und Berichte aus der Ukraine etwas zynisch, ist die Frage, was wir im Embargofall als Gegenleistung für eine mittelschwere Rezession bekämen: die unsichere Aussicht auf eine erhoffte Schwächung Russlands? Und so ist es kein Wunder, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften an diesem Punkt an einem Strang ziehen und betonen, dass die Embargofolgen in Deutschland stärker spürbar wären als in Russland – und da ist von all den anderen denkbaren Veränderungen in unserem Zusammenleben noch nicht einmal die Rede. Und schon geht es nicht mehr nur um Frieren für den Frieden, sondern ziemlich genau ums Eingemachte. Und dann ist da schon etwas dran, dass wir die ganze Fußball-WM-Empörung vergessen sollten, um dann den einen Despoten gegen den nächsten auszutauschen, um nur ja nicht im Winter kalt duschen zu müssen, schließlich ist die Vergrößerung des Lieferantenspektrums das Gebot der Stunde.

An der Stelle wird es nun wieder ein bisschen tricky: Spanien zum Beispiel hat frühzeitig auf LNG aus Nordafrika gesetzt, ist nur leider Pipeline-technisch schlecht angebunden an das resteuropäische Netz. Weshalb das auch weiterhin gut versorgte Spanien nicht einsieht, warum es sich den Sparplänen aus Brüssel beugen sollte. Und die Spanier sind mit dieser Idee beileibe nicht die einzigen. Ganz einsichtig ist es ja auch nicht, warum wir Frackinggas importieren wollen, unsere eigenen Vorkommen aber auf gut kolonialistisch lieber Vorkommen sein lassen. Zwar hatten unsere Bierbrauer Angst um die Güte ihres Wassers, werden aber letztendlich nicht den Ausschlag gegeben haben. Die Diskussion um die Förderplattform zwischen Borkum und Schiermonnikoog spricht Bände. Stattdessen werden nun von Eemshaven bis Brunsbüttel vier LNG-Terminals geplant. Geplant war schon einmal eines. Und das kam so:

Vor etwa 200 Jahren wurden die ersten Lampen mit Gas betrieben, in Berlin beleuchten immer noch mehr als 20000 Gaslampen das Straßenbild. Das so genannte Stadtgas fiel als Abfallprodukt in den Kokereien ab. Erst mit der Krise der Steinkohle in den fünfziger Jahren und der Entdeckung des Groninger Gasfeldes sowie weiterer Vorkommen im Nordwesten Deutschlands wurde Erdgas als Energieträger zunehmend beliebter. Aus dieser Zeit stammt auch die Bindung des Gaspreises an den Ölpreis: die Wahl des Energieträgers sollte nicht über die Profitabilität entscheiden. Der Streit darüber, wie hoch der Gaspreis während der zweiten Ölkrise denn tatsächlich sein muss, führte zu einer Abwendung von den Niederlanden und einer Hinwendung zu Norwegen und in noch viel größerem Maße der Sowjetunion. Mit dem Kreml hatte Deutschland schon Ende der fünfziger Jahre ein aus westlicher Bündnissicht delikates Geschäft eingefädelt und lieferte Stahlrohre  zur Erschließung westsibirischer Gasvorkommen.

Der Erdgas-Röhren-Vertrag sah Ende der sechziger Jahre dann weitere Stahlrohrlieferungen vor, im Gegenzug floss 1973 erstmals russisches Erdgas in das deutsche Pipelinenetz. Auch Privathaushalte sahen die Vorteile des Energieträgers Erdgas, was wiederum eine Speicherung des Erdgases im verbrauchsarmen Sommer für den verbrauchsstarken Winter nahelegte: Salzkavernen und ehemalige Lagerstätten waren die offensichtlichen Kandidaten für die Einlagerung preislich vorteilhaften Gases während der Sommermonate. Zunehmend erschöpfte Vorkommen in Deutschland und den Niederlanden führten nicht unwesentlich zu einer immer stärkeren Abhängigkeit von Russland. Und an diesem Punkt kommt wieder der Chemiekonzern aus Ludwigshafen ins Spiel. Da die Norweger keine Lust hatten, es sich mit der marktbeherrschenden Ruhrgas zu verderben, machte BASF im Herbst 1990 mit einem zwischen Wintershall und Gazprom unterzeichneten Abkommen den Seitenwechsel offensichtlich. Mitte der Neunziger Jahre erhielt Gazprom über die Beteiligung an Wingas erstmals auch die Kontrolle über Vertriebsstrukturen in Deutschland.

„Selber schuld. Nur was hilft´s?“

Tim Jacobsen

Es ist müßig, nachzuvollziehen, wer in den Folgejahren alles eine Diversifizierung der Bezugsquellen anmahnte und auch höhere Speichermengen forderte, Fakt ist, dass auch die Monopolkommission von Gerhard Schröder ignoriert wurde. Das Gazprom, Ruhrgas und Wintershall-Gemeinschaftsprojekt Nordstream 1 folgte, damit wurden Polen und die Ukraine umgangen. Schröders  Tätigkeit für die Pipelinegesellschaft war der Auftakt zu einer Reihe weiterer Posten bei staatlichen russischen Energiekonzernen. 2011 wurde Nordstream 1 in Betrieb genommen, zeitgleich begann Nordstream 2 Form anzunehmen, auch wenn der außenpolitische Ton Moskaus immer rauer und schärfer wurde. 2014 – und damit kurz nach der Annexion der Krim durch Russland – stimmte das Bundeswirtschaftsministerium dem Verkauf deutscher Gasspeicher an einen russischen Oligarchen zu. Ein Jahr später gab es ministeriellerseits keine Einwände, als die beiden großen deutschen Gasspeicher im Tauschgeschäft gegen Aktienanteile ebenfalls in russischen Besitz gerieten. Im Jahr 2021 waren die Speicher dann erstmals nicht in gewohnter Weise gefüllt und Nordstream 2 fertig.

Ruhrgas, das größte Unternehmen der deutschen Gaswirtschaft hatte von 1979 bis 2009 eine Lizenz zur Errichtung eines Gasterminals für den Import von LNG in Brunsbüttel, nutzte diese aber nicht und setzte dagegen vor allem nach der Übernahme durch E.ON auf Russland. Die Umstände, die den Zusammenschluss von E.ON und Ruhrgas vor ziemlich genau zwanzig Jahren begleiteten, lesen sich auch heute noch wie ein Wirtschaftskrimi und waren wohl Ausdruck eines Verständnisses von Wettbewerbspolitik als einer Gleichschaltung von Unternehmens- und Staatsinteressen. Letztendlich wurde damit aber unsere energiepolitische Abhängigkeit von Russland zementiert. 2015 wurde die ehemalige E.ON Ruhrgas nach Umwandlungs- und Abspaltungsmaßnahmen auf Uniper umfirmiert. Aufgrund der Diskrepanz zwischen Ein- und Verkaufspreisen kam Uniper nach dem 24. Februar 2022 in äußerst unruhige Fahrwasser, war aufgrund der großen Marktbedeutung allerdings systemrelevant und wurde unlängst mit einem Milliardenhilfspaket gerettet.

