"Now, here, you see, it takes all the running you can do, to keep in the same place. If you want to get somewhere else, you must run at least twice as fast as that!"

Kategorie: Europa (Seite 6 von 9)

Wir schaffen das!

Will ein Land zu den 24 bevölkerungsreichsten Staaten der Welt zählen, muss es mehr als 60 Mio. Einwohner aufweisen – und damit genauso vielen Menschen ein Zuhause bieten, wie letztes Jahr weltweit auf der Flucht waren. Ist diese Zahl für sich genommen schon erschreckend genug, sind es die Zuwachsraten noch viel mehr: knapp ein Fünftel mehr als 2013 – und ein Ende der Entwicklung ist nicht abzusehen.

Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, António Guterres, befürchtet gar: „Wir geraten in eine Epoche, in der das Ausmaß der globalen Flucht und Vertreibung sowie die zu deren Bewältigung notwendigen Reaktionen alles davor Gewesene in den Schatten stellt.“

Drei Jahrzehnte lang hatte Afghanistan die traurige Liste der Länder angeführt, aus denen die meisten Menschen fliehen, mittlerweile wurde es von Syrien abgelöst – zusammen mit Somalia stammt die Hälfte aller Flüchtlinge weltweit aus einem dieser drei Länder.

Setzt man Wirtschaftskraft und Flüchtlingsaufnahme in Relation, landeten letztes Jahr Äthiopien, Pakistan und Tschad unter den Ländern, die Flüchtlinge aufnehmen, auf den ersten Plätzen; die in absoluten Zahlen meisten Flüchtlinge nahmen 2014 die Türkei und Pakistan auf – in Relation zur Einwohnerzahl gesetzt, liegt der Libanon weit vorne.

Die Rechnung, wie viele Flüchtlinge Deutschland im Vergleich zum Libanon aufnehmen müsste, greift dann allerdings zu kurz: nicht nur die Unterbringungssituation ist eine andere, zu unterschiedlich sind auch die Perspektiven der Flüchtlinge, die den kurzen oder den langen Weg gewählt haben – auch wenn das Schicksal jedes einzelnen der mehr als 400 000 Kinder mehr als nur beklagenswert ist, denen allein im Libanon derzeit der Zugang zu Bildung verwehrt bleibt.

„Wir schaffen das“, erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Anne Will-Interview, ohne genau zu verraten, was wir eigentlich schaffen wollen. Wahrscheinlich hatte sie nicht den Pragmatismus im Sinn, den die Nordnorweger an den Tag legen, die angesichts des nahenden Winters dem unter Syrern zwischenzeitlich zum Geheimtipp avancierten nördlichsten Grenzübergang Europas eine zunehmende Unbeliebtheit prognostizieren. Wahrscheinlich dachte sie eher an die Art von Pragmatismus, der sich mit der Ankunft der ersten Züge aus Ungarn in München breit machte.

Schließlich beweist jeder Tag aufs Neue, dass Gesetzesverschärfungen und Zäune nichts an den Fluchtgründen ändern, und dass der Versuch einer Unterscheidung zwischen Wirtschaftsflüchtling oder politisch Verfolgtem angesichts kollabierender Staaten in Afrika, dem Nahen und Mittleren Osten nicht zielführend sein kann. Vielmehr gilt es, Migration als Tatsache zu akzeptieren.

Da hilft es dann auch nicht, die Schuld des Westens am Machtvakuum im Mittleren Osten zu debattieren oder darüber zu schwadronieren, wie kluge Außenpolitik in den Herkunftsregionen zu Stabilität, Sicherheit, Frieden und Freiheit beitragen könnte.

Denn selbst wenn sich die wenig ruhmvolle Rolle Deutschlands als Waffenhändler, als Auftraggeber billigstproduzierter Kleidung, die einmal getragen als Exportartikel der örtlichen Textilindustrie den Garaus macht, als stets Rekordmeldungsverdächtiger Exporteur landwirtschaftlicher Erzeugnisse, die vor Ort die einheimische Produktion unrentabel machen, auf einen Schlag ändern ließe, hätte das keine Auswirkung auf die Menschen, die bereits bei uns oder auf dem Weg zu uns sind.

An diesem Punkt ist Innenminister Thomas de Maizière Realist: „Es ist Zeit, neue Wege zu gehen“. Er geht nicht von einem nennenswerten Rückgang der Flüchtlingszahlen aus, und erwartet, dass vier von zehn Flüchtlingen bei uns bleiben wollen. Da hilft dann auch kein Bundespräsident Joachim Gauck mit: „Unser Herz ist weit. Aber unsere Möglichkeiten endlich.“ Während sich die Bankanalysten angesichts des unerwarteten Flüchtlings-Konjunkturprogramms die Hände reiben, frohlocken die Verbände, die nach Arbeitskräften schreien, angesichts von 600 000 offenen Stellen und über einer 1 Mio. Zuwanderern.