Tim Jacobsen

Die Welt dreht sich weiter

Nachdem im Frühjahr erst die Gasspeicherfüllstandsanzeige den Inzidenzwert als Gradmesser für das Wohlbefinden unserer Gesellschaft abgelöst hatte, rückte das Infektionsgeschehen zuletzt wieder stärker in den Fokus, um dann letztendlich mit der staatlich verordneten Aufgabe einer planmäßigen Erhebung des Pandemiegeschehens im Aufmerksamkeitsgeheische wieder in die zweite Reihe verbannt zu werden. Der ungewohnte Anblick von Militärgerät auf deutschen Autobahnen und die vielen Kennzeichen, bei denen die blaugelben Fahnen keinen Sympathieausdruck sondern Nationalzugehörigkeit bedeuten, machten aber auch Menschen, die sonst in der Zeitung mit den großen Buchstaben allenfalls die Badenixen zur Kenntnis nehmen, unmissverständlich klar, dass derzeit streng genommen kein Stein auf dem Stein bleibt, in der Ukraine wortwörtlich und bei uns im übertragenen Sinne.

Gut, dass es Veranstaltungen wie die des FAZ-Kongresses gibt, die bei der Einordnung des Weltgeschehens im Kleinen wie im Großen helfen: Da ging es dann um Fragen wie die, ob städtische Bühnen noch zeitgemäß sind – was eifrig bejaht wurde – und die, ob es für den automobilisierten Individualverkehr eine Zukunft gibt – was mit Hilfe eines evolutions-ähnlichen Erklärungskonstruktes ebenfalls Zustimmung fand. Die Diskussion, wem der Platz im öffentlichen Raum eigentlich gehört, war dann nicht weit weg, was fast zwangsläufig die Überlegung nahelegte: Muss der eigentlich so aussehen? Schnell wurde klar, dass Bürgerbeteiligung kein Garant für städtebauliche Ästhetik sein kann und auch sonst eher mit Vorsicht genossen werden sollte.

Demografischem Wandel und Fachkräftemangel könnte mit Hilfe besserer beruflicher Orientierung begegnet werden und auch an dieser Stelle wurde deutlich, dass das eine zu tun immer auch dazu führt, das andere lassen zu müssen. Zufällig kehrte auch noch just am Tag des Kongresses der Mann aus dem Weltall zurück, der über Monate hinweg wohl Deutschlands exklusivsten Arbeitsplatz innehatte. Matthias Maurer hat die in letzter Zeit spürbare Weltraumeuphorie zwar nicht begründet, diente aber als Zielscheibe derer, die gerne das Weltraumforschungsgeld zur Lösung irdischer Probleme investiert sehen würden. Einmal mehr wurden Bedenken damit entkräftet, dass in der Diskussion von Details schnell der Blick aufs das bedeutsamere Große und Ganze verloren gehe.

Zu Beginn des Kongresses zugeschaltet war EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, nach Maurer vielleicht die Nummer zwei der exklusivsten Arbeitsplätze, die Deutschland zu vergeben hat. Bleibt zu hoffen, dass der markige Spruch von den Autokraten dieser Welt, die wissen müssten, dass die Demokratien ihre Werte verteidigen, nicht mit der Zeit an Eindeutigkeit verliert. Bundesbankpräsident Joachim Nagel versprach, dass wir mittelfristig bei zwei Prozent Inflation herauskommen könnten und verwies darauf, dass es in der Geschichte noch nie Phasen gegeben hätte, die für die Geldpolitik einfach gewesen wären. Anders als die Währungsunionsbegeisterung Nagels dann der Tipp zur Geldpolitik im familiären Bereich von Kolumnist Volker Looman: Ein gemeinsames Konto für gemeinsame Aufgaben und darüber hinaus jede und jeder für sich selbst.

Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, betonte, dass unser politisches und rechtliches System während der Pandemie zu keinem Zeitpunkt in Gefahr war. Der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, mahnte bereits im Mai, dass die Zahlen im Winter wieder deutlich ansteigen werden. Die gute Nachricht dabei war, dass viele Menschen vollständig geimpft sind, die schlechte, dass noch zahlreiche Menschen an der Pandemie sterben werden – und neben den Ungeimpften hauptsächlich Menschen mit einem schlappen Immunsystem die Leidtragenden sein werden. Auch das Gutachten des Corona-Sachverständigenrats zur Coronapolitik der vergangenen Jahre ziemlich genau acht Wochen später wird daran wenig ändern.

Tim Jacobsen

Deutsche Erdbeer- und Spargelproduktion am Scheideweg

Zwei Dinge vorab: niemand wird in Deutschland gezwungen, Erdbeeren oder Spargel zu produzieren. Auch ein eventuell vorhandener elterlicher Betrieb bringt für die nachfolgende Generation keine Übernahmezwangsläufigkeit mit sich. So gesehen spielen die Menschen, um die es im folgenden Text gehen wird, dieses Spiel im Prinzip freiwillig mit. Aber leider geht es nicht ohne ein „im Prinzip“ an dieser Stelle. Im Laufe der Jahre haben sich nicht nur die Bezugsgrößen stark verändert, die steigenden Umsätze brachten auch neue Abhängigkeiten mit sich.

Wir Verbraucher haben es selbst in der Hand

Tim Jacobsen

Ein bisschen waren es die wilden Nachwendejahre, die den Ball ins Rollen brachten. Auf einmal gab es auf auch im Wohlstands-verwöhnten Westen Deutschlands wieder genug Menschen, die bereit waren, für relativ wenig Geld im wahrsten Sinne des Wortes den Buckel krumm zu machen. Dies führte im Gartenbau genauso wie in vielen anderen Bereichen dazu, dass sich vollkommen neue Geschäftsmodelle etablierten. Das ganze Bündelgemüse gehört zu den Senkrechtstartern dieser Zeit, auch der fast kometenhafte Anstieg der Anbauflächen für Erdbeeren und Spargel sind ein Erbe des Endes des Kalten Krieges.

Mit den Anbauflächen stiegen die Erntemengen und irgendwann musste es zwangsläufig an einen Punkt kommen, ab dem sich mit „normal“ kaum mehr Geld verdienen ließ. Es wurde aufgerüstet; die über weite Strecken des 20. Jahrhunderts gültige Regel, dass erst nach dem letzten Spargel der erste Erdbeerkuchen auf den Tisch kommt, hatte da schon längst ausgedient. War beim Spargel Folienabdeckung bald ein Muss, wurden daraus schnell perfekt klimatisierte Minitunnel, auf Wunsch Abwärme-beheizt.

Auch bei den Erdbeeren war das Stroh zwischen den Reihen nur der Schritt dahin, Erdbeeren in praktischer Pflückaugenhöhe in einer Art Regenrinne unter Plastikbedachung zu kultivieren. Vorläufig letzter Höhepunkt ist die Kultur von Erdbeeren auf Steinwolle in Gewächshäusern mit Firsthöhen von sechs Metern oder mehr. So mancher Unterglastomatenanbauer mit dadurch quasi offiziell ausgewiesener Angst vor der nächsten Energiekostenrechnung geht diesen Weg – auch wenn es in diesen Fällen kaum um Gewinnmaximierung gehen kann, sondern höchstwahrscheinlich eher um Verlustminimierung.

Gleichzeitig ist eine ganze Industrie rund um den Anbau dieser Kulturen entstanden. Die Klärung der Frage, ob denn letztendlich nicht auch deshalb immer mehr produziert werden muss, um sich all die Hilfsmittel, die dies ermöglichen, überhaupt leisten zu können, ähnelt dem Henne-Ei Problem, spielt aber im Sinne von immer mehr verfügbarer Ware auch keine große Rolle. Der Lebensmitteleinzelhandel fand das prima, schließlich ist an einem Schälchen Erdbeeren deutlich mehr verdient als an einem Sack Kartoffeln.

Die Verbraucher fanden das auch gut, die Wirtschaftskrisen fanden woanders statt und Sahneerdbeeren zauberten auch in den letzten Hinterhof noch ein kleines bisschen Wimbledonflair. Dass sich in Deutschland mit Bleichspargel, einem Produkt, das in gar nicht wenigen europäischen Ländern kulinarisch und auch sonst überhaupt eigentlich keine Rolle spielt, Geld verdienen lässt, sprach sich schnell herum.

Italien, Griechenland und Spanien waren nur die Vorreiter einer Entwicklung, die mit Hilfe von Technologie, zumindest fragwürdiger Nachhaltigkeit und billigen Arbeitskräften Spargel aus Südamerika zur Weihnachtszeit zu Preisen in den Kühltheken liegen lässt, der von einheimischer Ware selbst zu Zeiten größtem Angebotsüberhangs selten unterschritten wird. Dass die Ware dann nicht wie im einfachsten Fall gewissermaßen vom Acker direkt im Kochtopf landet, sondern weiter gereist ist, als viele es von uns jemals tun werden, spielt in der Dauerverfügbarkeit von so gut wie allem keine Rolle.

Saisoneröffnungen und Spargelköniginnen schlagen sich zwar einigermaßen wacker, geht es darum, den Erntestart und damit den Beginn der einheimischen Spargelsaison zu verkünden – in der Flut und Fülle an Informationen, die tagtäglich auf den Verbraucher prasseln, bleiben sie letztendlich aber eher Randnotizen, zumal Pandemie-bedingt die letzten beiden Jahre der große Bohei ausbleiben musste.

Ganz ohne Startsignal müssen seit jeher die Erdbeerproduzenten auskommen. Das führt dann angesichts des mittlerweile ganzjährigen Erdbeerangebots auch im ansonsten eher schlecht sortierten Discount dazu, dass die Verbraucher den Überblick verlieren. Zumal dann ja auch ab und an Erdbeeren des Typs Kohlrabi, die sonst eher mit südländischen Herkünften in Verbindung gebracht werden, als deutsche Ware deklariert in der Kühltheke liegen.

Als relativ einfache Unterscheidungsgröße bleibt der Preis. Man muss kein Psychologe sein, um zu verstehen, dass sich bei dauerhaft zum Knaller-, Knüller- oder Aktionspreis von unter zwei Euro beworbenen Erdbeerschälchen vielleicht auch unbewusst eine Preisschwelle in den Verbraucherköpfen festsetzt.

Man muss andererseits auch weder Agronom noch Betriebswirt sein, um zu verstehen, dass bei diesen Preisen nicht nur kaum jemand etwas verdienen kann, sondern dass bei der Produktion dann auch Abstriche gemacht werden müssen – und schon landet man schnell wieder beim Thema Nachhaltigkeit. Mittlerweile sind die Schlagwörter Doñana, Huelva sowie die prekäre Arbeitssituation vieler Migranten im Süden Europas auch in den deutschen Medien angekommen.

Die Platzhirsche im Beerengeschäft ficht das wenig an: stellen sich die Chilenen quer, wandert der Blaubeeranbau eben nach Peru ab. Geht in Marokko das Wasser aus und steigen die Arbeitslöhne für die Himbeerpflücke, ist Südafrika global gesehen auch nicht viel weiter entfernt. Und dann sind da ja auch noch wir Deutschen mit unseren eher dunklen und kalten Wintern. Bis wir produktionstechnisch aus dem Winterschlaf erwachen, sind die Kühltheken gut bestückt mit Ware aus Ländern, in denen es wenig später dann schon fast zu warm wird, um überhaupt noch vor die Tür zu gehen.

Wenn dann die Importware keinen Platz macht für einheimische Produkte, dann haben unsere Bauern ein Problem. Das gilt für Spargel und Erdbeeren genauso wie für Zwiebeln und Möhren. Bei den Zwiebeln müssen erst die Neuseeländer verkauft sein, bevor die frisch geerntete deutsche Ware ins Regal kommt, bei den Möhren helfen Spanier und Italiener, die möhrenlose Zeit in Deutschland zu überbrücken.

Dass das Ganze so ist, merkt man eigentlich erst, wenn es einmal hakt: Zu Beginn der Pandemie gab es ein kurzes Innehalten angesichts von Lieferketten, die auf einmal eben nicht mehr geräuschlos im Hintergrund für scheinbar nie versiegenden Warenfluss sorgten. Der Bauer vor Ort wurde zum Helden hochstilisiert, der uns alle mit seinem persönlichen Einsatz vor dem schon morgen drohenden Hungertod bewahrt.

Ähnliches war Jahre zuvor während der EHEC-Krise passiert, als die Verbraucher dem Produzenten ums Eck auf einmal einen deutlichen Vertrauensvorschuss einräumten. Der Effekt war derselbe: Abhofverkauf und Direktvermarktung boomten, jeder dachte, dass die Botschaft nun endlich und für alle Zeit beim Verbraucher angekommen ist und sich niemand mehr um das Wachstum von bio und regional Sorgen machen müsse. Politisch gewünschte Ziele wurden erreicht, ohne dass das Landwirtschaftsministerium dabei seine Hände im Spiel gehabt hätte.

Vielleicht ging zuletzt in all der Resilienz-Euphorie, letztendlich auch Covid-19 Versorgungs-technisch abgewettert zu haben, dann etwas unter, dass die Energiepreise nach einem historischen Tiefpunkt zu Beginn der Pandemie langsam aber stetig in die andere Richtung ausschlugen. Auch der drohende Mindestlohn aus dem Bundestagswahlkampf trug vielleicht dazu bei, dass die Kostensteigerung bei den Produktionsmitteln lange Zeit kaum ein Thema war, grundsätzlich lief ja alles.

Ein jähes Erwachen gab es, als die ersten Düngemittelproduzenten die Ammoniakproduktion einstellten, da diese angesichts der hohen Gaspreise wirtschaftlich nicht mehr darstellbar war. Als wäre das alles nur ein Warnschuss gewesen, machte der russische Präsident am 24. Februar 2022 Ernst und ließ sein Militär in die Ukraine einmarschieren. Die daraus resultierende Unsicherheit setzte wiederum eine Preisrallye in Gang, die schnell auch an den Zapfsäulen ankam und wiederum eine Reihe anderer Entwicklungen in Gang setzte.

Etwas überspitzt formuliert, lässt sich folgendes Zwischenergebnis festhalten: Beim traditionellen Samstagstriathlon, der aus Autowaschen, Volltanken und dem Spargeleinkauf an der Direktvermarkterbude besteht, blieb den willigen Zahlern erst an der Tankstellenkasse die Luft und dann beim Abhofverkäufer die Kunden weg. Unzählbar sind die Memes in den sozialen Medien, die das Thema zum Luxusgut gewordene Mobilität behandeln, schaler Beigeschmack ist, dass dann eben auch für andere, vermeintlich echte Luxusgüter das Budget fehlt.

Aber auch andere Verkaufskanäle flutschten nicht wie gewohnt. Im klassischen Lebensmitteleinzelhandel zeigte und zeigt die für unsere Bauern ungünstige Positionierung deutscher neben ausländischer Ware unmissverständlich den Preisunterschied auf. Dies ist besonders ärgerlich, da ja auch nicht weiter erläutert wird, warum das so ist, bzw. warum das streng genommen auch so sein muss. Schließlich kann in vielen anderen Ländern nun einmal deutlich günstiger produziert werden als in Deutschland. Das liegt hauptsächlich, aber nicht nur am hohen Lohnniveau hierzulande.

Ähnlich wie das ukrainische Getreide, das in Silos darauf wartet, endlich verschifft zu werden, hatten die Bauern nach einem temperaturbedingt mengenmäßig eher überschaubaren Saisoneinstieg mit den steigenden Temperaturen auf einmal die Kühlungen voll. Klar, dass dadurch dann das bestenfalls partnerschaftliche Miteinander zwischen Produzenten und Handel etwas unter Spannung gerät.