Zwar stimmt es, dass das Beschäftigungswachstum mit dem Wirtschaftswachstum in unserem Land zuletzt nicht Schritt hielt, und dies ein Indikator dafür ist, dass unter den derzeit 2,7 Mio. Arbeitslosen die benötigten Qualifikationen nicht zu finden sind – ganz von der Hand weisen lassen sich aber auch die Einwände von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles nicht: „Nicht alle, die da kommen, sind hoch qualifiziert. Der syrische Arzt ist nicht der Normalfall.“

„Unser Herz ist weit. Aber unsere Möglichkeiten endlich“

Bundespräsident Joachim Gauck

Dennoch bleibt zu hoffen, dass Daniela Rixen von der Landwirtschaftskammer Schleswig-Holstein Recht behält, die angesichts von Flüchtlingszustrom und Arbeitsbedarf auf den Höfen und in den Gartenbaubetrieben von einer Win-Win-Situation spricht. Denn unbestritten gelten reguläre Beschäftigungsverhältnisse als Königsweg zur Integration, wie auch Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel bekräftigt: „Schaffen wir es, die Menschen, die zu uns kommen, schnell auszubilden, weiterzubilden und in Arbeit zu bringen, dann lösen wir eines unserer größten Probleme.“

Die Schweizer, spätestens seit ihrem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative ausgewiesene Migrationsverhinderer, gehen das Problem akademisch an: mehrere Dutzend Flüchtlinge müssen sich drei Jahre lang auf zehn Betrieben beweisen, bevor eventuell in diese Richtung weitergedacht wird. Anders als beispielsweise in Schleswig-Holstein, steht der dortige Bauernverband den neuen Mitbürgern kritisch gegenüber.

SBV-Präsident Markus Ritter: „Bisher hatten wir viele Arbeiter etwa aus Polen und Portugal, die teils aus landwirtschaftsnahen Betrieben oder direkt aus der Landwirtschaft kamen. Jetzt müssen wir klären, wie die körperliche Leistungsfähigkeit, aber auch ihre grundsätzliche Bereitschaft ist, auf einem Landwirtschaftsbetrieb zu arbeiten.“

Die Schweizer haben aber auch gut Lachen: Insgesamt 30 000 Asylbewerber werden dort für das gesamte Jahr 2015 erwartet – so viele, wie zuletzt jedes Wochenende nach München kamen.

Tim Jacobsen

Alle Jahre wieder

Wenn in einer Delikatess-Schinken-Bockwurst nicht ausgeschlossen werden kann, „dass sich in einzelnen Verpackungen ein vergleichbares Produkt mit Käse befindet“, so klingt das erst einmal nicht unbedingt lebensbedrohlich – zumindest, solange man nicht empfindlich auf Milch, Milchbestandteile oder Senf reagiert und eben gerade dabei ist, genau eine solche Wurst zu verzehren.

Schlimmer wäre mit Sicherheit, in einen der Pilze der Gattung Amanita zu beißen, die in den Frischen-Steinpilzen-in-Papierkörben-zu-400g versteckt sein könnten, da Knollenblätterpilze aus gutem Grund traditionell eher nicht zum Verzehr empfohlen werden. Auch auf die gesundheitsgefährdenden Bakterien mit dem Namen E. coli und dem Stx1-Gen, die in einem Roquefort-Blauschimmelkäse gefunden wurden, verzichtet man wohl lieber freiwillig.

Das war es dann aber für den Monat Oktober auch schon mit offiziellen Warnmeldungen im Sinne des § 40 des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches. Weitere Erzeugnisse, von denen „eine Gefährdung für die Sicherheit und Gesundheit ausgeht oder ausgegangen ist“ oder die als „nicht gesundheitsschädlich, aber zum Verzehr ungeeignet“ klassifiziert hätten werden können, hatten in den letzten vier Wochen weder die Bundesländer noch das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) ausfindig machen können.

Von dem von Greenpeace gefundenen `Gifteinsatz von der Blüte bis zum Apfel´ sowie den `Pestizid-Cocktails in deutschen Äpfeln´ haben die Behörden entweder nichts mitbekommen oder einen ähnlich kühlen Kopf bewahrt wie die Kollegen von Spiegel Online, die Mitte Juni die Veröffentlichung von `Der bittere Beigeschmack der europäischen Apfelproduktion´ mit der Überschrift kommentierten: `Greenpeace über Pestizide – Viel Drama um fast nichts´.

Was war passiert? Im April 2015 ließ Greenpeace 49 Bodenproben konventionell bewirtschafteter Apfelplantagen aus zwölf europäischen Ländern analysieren und fand in 64 der 85 Proben Rückstände, darunter auch die Aufregerwirkstoffe Dichlordiphenyltrichlorethan (DDT), Carbendazim, Imidacloprid sowie Fluquinazol. Die im alten Land gefundenen 0,184 mg DDT pro Kilogramm Boden lagen dann allerdings um mehr als das 200-fache unter dem Grenzwert, wie er beispielsweise für Kinderspielflächen gilt. „Nachteilige Auswirkungen … nicht zu erwarten“, bzw. „… unkritisch …“ lauteten dann auch die Kommentare des BVL zu den gefundenen Rückstandsmengen.