Über den Großhandel floss zwar Ware ab, nur lässt sich das delikate Preisgefüge aus Nachfrage und Angebot gerade bei diesem Absatzweg schon mit geringen Fehlmengen leicht unter Druck setzen. Folge davon war, dass landauf, landab zum Saisoneinstieg über astronomisch hohe, im weiteren Verlauf dann über äußerst niedrige Spargelpreise berichtet wurde, was dann in beiden Fällen auf das Kaufverhalten der Verbraucher hatte.

Es ist müßig, darüber zu diskutieren, ob der viel zitierte Buhmann Lebensmitteleinzelhandel tatsächlich gezielt Ware bei den Produzenten auflaufen lässt, um so den Preisdruck zu erhöhen. Denn eines ist klar: Der einzige Ausweg aus der Preiskrise wäre eine Verknappung des Angebots. Was eine solche Verknappung bewirken kann, lässt sich derzeit am Preis für Sonnenblumenöl beobachten.

Nur lässt sich eine Angebotsreduktion nicht einfach bewerkstelligen. Es liegt nun einmal in der Natur des Menschen, oft das eine zu sagen und das andere zu tun. Das beginnt bei der Kaufentscheidung für oder gegen regional und hört bei „produzieren wir doch alle einmal weniger“ nicht auf. Dazu kommen dann noch Lieferverträge, die relativ großzügig bemessene Strafzahlungen für diejenigen vorsehen, die das Liefermengenziel verfehlen. Dies trägt in Konsequenz ebenfalls dazu bei, dass mehr Spargel und Erdbeeren auf dem Markt sind, als für einen auskömmlichen Preis gut wäre.

Das bringt uns wieder an den Anfang unseres kleinen Ausflugs in die Spargel- und Erdbeerwelt. Ähnlich wie die Landwirtschaft im Großen im Frühjahr nicht auf einmal umschwenken konnte auf Produkte, bei denen sich abzeichnete, dass sie demnächst Mangelware sein könnten, lassen sich auch Spargeläcker und Erdbeerproduktionsflächen nicht einfach so umnützen. Die Kapitalintensität des Geschäfts mit Spargel und Erdbeeren ist enorm: Ware muss fließen, um auf der anderen Seite den Geldstrom nicht versiegen zu lassen.

Und das macht letztendlich jede individuelle Kaufentscheidung auch zu einer politischen Entscheidung. Wollen wir Wertschöpfung auch jenseits der deutschen Industriezentren ermöglichen? Wollen wir unsere Kulturlandschaft als solche erhalten? Wollen wir Produkte, die unter vertretbaren und kontrollierten Bedingungen erzeugt werden? Wollen wir die Weichen stellen in Richtung nachhaltig statt billig – oder sind das nur Lippenbekenntnisse? Angesichts der geopolitischen Großwetterlage darf dann auch die Frage nicht fehlen: Wie abhängig vom Ausland wollen wir sein?

Tim Jacobsen

Solidarität darf nicht bröckeln

Auf seiner virtuellen Parlamentsweltreise besuchte der ukrainische Präsident Ende März die niederländischen Volksvertreter. Auch in Den Haag warb Wolodymyr Selenskyj für einen sofortigen EU-Importstopp für fossile russische Energieträger. Pikantes Detail der anschließenden Diskussion war, dass die Niederlande selbst zwar auf dem größten europäischen Erdgasfeld sitzen, sich aufgrund zahlreicher Bergschäden und des daraus resultierenden politischen Drucks im Jahr 2014 dazu verpflichtet haben, die Erdgasförderung rundum Groningen bis spätestens 2028 auslaufen zu lassen.

Ein Stück weiter landeinwärts kamen ebenfalls am 31. März 2022 auf Einladung von Wageningen University & Research (WUR) Experten des Auswärtigen Dienstes, der Kyiv School of Economics, der OECD, sowie ein vor Ort direkt betroffener Landwirt virtuell zusammen, um die Auswirkungen der russischen Invasion zu diskutieren. Zum Auftakt erinnerte WUR-Präsidentin Louise Fresco daran, dass es bei der Diskussion von kurz- oder auch langfristigen Effekten nicht allein um ökonomische Fragestellungen gehen könne, da naturgemäß jede Menge Emotion im Spiel sei, es aber Aufgabe der Wissenschaft sei, „einen kühlen Kopf zu bewahren“.

Kees Huizinga war von seinem Bauernhof mitten in der Kornkammer der Ukraine zugeschaltet. Er berichtete von Raketeneinschlägen und Zerstörung, fehlendem Treibstoff, Mangel an Pflanzenschutz-, Düngemitteln sowie Arbeitskräften und erinnerte daran, dass es, wenn im Frühjahr 2022 die Felder nicht bestellt werden können, die Frage nicht sein wird, wie viel weniger geerntet werden wird, sondern dann erst 2023 überhaupt wieder etwas geerntet werden kann. Und wenn 2023 die Felder nicht bestellt werden können, dann erst 2024 die nächste Chance kommt.

Alternativen für den derzeit durch die Blockade der ukrainischen Seehäfen unterbundenen Warenfluss ins Ausland konnte Huizinga auch mittelfristig nicht entdecken: Die unterschiedliche Spurweite der ukrainischen Eisenbahn zum Rest des europäischen Schienennetzes stelle einen Engpass dar, der angesichts der riesigen Exportmengen auch nicht mit LKW-Transporten substituiert werden kann. Und während Kriegsartefakte wie Geschoßreste, Raketenteile und verminte Felder eher kurzfristig ein Problem sein werden, wird mittel- und langfristig die zerbombte Infrastruktur das größere Problem sein.

Von den Silos und Lägern der Landhändler sei Huizinga zufolge kaum mehr etwas übrig, von den großen Treibstofftanks und Kühlhäusern wären allenfalls noch Fundamente zu sehen. Den Krieg sofort zu stoppen, sei die einzig mögliche Lösung. Angesichts von Huizingas Sarkasmus´, dass niemand Futter brauche, wenn es keine Tiere mehr zu füttern gibt und auch niemand Diesel nötig habe, wenn es nichts mehr zu transportieren gibt, fiel es schwer, den von Fresco geforderten kühlen Kopf zu bewahren, zumal die weiteren Aussichten alles andere als rosig sind:

Denn, und darin waren sich die Panellisten einig, die eigentliche Zeitenwende könnte darin bestehen, dass in Zukunft die Rohstoffkarte noch viel öfter Trumpf sein und eine Art eiserner Vorhang dann nicht politische Systeme trennen wird, sondern diejenigen, die sich auf der moralisch sauberen Seite befinden, von denjenigen, die Zugang zu günstiger Energie, Dünger und Nahrungsmitteln haben – wobei die letztgenannten Beispiele nahezu beliebig austauschbar mit anderen strategisch wichtigen Gütern sind. Leere Regale in unseren Supermärkten zeugen davon, dass im Wettstreit zwischen Solidarität und Rationalität nicht immer das Gemeinwohl gewinnt.