Im weiteren Saisonverlauf nahm Greenpeace dann Blüten-, Blatt- und Fruchtproben und fand heraus, dass im Obstbau Pflanzenschutzmittel verwendet werden, und dass gegen Ende der Saison weniger häufig als zur Hauptwachstumszeit gespritzt wird. Für diese Mitte Oktober veröffentlichten Erkenntnisse hätte es allerdings keine aufwändige Analytik gebraucht, ein Blick in Ulrich Sachwehs `Der Gärtner´ wäre vollkommen ausreichend gewesen.

Ungesund ist letztendlich nur der Apfel, der aufgrund irreführender Berichterstattung nicht gegessen wird

Tim Jacobsen

Eine Woche später dann der nächste Streich: in 90 von 109 untersuchten Äpfeln aus konventioneller Produktion konnten Pflanzenschutzmittelrückstände nachgewiesen werden. Zum Leidwesen nicht nur des Industrieverbandes Agrar, der das Ganze mit „Greenpeace-Kampagne grenzt an Verbrauchertäuschung“ kommentierte, machte sich von den Kollegen der Publikumspresse keiner die Mühe, die Pressemitteilung von Greenpeace über den dritten Absatz hinaus zu lesen. Dort steht schließlich explizit, dass die Analyseergebnisse nicht bedeuten, „dass der Konsum der Äpfel direkt und akut gefährdend für Konsumenten ist. Hierfür sind die nachgewiesenen Belastungen zu niedrig.“

Im Kampf um Leser konnte aber weder der Stern mit „Deutsche Äpfel sind voller Pestizide“ noch die Frankfurter Rundschau mit einer Eins-zu-eins-Übernahme „Pestizid-Cocktails in deutschen Äpfeln“ einem möglichst reißerischen Aufmacher widerstehen. Den vorläufigen Höhepunkt der Kampagne markierten am 24.10.2015 Greenpeace-Aktivisten, die in mehreren deutschen Städten vor den Filialen verschiedener Supermarktketten mit dem Slogan „Pestizide schaden der Artenvielfalt“ beim Verbraucher aber wohl eher für Verwirrung statt für Aufklärung sorgten.

Dass der Pflanzenschutz keineswegs still und heimlich dabei ist, sich zu einem der großen Greenpeace-Themen zu mausern, lässt sich auch daran ablesen, dass sich im bisherigen Jahresverlauf jede zehnte der über 100 Greenpeace-Presseerklärungen daran abmüht. Fast wünscht man sich zurück in die Zeit der Atommeiler, die als klares Feindbild bei dem in Hamburg ansässigen Verein für Spenden satt sorgten.

Gewisse Parallelen sind dann auch nicht abzustreiten, genauso wie ein Leben ohne Elektrizität kaum mehr vorstellbar ist, ist die regelmäßige Kalorienzufuhr eine unserer wichtigsten Überlebensstrategien. Und genauso wie das Thema Energieerzeugung für den Laien nicht einfach zu ergründen ist, dient die gesamte Lebensmittelproduktion aus Greenpeace-Sicht anscheinend nur dazu, die eigenen Kunden systematisch zu vergiften.

Und das ist der eigentliche Aufreger an der Geschichte: ungesund ist letztendlich nur der Apfel, der aufgrund irreführender Berichterstattung nicht gegessen wird.

Tim Jacobsen

Möglichkeiten über Möglichkeiten

Exklusiver geht kaum: insgesamt nur zwölf Menschen waren jemals auf dem Mond, der letzte im Jahr 1972 – fast genauso schwer zu toppen ist es, der Europäer zu sein, der am längsten im Weltall war. Kein Wunder, war der niederländische Astronaut André Kuipers dann auch einer der Zugvögel des Greentech Summits Anfang Juni, mit dem die umtriebigen Messeorganisatoren den Fokus auf die nächstes Jahr zum zweiten Mal stattfindende Messe gleichen Namens lenken wollten.

Nur achteinhalb Minuten dauert es, bis sich nach dem Start die Raketen lösen und der schwerelose Blick durch das Bullauge auf einmal unseren Globus aus Marsmännchenperspektive zeigt, und, wie Kuipers verriet, viel Schönes, aber auch viel Erschreckendes offenbart. Grund genug, dass sich Kuipers nach seiner aktiven Zeit selbst zum Botschafter des Planeten Erde ernannte und seitdem mit „Wir sind alle Astronauten an Bord des Raumschiffes Erde“ für die Bewahrung unserer Lebensgrundlagen wirbt.

Thematisch hätte der Einstieg in dieses Gipfeltreffen der Gartenbaubranche nicht besser gelingen können, auch, weil Richard van Hooijdonk anschließend Entwicklungen aufzeigte, die unser Leben binnen kurzem ähnlich radikal verändern werden, wie dies die Dampfmaschine im 18. Jahrhundert tat. Er verheimlichte in all seiner Euphorie nicht, dass das hinter Robotik, Internet der Dinge, Wearables sowie 4D-Druck stehende einigermaßen ominöse Big Data auch Orwellsche Fantasien wahr werden lassen kann sowie ganz neue Formen von Kriminalität ermöglicht.