Tim Jacobsen

Die weiteren Aussichten: schwierig

Machte die Coronapandemie aus gut 83 Mio. Fussballtrainern ebenso viele Virologen, mutet die Ukrainekrise derzeit an wie ein Crashkurs in Agrarökonomie. Allzu schwierig scheint das Ganze ja nicht zu sein: wird den Fischern der Schiffsdiesel zu teuer, bleiben sie – wie gerade geschieht – im Hafen und warten auf bessere Zeiten. Wird den Mästern das Futter zu teuer, wird einfach nicht aufgestallt und können die Gärtner die Heizkosten nicht mehr bezahlen, bleiben die Gewächshäuser leer. Mit dieser Wette auf die Zukunft lässt sich zwar kurzfristig verhindern, dass mit den Verkaufserlösen nicht einmal mehr die Gestehungskosten gedeckt werden, mittelfristig stehen jedoch Liefer- und Abnahmeverpflichtungen im Weg und langfristig könnten sich Abnehmer neue Bezugsquellen suchen. Eine Wette mit ungewissem Ausgang also, zumal die Gemeinkosten wie das Vorhalten der Produktionsinfrastruktur stets weiter auflaufen. Im Ackerbau ist das Ganze dann noch ein bisschen komplizierter, da im Spätsommer nur geerntet werden kann, was spätestens im Frühjahr ausgesät wurde.

Leere Mehl- und Speiseölregale in den Supermärkten implizieren mit ihrem ungewohnten Anblick die Frage, ob denn die Lebensmittelversorgung hierzulande eigentlich grundsätzlich sichergestellt ist. Die Studienlage hierzu ist zwar eher dünn, in ihrer Aussage aber eindeutig: Im Jahr 2008 bestand der europäische Ernährungssektor einen Stresstest, den das niederländische Landwirtschaftsministerium durchführen ließ: Es konnte kein Szenario simuliert werden, das die Lebensmittelversorgung in Europa grundsätzlich in Bedrängnis gebracht hätte. Neben ausreichend innereuropäischen Produktionskapazitäten wurde Europa auch genug Kaufkraft attestiert, notfalls auf dem Weltmarkt einkaufen zu können. Als erfolgreich bewältigte Krisen wurde neben der Trockenheit des Jahres 2003 auch die Katastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 angeführt. Lediglich der Wegfall von Soja könnte die Fleischindustrie in Bedrängnis bringen.

Eine Studie des niederländischen Landwirtschaftsthinktanks LEI mit dem vielsagenden Titel „Price and prejudice: why are food prices so high?“ kam 2012 im Wesentlichen zu einem ähnlichen Schluss. Zwar könnte im Krisenfall der ökonomische Schaden hoch sein, eine echte Gefahr stellt er jedoch nicht dar. Drei Jahre später kommen die Autoren eines Foodsecure Working Paper zu dem Schluss, dass grundsätzlich selbst im Katastrophenfall im reichen Europa niemand verhungern müsse, wenn auch ärmere Bevölkerungsschichten im Fall der Fälle „nicht immer genug Geld für eine gesunde und abwechslungsreiche Diät haben werden“. Nach 2015 wird die Studienlage zum Thema Lebensmittelsicherheit dann äußerst dünn, es gibt aber kaum einen Grund dafür, zu denken, dass sich die Lage 2022 grundsätzlich von der sieben Jahre zuvor unterscheidet. Selbst die Covid-Pandemie als letzte große Herausforderung für den Lebensmittelsektor hat, anders als befürchtet, keine allzu große Spuren hinterlassen.

Der Langzeittrend für Agrarrohstoffpreise belegt ab dem Allzeitpreishoch Mitte der Siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts stetig sinkende Preise. Lediglich in den Jahren 2007 und 2008 stiegen die Preise für Zucker, Getreide, Ölsaaten und Milchprodukte leicht an, eine Folge schlechter Bevorratung, Störungen auf der Angebotsseite, sehr hohen Brennstoffpreisen und der zunehmenden Biospritproduktion. 2009 fielen die Preise erst auf ihr altes Niveau zurück, stiegen 2010 und 2011 dann aber wieder an, auch hier eine Folge schlechter Ernten, geringer Vorräte und der Tank- oder Tellerdiskussion. Auch im Schatten der Covid-Pandemie zogen die Preise wieder leicht an, was sich relativ einfach erklären lässt: Die Preise für Rohöl kennen seit April 2020 nur eine Richtung, und zwar die nach oben, genauso wie die Preise für Gas.

Seit spätestens Januar 2021 gilt das auch für Kunstdünger. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat diese Entwicklung noch einmal beschleunigt, seit der Ankündigung Russlands, keine Düngemittel mehr exportieren zu wollen, spielen die Preise aufgrund der fast schon Markt beherrschenden Position Russlands verrückt. Welche Auswirkungen die hohen Düngemittelpreise tatsächlich haben werden, lässt sich Ende Februar noch nicht absehen. Experten gehen davon aus, dass die Versorgung unserer Landwirte für die nun beginnende Saison weitgehend sichergestellt ist, spannend wird es dann im nächsten Jahr, empfindliche Preiserhöhungen scheinen unvermeidlich. Auf Konsumentenebene sind diese Preissteigerungen derzeit noch kaum zu spüren, auch auf der Ebene der verarbeitenden Industrie sind diese Preissteigerungen noch nicht angekommen, erst mit einiger Verzögerung werden diese dann beim Endverbraucher ankommen.

Die große Volatilität der Preise für landwirtschaftliche Produkte beweist, dass die Märkte nur selten im Gleichgewicht sind und leicht aus der Balance gebracht werden können. Kleine Fehlmengen können genauso wie geringe Überschüsse für enorme Preiseffekte sorgen. Dies ist auch eine Folge der zwangsläufig relativ stabilen Nachfrage nach Nahrungsmitteln und sich der aufgrund der Vorlaufzeiten jeweils nur mit einiger Verzögerung anpassenden Angebotsmengen – zwischen Aussaat und Ernte steht nun einmal die Wachstumsperiode. Nicht vergessen werden sollte auch, dass Regionen wie Europa oder die nordamerikanische Freihandelszone mit dem Handel innerhalb ihrer Regionen für Ausgleich sorgen können, Länder wie Bangladesch oder Nigeria jedoch auf Importe angewiesen sind. FAOSTAT-Daten zeigen, dass der Anteil der Ukraine an der weltweiten Getreideproduktion mit rund 2 % relativ gesehen überschaubar ist. Ein Wegfall dieser Getreidemengen muss also nicht zwangsläufig eine Katastrophe bedeuten. Dennoch reagieren die Märkte mit großen Aufschlägen, Hamsterkäufe und generelle Unruhe im Markt spielen dabei eine Rolle.

Agrarökonomen messen mit den Stocks-to-use ratios die Höhe des Verschleppungsbestands für eine bestimmte Ware als Prozentsatz der Gesamtnutzung oder etwas anschaulicher ausgedrückt: das Mengenverhältnis von Vorräten zu Jahresverbrauchsmengen. In den Preisrallyes der Jahre 2007 und 2008 lagen diese bei Getreide und Mais zwischen 15 und 18 %. 20 % wird unter Ökonomen als Minimumwert für eine Pufferwirkung von Vorräten auf die Preisbildung angesehen. Für Futtergetreide liegt die Stocks-to-use ratio FAO-Zahlen zufolge derzeit bei 23 %, für Weizen bei 37 %. Eigentlich sollte es also für Preispanik keinen Grund geben. Exportbeschränkungen, wie sie Argentinien, Serbien, Indonesien und der EU-Mitgliedsstaat Ungarn zuletzt verkündet haben, sorgen in der allgemein aufgeheizten Stimmung allerdings für weitere Unruhe. Nur eines scheint derzeit sicher: hohe Preise werden zu Produktionsanpassung führen, auch 2009 und 2012 sanken die Getreidepreise wieder.