„Wir sind alle Astronauten an Bord des Raumschiffes Erde“

Astronaut André Kuipers

Mit je nach Sichtweise drohenden oder heilsversprechenden Technologien ging es danach munter weiter: Erik Pekkeriet und Martijn Wisse gaben einen Einblick in den aktuellen Stand der Roboterforschung, der sich am ehesten mit `es ist alles möglich´ und `wenn nicht heute, dann auf jeden Fall in Bälde´ zusammenfassen lässt. Allerdings sollte man neben dem nötigen Kleingeld auch ein eher waghalsigeres Naturell besitzen, will man zu den Pionieren gehören.

Tim Clapp führte am Beispiel der sog. Teebeutel vor, dass der B&Q-Claim `One planet home´ mehr als nur heiße Luft in Zeiten von Nachhaltigkeitsdebatten ist, und dass, so ausgereizt Entwicklungen uns auch erscheinen mögen, immer noch deutlich mehr möglich ist. Und so klein der Beitrag dieses speziellen Anzuchtsystems angesichts des globalen Müllaufkommens auch erscheinen mag, so groß können viele kleine Beiträge in der Summe sein. Wie auch der von Alice Wang vorgestellte Obst- und Gemüsesaftkonzentrathersteller Haisheng Fresh Fruit Juice Co., der beim Sprung vom unbedeutenden Saftladen hin zur weltweiten Nr. 1 nicht vergaß, die lokal ansässige Bevölkerung mit auf diese Reise zu nehmen und den Gartenbau in der Region auf ein Niveau zu heben, das international keinen Vergleich zu scheuen braucht. Ähnliches auch von Erik Holm und Ian van Brouwershaven, die den südafrikanischen Farmmogul ZZ2 vorstellten und ihr Programm Natuurboerdery erläuterten, mit Hilfe dessen das viele Millionen schwere Unternehmen seit 2002 vollständig auf Ökolandbau umstellt.

Verstecken muss sich auch der ehemalige Banker Faris Farrag nicht, der mit Bustan Aquaponics eine beeindruckend wassersparende Lösung für den Pflanzenbau in Wüstengebieten vorstellte. Die Verbindung von Gemüsebau und Fischzucht wählten auch die Urban Farmers Roman Gaus und Mark Durno, ohne die derzeit kaum ein Podium auszukommen scheint – wobei das zugrundeliegende Prinzip keineswegs eine revolutionäre Neuentdeckung ist, einmal mehr aber zeigt, dass brillante Ideen ohne jemanden mit Charisma und Durchsetzungsvermögen für immer nur Ideen bleiben.

Ohne Tomaten und Tillapias kommt Bill Watts´ Sahara Forest Project aus. Wie der Name verrät, wurde es für Wüstenregionen konzipiert und verspricht mit einer Kombination technischer und pflanzenbaulicher Maßnahmen reiche Ernten, ohne das Vorhandensein von Süßwasser. Und dass auch in unseren Breiten ohne allzu großen Aufwand noch beträchtlich ökologisiert werden kann, bewies Robert Kielstra am Beispiel des Agriports A7: Durch gezielte Anwerbung von Unternehmen, deren Abfallprodukte gerne von den Unterglasgärtnern verwendet werden, sammelt das Gewächshausgebiet nicht nur in der Außendarstellung Punkte.

So gesehen hätte der Summit auch als Vorschau auf die nächstes Jahr zu erwartenden Neuheiten durchgehen können, wäre da nicht Joseph Simcox gewesen, der schon in jungen Jahren allenfalls auf den Fußballplatz ging, um die dort wachsenden Gräser zu studieren:

Nachdem er in Amsterdam sein Befremden darüber geäußert hatte, dass man anscheinend einen ganzen Tag über Gartenbau reden könne, ohne auch nur einmal das P-Wort Pflanze zu erwähnen, tat er dies zu genüge: anhand einer botanischen Weltreise machte er mehr als deutlich, dass das gegenwärtige Obst- und Gemüseangebot nur einen Bruchteil dessen darstellt, was es weltweit an Essenswertem gibt. Zumal viele dieser Kulturarten dann nicht nur den agronomischen Kennzahlenvergleich mit dem gängigen, züchterisch bearbeiteten Sortiment nicht zu scheuen brauchen, sondern durchaus als kulinarische Leckerbissen durchgehen können und zudem an Lebensumstände adaptiert sind, bei denen unsere Frischethekenstammmannschaft schon lange schlapp macht.

Tim Jacobsen

Der Skandal, der nie aufgeklärt wurde

Von Null auf Krise in vier Tagen: wurde am Abend des 21.5.2011 die Schuld für das verstärkte Auftreten schwerer bakterieller Durchfallerkrankungen in Norddeutschland noch bei den üblichen Verdächtigen gesucht, rückten einen Tag später Obst und Gemüse in den Fokus der Epidemiologen. Von da ab war es nur noch ein kleiner Sprung hin zu reißerischen Verzehrswarnungen, die bei Kantinen- und Supermarktkunden gleichermaßen zu einem Rohkostboykott führten.

Ungewollt markierte das Robert Koch-Institut am 25.5.2011 einen der Höhepunkte der weiteren Entwicklung. Verschiedene Presseagenturen deuteten die Empfehlung des Bundesinstituts „vorsorglich bis auf Weiteres Tomaten, Salatgurken und Blattsalate insbesondere in Norddeutschland nicht roh zu verzehren“ um in ein „Tomaten, Salatgurken und Blattsalate aus Norddeutschland“.

„Es sind die Sprossen“, verkündete Prof. Dr. Reinhard Burger, Direktor des Berliner Robert Koch-Instituts schließlich am 10.6.2011. Niedersachsens Agrarminister Gert Lindemann bezeichnete im Nachrichtenmagazin `Focus´ den Bienenbütteler Bienenhof vielsagend als „die Spinne im Netz“. So erdrückend die Indizienlage auch gewesen sein mag, hatte die Theorie jedoch von Anfang an einen Haken: In keiner der auf dem Hof gezogenen Proben konnte der gefährliche Darmkeim O104:H4 nachgewiesen werden.

Der Sprossenbetrieb wurde stillgelegt, die EHEC-Welle ebbte ab und Bundesverbraucherschutzministerin Ilse Aigner und Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr verkündeten unisono, dass sie die Infektionsquelle „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ gefunden hatten.

„Es sind die Sprossen“

Prof. Dr. Reinhard Burger

Die Krise war bewältigt, Hygienevorschriften, Sicherheitskriterien und Einfuhrvorschriften wurden verschärft, 16 Mio. € Schmerzensgeld für die gebeutelten deutschen Gemüsebauern bereitgestellt – darüber gerieten dann auch die 53 Toten sowie die 3 842 teils schwer erkrankten Menschen schnell in Vergessenheit. Beklagenswert, aber in diesem Sinne nicht weiter verwunderlich, fand dann auch die von Foodwatch im Mai 2012 publizierte Analyse „Im Bockshorn“ genauso wenig Medienecho wie das Mitte Juni 2013 erfolgte Eingeständnis des Robert Koch-Instituts, dass nur ein gutes Zehntel der Erkrankungen erklärt werden kann.

Kommunikationsprofi Björn Wojtaszewski wundert das nicht: „Kommunikativ betrachtet, haben Lebensmittelskandale eine ähnliche Dramaturgie wie das klassische Drama: Ein Missstand wird bekannt. Daraufhin führt ein Schlüsselereignis zur Eskalation. Nach dem Höhepunkt des Skandals beginnt der Spannungsabfall. Konsequenzen werden angekündigt, bis schließlich die vermeintliche Normalität wieder Einzug hält. Das Paradoxe und schwierige ist, dass Krisen heutzutage im Ernährungsbereich schon fast der Normalzustand sind.

In wirtschaftlicher Hinsicht trifft es die Erzeuger dabei besonders hart. Aus kommunikativem Blickwinkel betrachtet, zählen sie meist zu den Verlierern. Das liegt auch daran, weil die Rollen im Meinungsmarkt oft vereinfacht dargestellt werden. Auf der Seite der Guten steht der Verbraucherschutz. Auf der Verursacherseite tummeln sich – im Rollenklischee der Medien – skrupellose Geschäftemacher, schwarze Schafe und Kriminelle.

Dieses Muster kann sich wiederholen, da die Bedeutung und Rolle einer aktiven Kommunikation noch immer sträflich unterschätzt werden.“ Die Ausrede, der Einzelne könne doch überhaupt keinen Einfluss auf das Geschehen nehmen, lässt Wojtaszewski nicht gelten: „Als professionell agierender Erzeuger und Unternehmer muss ich mir über mögliche Risikopotenziale in der Kommunikation rechtzeitig Gedanken machen. Aus kommunikativer Sicht setzt das jedoch voraus, dass ich beispielsweise die Möglichkeiten der Medienkommunikation erkenne. Ich kann diese auch zu meinem Vorteil nutzen und beispielsweise bereits im Vorfeld aktiv kommunizieren, um den Absatz zu fördern. Wer versteht, dass man heutzutage in die Außendarstellung investieren muss, wie in andere Produktionsmittel auch, wie in andere Produktionsmittel auch, der ist meist weiter als viele Wettbewerber.“

Wojtaszewski möchte auf keinen Fall missverstanden werden: „Wenn Todesfälle auftreten, hat der Verbraucherschutz ganz klar die oberste Priorität. Dass eine Warnung vor dem Verzehr bestimmter Nahrungsmittel dann wirtschaftliche Konsequenzen hat, ist unvermeidlich. Nimmt man den Blickwinkel der Erzeuger ein, dann müsste die Frage vielmehr lauten, was sie unternehmen können, um den Schaden mit zielgerichteter Kommunikation wirtschaftlich möglichst zu begrenzen. Aufgrund der weltweiten Markt- und Handelsstrukturen und der Vielzahl der Wettbewerber gibt es hier aber keine Patentlösung.“

Leichtsinnig wäre, darauf zu vertrauen, dass Verbände oder Ministerien im Fall der Fälle Lösungen aus dem Hut zaubern können: „Professionelles Krisenmanagement setzt voraus, dass die Betroffenen möglichst schnell und angemessen kommunizieren und den weiteren Krisenprozess verantwortungsvoll mitbegleitet.“ Die Grundsteine dafür müssen im Vorfeld gelegt werden.