Eurostat-Zahlen belegen, dass wir Europäer im Großen und Ganzen Selbstversorger sind, mit kleinen Einschränkungen bei tropischen Früchten, Kaffee, Tee und den Ölsaaten, zu denen auch Soja gezählt wird – sowie den natürlichen Fetten und Ölen, wozu das Palmöl gerechnet wird. Selbst wenn nun also manche Produkte wie Sonnenblumenöl auch in Europa knapp werden, stellt dies auf Verbraucherebene keine unmittelbare Bedrohung dar, da grundsätzlich vielerlei Alternativen zu diesen Produkten verfügbar sind. Anders die Lage in der Tiermast: Sonnenblumen sind eine wichtige Eiweißquelle in Futtermitteln. Zur bedarfsgerechten Fütterung gehören neben Mais, Raps, Rübensamen, Roggen und Sonnenblumenkernen auch Protein-Hochkonzentrate wie Sojapresskuchen. Fehlen diese, können Mittelproteine wie Erbsen diese nicht ersetzen. Zwar ließen sich auch die seit Beginn der Ukrainekrise ausbleibenden Futtermittelexporte aus der Ukraine mit Hilfe des Weltmarkts substituieren, der Teufel steckt dabei allerdings im Detail.

Rückstandshöchstmengen und die Verwendung von Pflanzenschutzmitteln, die in der EU nicht zugelassen sind, erschweren die Substitution der Futtermittel aus der Ukraine. Produktspezifikationen wie frei von genetisch veränderten Organismen machen insbesondere den Öko-Landwirten das Leben zusätzlich schwer, die gerade erst eingeführte vollständige Biofütterung könnte ein Ding der Unmöglichkeit werden. Auch den Abschied vom Palmöl möchte eigentlich niemand rückgängig machen, genauso wenig wie das Abholzen der Regenwälder zum Anbau von Soja befürworten. Die Diskussion um die Aufrechterhaltung von Standards in Kriegszeiten wird ähnlich spannend werden wie die um die Fort- oder Aussetzung der Reformbestrebungen unserer Gemeinsamen Agrarpolitik. Es scheint kaum vorstellbar, dass sich die Ziele des Green Deals wie die Reduktion der Aufwandmengen von Pflanzenschutzmitteln um die Hälfte oder die Reduktion des Einsatzes synthetischer Dünger um ein Fünftel in irgendeiner Form bis zum Jahr 2030 verwirklichen lassen.

Schließlich gibt es ja nicht nur uns Europäer auf diesem Planeten, die, mehr oder weniger reich, auf jeden Fall auf soziale Sicherungsnetze bauen können. Die Preise für Rohstoffe, Energie und Düngemittel werden weiter steigen, der Wegfall der ukrainischen Exporte wird die Versorgungslage in Ländern wie Ägypten, der Türkei, Indonesien, Bangladesch, Nigeria und Jemen weiter unter Druck setzen. Zumal die Getreideernte in den USA und Kanada nicht den Erwartungen entsprach, Argentinien zur Inflationsbekämpfung Exportbeschränkungen einführte und in Australien logistische Probleme den Export behindern. Anfang März wurden in Duisburg mit einem gemeinsamen Spatenstich offiziell die Bauarbeiten zur Errichtung des größten Hinterlandfrachtterminals Europas eingeleitet. In den Duisburg Gateway Terminals sollen ab 2023 wöchentlich mehr als 100 Güterzüge aus China abgefertigt werden und dafür sorgen, dass Ost und West näher zusammen wachsen. Die Zugstrecke ist seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 unterbrochen.

Tim Jacobsen

Mehr als hundert Jahre später

Im Alter von 22 Jahren zog Arthur Donald Gristwood in einen Krieg, der im angelsächsischen Sprachbereich später als „The Great War“ in die Geschichtsbücher einging. Es war niemand geringerer als Herbert George Wells, der Gristwood nach Ende des Ersten Weltkriegs dazu ermutigte, seine Erlebnisse literarisch zu verarbeiten. Mit dem im Jahr 1927 erschienenen „The Somme“ gab Gristwood den zeitgenössischen Kritiken zufolge knapp einer Million gefallener Soldaten des British Empires erstmals eine Stimme.

Seine Beschreibung Frankreichs als ein „verwüstetes Land, das einer Mondlandschaft gleicht: leblos, trocken und verflucht“ soll Jahre später John Ronald Reuel Tolkien, der selbst auch an der Schlacht an der Somme teilnahm, zur literarischen Ausgestaltung Mordors, des Reichs des bösen Saurons in „The Lord of the Rings“, inspiriert haben.

Es war aber nicht das Artilleriefeuer allein, das eine Schneise der Verwüstung quer durch Europa hinterließ. Es war die Übernutzung der Wälder, die wesentlich zur Entwaldung großer Landstriche beitrug – und ein bis heute sichtbares Mahnmal ist. Nach dem Ersten Weltkrieg erklärte die französische Regierung aufgrund der Vielzahl von Blindgängern und der hohen Schwermetall- und Arsenbelastung das belgisch-französische Grenzgebiet zwischen Lille und Nancy als „Zone Rouge“ für weitgehend unbewohnbar.

Es war wahrscheinlich die noch nie da gewesene Monstrosität des Ersten Weltkrieges, die dazu geführt hat, dass die damaligen Kollateralschäden an Natur und Umwelt bis heute wissenschaftlich unterbelichtet geblieben sind. Forstmonokulturen und Bombenkrater stehen im Nordosten Frankreichs allerdings auch mehr als hundert Jahre später heute noch sinnbildlich für sichtbare und unsichtbare Spuren, die „The Great War“ über das menschliche Leid hinaus hinterlassen hat.

Dass die Ukraine als Kornkammer Europas gilt, liegt an den Lössablagerungen aus der letzten Eiszeit. Trockene Sommer und kalte Winter sorgten im Lauf der Jahrtausende dafür, dass sich verhältnismäßig viel Humus im Boden anreichern konnte und sich so die für die Ukraine typischen Schwarzerdeböden entwickelten. Die jährlichen Niederschlagsmengen liegen zwischen 350 und 400 mm, die Durchschnittstemperaturen im Juli bei 20 °C – insgesamt also äußerst gute Bedingungen für die landwirtschaftliche Nutzung.

Gemeinsam mit Russland stellt die Ukraine beim für die Lebensmittelproduktion besonders wichtigen Weizen knapp ein Drittel des gesamten Weltmarktangebots – und genau diese Dominanz wird nun zum Problem. Ob die Aussaattermine für das Sommergetreide eingehalten werden können oder ob zumindest die auch im Sommer anstehende Ernte des Wintergetreides abgefahren und dann zu den Häfen am Schwarzen Meer transportiert, dort verladen und verschifft werden kann, ist mehr als ungewiss.

Was passiert, wenn Russland zukünftig tatsächlich nur noch willfährige Länder mit Getreide beliefert? Und was passiert, wenn die 32 Mio. ha Ackerland in der Ukraine mittel- oder gar langfristig aus der Produktion fallen? Von den mehr als 60 Mio. t Getreide, die in der Ukraine produziert werden, geht die Hälfte in den Export. Nur eines scheint derzeit sicher: Wie immer werden die Ärmsten der Armen die Gekniffenen sein. António Guterres´ „Wirbelsturm des Hungers“ könnte also schon bald apokalyptische Realität werden.

Tim Jacobsen

Gemeinsam mit Russland stellt die Ukraine beim für die Lebensmittelproduktion besonders wichtigen Weizen knapp ein Drittel des gesamten Weltmarktangebots – und genau diese Dominanz wird nun zum Problem

Tim Jacobsen

Fünfzig Jahre später

Im März fand in Brüssel ein vielbeachtetes Symposium zur Elektromobilität statt, im März 1972 wohlbemerkt: Renault führte dort strombetriebene Kleinwagen vor, Mercedes Benz einen elektrischen Lieferwagen. Im Juni wird der FC Bayern mit einem 5:1 über den FC Schalke im neu eröffneten Münchner Olympiastadium deutscher Fußballmeister; im September folgt dort auf das verheißungsvolle „Let the games begin“ von Ende August ein „The Games must go on“ als Antwort auf die Tragödie.