Tim Jacobsen

Das Internet der Blumen

War es in der Elterngeneration der sich heutzutage auf halbem Wege zwischen Schule und Verrentung befindlichen Mittvierziger der Siegeszug des PCs, der beruflich und privat so manchen überrollte, gelten die Kinder dieser auch Generation X genannten Altersgruppe als erste echte `Digital Natives´: Schon im zartesten Kindesalter unausweislich mit Smartphones und Tablets konfrontiert, unterscheidet sich der Umgang der nach 2000 geborenen mit der mobilen Allverfügbarkeit von Computergeräten gravierend von der `etwas´ reservierteren Haltung ihrer Altvorderen.

Von daher könnten die Internetpropheten durchaus Recht haben, die behaupten, dass die Jüngeren und Jüngsten die Deutungshoheit über das Internet schon längst übernommen haben. Weshalb Entwicklungen wie die Quantified Self-Bewegung einhergehend mit dem permanenten, öffentlichen Erbringen von Leistungsnachweisen zwar vielleicht bei denen mit den ersten grauen Haare ein sicherlich nicht unberechtigten Kopfschütteln führen, als Ganzes aber eine wahrscheinlich unumkehrbare Richtung vorgeben.

Gleichzeitig passiert im mehr oder weniger Verborgenen etwas, was die Einführung neuer Technologien seit jeher begleitet hat: es werden haufenweise Dinge entwickelt, deren praktischer Nutzen zumindest auf den ersten Blick zweifelhaft ist. Dabei ist es aber in gewisser Weise so, dass es ohne den letztendlichen Entwicklungsschritt unmöglich wäre, über den tatsächlichen Nutzen dieser Erfindungen Aussagen treffen zu können. Und natürlich gehen die Entwicklungen oft in eine Richtung, aus der auch das große Geld winkt. Und das ist dann gemeinhin häufig der Pharmabereich.

So stand auch bei den Touchables, die Mitte Februar auf den Markt kamen, ursprünglich ein Projekt Pate, das Menschen mit Gedächtnisschwierigkeiten dabei helfen sollte, ihren Alltag mit Hilfe funkchipcodierter Buttons und der Gedächtnisstütze in Form eines Smartphones einfacher meistern zu können. Allerdings zeigte sich, dass die Generation, die hauptsächlich mit Erinnerungsverlusten zu kämpfen hat, eben auch nicht die technikaffinste Bevölkerungsschicht ist. Viel eher lassen sich von so etwas dann die Jüngeren begeistern.

Und die bringen dann ja auch eine Menge Vorteile mit sich: Zum einen haben sie überhaupt keine Scheu vor der Nutzung technischer Innovationen, zum anderen ist ihnen der permanente Einsatz von mobilen Endgeräten bereits derart in Blut und Fleisch übergegangen, dass sie es in keinster Weise seltsam finden, von ihrem Telefon daran erinnert zu werden, Obst zu essen oder die Blumen zu gießen. Und genau das ist, was die Touchables neben Dingen wie Autos wieder zu finden oder den Süßigkeitenkonsum zu zügeln können.

Ursprünglich stand bei den Touchables ein Projekt Pate, das Menschen mit Gedächtnisschwierigkeiten dabei helfen sollte, ihren Alltag mit Hilfe funkchipcodierter Buttons und der Gedächtnisstütze in Form eines Smartphones einfacher meistern zu können

Julian Pye

Und das funktioniert so: Buttongroße Aufkleber werden beispielsweise an der Obstschale oder  dem Blumentopf befestigt. In diesen Aufklebern sitzen nun Antennen, die mit dem Smartphone kommunizieren können. In erster Linie liest das Telefon in einem begrenzten Umkreis dann eine Art Identifikationsnummer des Buttons aus. Und diese lässt sich mit Hilfe der dazugehörigen App mit weiterer Information füllen. So kann beispielsweise der Blumentopf mit der Information „Bitte alle drei Tage gießen“ verknüpft werden. Denkbar ist auch eine Obstschale mit „Fünf am Tag“ oder die Bonbonniere mit „Nicht mehr als fünf am Tag“.

Ist es dann soweit, dass die Blumen wieder einmal gegossen werden müssen oder die gesundheitsfördernde Mindestanzahl von Obst und Gemüsen noch nicht erreicht bzw. die Süßigkeitenanzahl überschritten ist, bekommt der Nutzer einen freundlichen Hinweis auf sein Display. Im Fall der Blumen und der Obstschale kann der Warnhinweis mit dem Scannen des entsprechenden Buttons abgestellt werden, im Fall der Süßigkeiten hilft wohl nur, zumindest den Button aus der Funkreichweite des Telefons zu halten.

Und das muss dann ja bei weitem noch nicht das Ende der Fahnenstange sein: Warum nicht beispielsweise die Codierung mit Informationen zum Produkt spicken? So könnte beispielsweise der Blumentopfbutton auf Informationen in einer Datenbank zurückgreifen, die sortenspezifisch mit Standortdaten und Wetterprognosen verknüpft eine zumindest semiprofessionelle Bewässerungssteuerung auf der Fensterbank erlauben würde – und dies ganz ohne kostspielige Sensoren.

Genauso ließe sich auch der Diätplan unter Einbeziehung persönlicher Vorlieben, Aktivitätsmuster und Gesundheitsrisiken spielend leicht in Richtung Obst- und Gemüseverzehr lenken. Natürlich sollte man datenschutzrechtliche Bedenken nicht auf die leichte Schulter nehmen – die kaum vorstellbare Anzahl von innerhalb eines Zeitraums von nur sieben Jahren weltweit verkauften 650 Mio. iPhones, die ja dann in den meisten Fällen doch hauptsächlich als Zugangsportale zu den sozialen Medien genutzt werden, zeigt aber, dass diese Bedenken generell weniger schwer wiegen, zumal die Marke mit dem angebissenen Apfel ja auch nur einen kleinen Teil des Smartphonemarktes abdeckt und es die gesamte Produktkategorie vor 2007 ja auch noch überhaupt nicht gab.

Tim Jacobsen

Da geht noch was

Zwar erreicht er nur zwei Drittel des weltweiten Umsatzes des Brauseherstellers Coca Cola, aber immerhin 26 Mrd. € schwer soll er sein, der europäische Markt für Zierpflanzenprodukte. Verteilt auf die 213 Mio. Haushalte, die derzeit die Europäische Union bevölkern, macht das im Jahr 121,50 € pro Haushalt – dass das noch nicht das Ende der Fahnenstange sein kann, wird einem spätestens dann klar, wenn man sich bewusst macht, dass dies gleichzeitig bedeutet, dass pro Haushalt weniger als 2,50 € in der Woche für Zierpflanzen ausgegeben werden.

Am einfachsten aufpolieren ließe sich die Statistik, wenn es gelingen würde, das in Umfragen ermittelte Drittel der Bevölkerung, das in den letzten drei Monaten weder Schnittblumen noch Zimmer- oder Gartenpflanzen gekauft hat, als Kunden zu gewinnen. Schließlich sollte es gar nicht allzu schwierig sein, auf in Umfragen ungestützt vorgebrachte Gründe wie `zu teuer´, `zu kurz haltbar´, `keine Zeit für den Einkauf´ oder `kein Anlass, jemanden zu beschenken´ eine passende florale Antwort zu finden.

Geht man der Preisfrage auf den Grund, fällt auf, dass dies hauptsächlich von der Damenwelt so empfunden wird – mitunter könnte dies eine Folge davon sein, dass Frauen vergleichsweise oft Blumen geschenkt bekommen und nur selten selbst als Kundinnen im Laden stehen. Ganz falsch kann Mann mit so einem Blumengeschenk statistisch gesehen ja auch gar nicht liegen: rund zwei Drittel der in einer ABN AMRO Studie befragten Damen gaben an, sich über blumige Mitbringsel zu freuen.

Dahingegen scheint nur jeder zehnte Mann regelmäßig Blumen geschenkt zu bekommen; angesichts dessen, dass mehr als ein Drittel der befragten Herren angibt, sich über Blumengeschenke zu freuen, ist damit auch gleich die nächste unterversorgte Zielgruppe entdeckt. Und auch die Jüngeren, denen oft nachgesagt wird, mit Tradition nichts am Hut zu haben, scheinen in Wirklichkeit ganz anders zu ticken: knapp die Hälfte der befragten Youngsters gab an, sich über Blumen zu freuen und erreichen als eigene Alterskohorte damit fast die Umfragespitzenwerte der über 50-Jährigen.

Um den Vorwurf der mangelnden Haltbarkeit zu entkräften, bräuchte man nur wenige Stunden: während Verbraucher erwarten, dass Blumensträuße statistisch errechnete 9,28 Tage vorzeigbar bleiben, erreichen sie im Schnitt nur 8,99 Tage. Interessant dabei ist, dass Verbraucher beim Einkauf im Supermarkt ihre Haltbarkeitserwartung im Gegensatz zum Einkauf im Fachhandel deutlich niedriger ansetzen und die dort verfügbare Ware diese Erwartung dann auch nahezu zu erfüllen scheint.

Wollte man nun den Absatz ankurbeln, bräuchte man wahrscheinlich gar nicht allzu viel zu verändern: Wenn Frische alles entscheidend ist, führt kein Weg daran vorbei, die Effizienz der Vermarktungskette weiter zu steigern, auch wenn dies kaum mehr möglich zu sein scheint. Um aber die Erwartungshaltung der Konsumenten zu übertreffen, kann die Kette letztendlich gar nicht kurz genug sein. Netter Nebeneffekt: je früher Ware präsentiert werden kann, desto länger ist der mögliche Verkaufszeitraum und desto weniger müsste weggeworfen werden.