Ein anderer französischer Kleinwagen, der eigentlich viel zu früh aus dem Straßenbild verschwundene R5, debütiert im Frühjahr 1972 auf dem Genfer Autosalon und steht bis heute symbolisch für klassenlose Automobilität. Das andere Ende der automobilen Leistungsskala markiert im Herbst 1972 Porsches 911 Carrera, mit 240 km/h Spitzengeschwindigkeit das seinerzeit schnellste Serienauto in Deutschland.

Willy Brandt übersteht erst das konstruktive Misstrauensvotum, um knapp ein halbes Jahr später mit der Vertrauensfrage Neuwahlen auszulösen, bei denen die SPD dann zum ersten und für die folgenden 26 Jahre letzten Mal CDU und CSU in der Wählergunst überflügelt. Mit dem TGV rast 1972 erstmals ein Hochgeschwindigkeitszug durch Frankreich, ein Prototyp des Überschallflugzeugs Concorde begibt sich auf eine Verkaufstour einmal rund um die Welt.

Seinerzeit muss eine Art „alles ist möglich“ in der Luft gehangen haben: David Bowies „Ziggy Stardust“ erscheint, bei Hewlett Packard gibt es erstmals PCs zu kaufen und in Washington den Vorläufer des Internets zu bewundern. Gleichzeitig gab es aber auch damals schon Anzeichen dafür, dass die Party nicht ewig weitergehen würde. Ähnlich wie der Terror in der Rückschau die Fröhlichkeit der Münchner Spiele überschattet, ist 1972 auch das Jahr, in dem der Club of Rome mit „Grenzen des Wachstums“ erstmals Klimawandel zum Thema macht.

1972 wurde auch das World Trade Center eröffnet. Der Legende nach litt der Architekt an Höhenangst und verpasste deshalb den beiden rund 400 m hohen Türmen die charakteristisch schmalen Fenster, was den Twin Towers den Ruf einer Kathedrale der Globalisierung einbrachte. Der 11. September 2001 leitete eine Zeitenwende ein, mit der nun bevorstehenden Invasion der Ukraine wünscht man sich zurück in den Beginn des Plastikzeitalters, als die Technizität der Sechziger Jahre von den warmen Farbtönen zu Beginn der Siebziger abgelöst wurde.

Der große Wurf blieb aus – aber lieber einen kleinen als gar keinen

Es ist zum Mäusemelken: wurde mit Corona mehr als offensichtlich, dass das Konzept Innenstädte irgendwie dringend sanierungsbedürftig ist, gab es gewissermaßen als Antwort auf nicht gestellte Fragen ein Finanzpaket zur Betonierung des Fußgängerzonensta­tusquos. Beweisen Starkregenereignisse mit ihren verheerenden Folgen, dass irgendwie irgendetwas getan werden muss, um die Folgen des Klimawandels vielleicht doch noch etwas angenehmer zu gestalten, scheint die einzig politisch zündende Idee, mit Hilfe von Elektroautos den Verkehrsinfarkt in die Zukunft retten zu wol­len. Will sich die CDU personell erneuern, melden sich ausschließ­lich Kandidaten, die selbst in ihrer Jugend höchstwahrscheinlich nicht unbedingt einen Flair von Erneuerung und Aufbruch verbrei­tet haben. Moppert dann die CSU, dass Bayern nicht äquivalent zu seinem Stimmanteil in der Regierung vertreten ist, geht einem auf einmal Andreas Scheuer nicht mehr aus dem Kopf.

So wirkt dann das „Mehr Fortschritt wagen“ der Ampelkoalition zumindest ein kleines bisschen wie ein Befreiungsschlag. Wahr­scheinlich stand bei so manchem Journalistenkollegen auf dem Weihnachtswunschzettel, zumindest einmal im Leben eine Frage von Olaf Scholz mit einem knappen Ja oder Nein beantwortet zu bekommen; im ganzen Nebelkerzendickicht ist aber die insge­samt geräuschlose Regierungsbildung eine Leistung, die auf einen eher problemlösungsorientierten Ansatz unseres neuen Kanzlers verweist. Dass dann im ganzen Hin und Her keiner der als Schreckgespenster an die Wand gemalten Kandidaten das Rennen um das Bundeslandwirtschaftsministerium machte, sondern ausgerechnet der sich selbst mit „anatolischer Schwa­be“ charakterisierende Cem Özdemir, ging in Zeiten, in denen ungestraft mit Fackeln an Wohnhäusern von Politikern aufmar­schiert wird, dann schon fast unter.

Bei bisher jeder Erhöhung des Mindestlohns wurde nicht mehr oder weniger als der Untergang des Abendlandes befürchtet – ganz so schlimm ist es dann Gottseidank bei allen sechs bisherigen Erhöhungsrunden nicht gekommen. Natürlich ist der Sprung von 9,82 € auf 12 statt der geplanten 10,45 € im zweiten Halbjahr 2022 eine Hausnummer. Und auch wenn diesbezüglich noch nichts beschlossen ist, wird sich die SPD die Butter nicht mehr vom Brot nehmen lassen.

Ganz ausverhandelt ist auch von der Leyens Green Deal nicht. Und da wird es streng genommen dann um einiges fitzeliger, schließlich steht mit Farm to Fork mittel- und langfristig deutlich mehr als „nur“ ein abermals erhöhter Lohnkostenanteil, so schmerzlich im Einzel- und ärgerlich in jedem Fall der auch sein mag, ins Haus. Der Green Deal könnte ans Eingemachte gehen.

Und da könnten sich angesichts amtlich verordneter Flächenstilllegungen und dem Aus vieler Pflanzenschutzmittel hierzulan­de sowie sich häufender Wetterkapriolen allerorten, der Importpolitik Chinas, der Biotreibstoffstrategie Nordamerikas und den Exportrestriktionen Russlands ganz neue Allianzen zwischen Verbraucher und Landwirten bilden: steigt die Inflation infolge gestiegener Lebensmittelpreise in heute kaum vorstellbare Grö­ßenordnungen, wird sich schnell die Frage stellen, wie viel Umweltschutz wir als Gesellschaft wollen und wie viel Umweltschutz wir auch dem nicht so wohlhabendem Rest der Welt gegenüber ethisch und moralisch verantworten können.

Wir machen aus technologischem auch gesellschaftlichen Fortschritt … wo Fortschritt entsteht, muss er auch gelebt werden


Aus den Seiten 15 und 22 des Koalitionsvertrags des Bündnisses für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit

Und spätestens dann wäre der Realo vom Bündnis 90/die Grünen als ausgewiesener Brückenbauer in seinem Element und könnte vielleicht sogar die in sein Boot holen, denen es nicht staatsmännisch genug erscheint, als Minister mit dem Fahrrad die Ernennungsurkunde beim Bundespräsidenten im Schloss Bellevue abzuholen um den Stau der Panzerlimousinen zu umfahren. In die Höhle des Löwen gesprungen ist auch Prof. Dr. Karl Wilhelm Lauterbach. Und kämpft seitdem mindestens an zwei Fronten: zum einen gegen das Virus in all seinen Varianten, zum anderen gegen so genannte virale Inhalte: Untersuchungen zeigten, dass dem Anstieg des medizinisch messbaren pandemi­schen Geschehens jeweils ein Anstieg der Verbreitung von Infor­mationen aus zweifelhaften Quellen vorausging.

Einziger Lichtblick der Mitte März 2021 im Fachjournal Cell veröffentlichten „Conversations“ war, dass mit zunehmend schlim­mer Lage dann die Vernunft wieder einzusetzen scheint und eher klassische Nachrichtenquellen wieder mehr in den Fokus rücken. Das ist leicht erklärbar, schließlich lässt sich die Pandemie sinnvol­ler Weise nur leugnen, solange niemand aus dem Freundes- und Familienkreis schwer daran erkrankt – auch wenn es Fälle geben soll, in denen Menschen selbst über ihr Ableben auf der Intensiv­station hinaus ihrer Überzeugung treugeblieben sind. Leicht erklä­ren lässt sich auch, warum sich Menschen zweifelhaften Informa­tionsquellen zuwenden: Ängste lassen sich abbauen, indem Insti­tutionen als Sündenböcke verunglimpft werden, gleichzeitig scheint es menschlich, zu denken, dass es andere eher als einen selbst erwischt und am Allereinfachsten kompensieren lässt sich Hilflosigkeit mit dem Glauben an Heilsversprechen.

In der gleichen Ausgabe von Cell gab es übrigens auch „Neue Ansätze für die Impfstoffentwicklung“, einen Beitrag zu „Antiviralen Mitteln mit gemeinsamen Angriffszielen gegen hochpathogene Viren“, etwas zu „Biokraftstoffen für eine nachhaltige Zukunft“ und einen Artikel über „Genom-Engineering für die Verbesserung von Nutzpflanzen und die Landwirtschaft der Zukunft“. Soll noch einer sagen, dass Wissenschaft das Problem und nicht die Lösung ist.

Die Zeiten werden härter

Im Sondierungspapier der uns wahrscheinlich zukünftig Regierenden wurde die eine und andere Klippe elegant umschifft. So soll der Kohleausstieg „idealerweise“ vorgezogen und die „Entwicklung intelligenter Systemlösungen für den Individualverkehr“ lediglich unterstützt werden. Unterstützt werden soll auch die Landwirtschaft, und zwar dabei, „einen nachhaltigen, umwelt- und naturverträglichen Pfad einzuschlagen“. Der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln soll auf das „notwendige Maß“ beschränkt und Pflanzen „so geschützt werden, dass Nebenwirkungen für Umwelt, Gesundheit und Biodiversität vermieden werden“. Tacheles dagegen dann beim generellen Tempolimit – das es nicht geben wird – und bei der Erhöhung des Mindestlohns – die tatsächlich kommen wird. Mit zwölf Euro Stundenlohn scheint die SPD eines ihrer zentralen Wahlkampfthemen durchgesetzt zu haben.

Sollte der Mindestlohn eigentlich erst zum Sommer 2022 auf über zehn Euro steigen, so könnte er unter Umgehung der Mindestlohnkommission nun handstreichartig um ziemlich genau ein Viertel erhöht werden. Auch wenn das vereinbarte Stillschweigen über Details noch nicht gebrochen wurde, so ist klar, dass zuallervorderstunderst Betriebe mit einem hohen Lohnkostenanteil die Düpierten sein werden, ganz vorneweg dabei einmal mehr unsere Gärtnerinnen und Gärtner.

Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass Handel und Verbraucher die daraus resultierenden Preisaufschläge einfach so akzeptieren werden. Es ist genauso unwahrscheinlich, dass ein höherer Mindestlohn bei uns Strahlkraft auf das europäische Mindestlohngefüge haben wird. Sollten an der Peripherie Europas ähnliche Verhältnisse gelten wie bei uns, müssten die Mindestlöhne dort nicht um ein Viertel erhöht, sondern in etwa vervierfacht werden. Und selbst dann wären wir von einer Produktionsvollkostenrechnungswaffengleichheit noch immer weit entfernt; ausgeblendet würde außerdem, dass zwar für viele Menschen die Reise an der EU-Außengrenze zu Ende ist, Warenströme aus aller Welt diese jedoch unbeanstandet passieren dürfen.

Welche Auswirkungen Störungen an diesem fein austarierten System haben können, lässt sich derzeit in Großbritannien beobachten. Auch die Eidgenossen konnten den Strukturwandel in ihrer Landwirtschaft allenfalls verlangsamen, aufhalten lässt er sich auch in der Alpenrepublik nicht. Und so ist es dann nur auf den ersten Blick verwunderlich, wenn, wie zuletzt wieder einmal auf dem Global Berry Congress eine Absatzjubelmeldung die nächste jagt – und gleichzeitig die Produktionsflächen im eigenen Land dies nicht widerspiegeln sondern vielmehr rückläufig sind.

Es ist keine einheimische Ware, die da vermehrt über den Tresen geht. Gleichzeitig wird aber auch nur deshalb so viel abgesetzt, da durch das höhere Warenangebot die Preise entsprechend gefallen sind. Der vielzitierte und –diskutierte Eimer voll mit Blaubeeren zum Schleuderpreis ist in Wahrheit dann auch eher ein Menetekel: Allzu lange wird sich unser produktionstechnischer Vorsprung nicht mehr halten lassen, Him- und Brombeeren werden folgen, wenn sie dies nicht bereits schon getan haben. Und das Dumme ist: die genannten Beerenarten stehen mehr oder weniger als Platzhalter für welches Produkt dann auch.

Du hast keine Chance – aber nutze sie!

Herbert Achternbusch

Und so wurde beim Global Berry Congress munter über den ganzen Erdball gehüpft: werden in Spanien die Arbeitskräfte knapp und geht im Süden Marokkos das Wasser zur Neige – warum dann nicht gleich auf nach Südafrika? Sieht man das Ganze nur global genug, verschwinden auch die Unterschiede zwischen Serbien, Rumänien und der Ukraine. Künstliche Intelligenz hilft bei der Standortwahl: Beerenanbau in Indien für China – kein Problem, das Knowhow ist exportier- sowie skalierbar und Kapital, das auf Verzinsung wartet, gibt es genug.

Niemand kann abschätzen, wie Klimawandel, fragile Lieferketten, steigende Energie- und Rohstoffpreise, die Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen, der weltweit zunehmende Protektionismus, Digitalisierung und E-commerce sowie die allgegenwärtigen logistischen Herausforderungen und der Arbeitskräftemangel die Handelswelt der Zukunft verändern werden. Vielleicht sogar mehr denn je scheint derzeit alles möglich. Und dann ist es zwar so, dass einer der diesjährigen Nobelpreise an drei Nordamerikaner vergeben wurde, die der Wirtschaftswissenschaft die Augen dafür geöffnet haben, dass auch das wahre Leben Möglichkeiten zuhauf bietet, Ursache-Wirkungsbeziehungen zu erkennen.

Dass sie in einer ihrer berühmtesten Arbeiten zeigten, dass die Einführung eines Mindestlohns nicht zwangsläufig zu erhöhter Arbeitslosigkeit führt, bedeutet aber nicht, wie die Laureaten selbst bereitwillig einräumen, dass das überall und jederzeit so sein muss. Anders dann die Faktenlage beim ebenfalls Nobelpreis-dekorierten ehemaligen Direktor des Deutschen Klimarechenzentrums. Klaus Hasselmanns wissenschaftliche Leistung war nichts weniger, als eine Methode zu entwickeln, die bereits zu einer Zeit, als dies wirklich noch niemand hören wollte, unmissverständlich belegte, dass niemand außer wir selbst am Klimawandel schuld sind.

Tim Jacobsen

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