Und die Freude beim Konsumenten wird immer größer, denn auch ein anderer, immer wieder genannter Blumenkaufsverhinderungsgrund lässt sich mit modernen Warenwirtschaftssystemen leicht ausräumen: Wenn es nun einmal so ist, dass Kunden auch im Blumenladen gerne Schnäppchen schießen wollen, warum nicht aus dem Ärgernis eine Tugend machen? Ware, die dringend verkauft werden muss, wird mit deutlichem Preisabschlag angeboten. Bisher funktioniert das sog. Dynamic Pricing so richtig gut nur in die andere Richtung und sorgt für Preisaufschläge an Blumenschenktagen wie dem 14. Februar – dass die Vorratshaltung in Vorbereitung auf diese Großkampftage in Verbindung mit erhöhten Preisen dann beim Konsumenten oft für lange Gesichter sorgt, betont nur noch einmal, dass der Kunde gerne ernst genommen werden möchte.

Verteilt auf die 213 Mio. Haushalte, die derzeit die Europäische Union bevölkern, macht das im Jahr 121,50 € pro Haushalt

Tim Jaocbsen

Und selbst wenn neun Zehntel der Befragten im Laufe des letzten Jahres zum Teil wegen grundsätzlicher Bedenken oder auch, weil die Ware nicht im herkömmlichen Sinne sichtbar ist und deshalb verstärkt Qualitätsprobleme vermutet werden, keine Zierpflanzenprodukte online gekauft haben, steckt in diesem Vermarktungsweg eine Vielzahl von Möglichkeiten, mit denen sich dann die Blumenkaufverhinderungsgründe drei und vier ausräumen lassen.

Und das geht ganz ohne mit Kundenkarten, sozialen Medien, dem Internet oder Big Data gewonnenen Erkenntnissen: Maßgeschneiderte Blumen- oder Pflanzenabos können helfen, im übertragenen Sinne Zeit für den Einkauf und den passenden Anlass, jemanden zu beschenken, zu finden – und auch danach nicht wieder zu vergessen. Denkt man noch einen Schritt weiter, werden mit Sicherheit unter Zuhilfenahme von Kundendaten in nicht allzu ferner Zukunft unter der Onlinehändlerkategorie „Dann haben wir die folgende Auswahl für Sie“ auch Zierpflanzen auftauchen.

Natürlich könnte man sich auch zurücklegen und darauf vertrauen dass kein Ende der gesellschaftlichen Entwicklung, die seit 2005 zu einem Zehntel mehr an Haushalten, gleichbedeutend mit einem Zehntel mehr an Fensterbänken, Gärten und Balkonen, geführt hat, in Sicht ist und uns die Zukunft wahrscheinlich fast automatisch mehr und mehr potentielle Kunden bescheren wird.

Dennoch ist deutlich mehr möglich – packen wir es an!

Tim Jacobsen

Zitat:

Verteilt auf die 213 Mio. Haushalte, die derzeit die Europäische Union bevölkern, macht das im Jahr 121,50 € pro Haushalt

Gedanken zur stillen Jahreszeit

Wäre die deutsche Fußballnationalmannschaft nicht drei Spiele nach dem auch von Per Mertesacker selbst holprig empfundenen Auftritt gegen Algerien noch Weltmeister geworden, hätte die Reaktion des ehemaligen Bremer Abwehrchefs auf die Fragen des ZDF-Reporters Boris Büchler mit Sicherheit ähnlichen Kultstatus erreicht wie Trappatonis „Ich habe fertig“.

Halb Spaß, halb Ernst wurde Anfang Juli dieses Jahres gar ein Mertesacker-Syndrom kreiert, mit der eine Art wurstige Zufriedenheit mit dem Erreichten diagnostiziert werden sollte. Was aber soll man, kurz nachdem man in einem weltweit beachteten Turnier die Runde der besten acht erreicht hat, auch auf Fragen wie „Dass man sich noch steigern muss, denke ich, müsste auch Ihnen klar sein?“ antworten?

Auf den Gartenbau übertragen hieße dies: kaum ist der letzte Salat geschnitten, endgültig kein Apfel mehr am Baum oder der CC vollbepackt im LKW verschwunden – schon muss man der gierigen Pressemeute Auskunft geben auf Fragen wie „Das kann doch nicht das Niveau sein, das Sie sich davor ausgerechnet haben?“.

Davon abgesehen, wäre es denn nicht eigentlich auch viel sympathischer gewesen, wäre statt Helene Fischers Auftritt auf der Berliner Fanmeile Per Mertesackers „Ich kann diese ganze Fragerei nicht verstehen“ in Erinnerung geblieben? Stünde uns denn nicht allen ab und an ein „Ich lege mich jetzt drei Tage in die Eistonne … und dann sehen wir weiter“ gut zu Gesicht?

So aber lässt der Alltag kaum Raum für das Mertesackerische „Mir ist völlig wurscht wie“ – ganz so als würde an permanenter Höchstleistung kein Weg vorbei führen. Was aber könnte denn passieren, wenn wir alle die Dinge einmal etwas weniger verbissen sehen würden?

Hätte die europaweite Intensivierung des Kernobstanbaus nicht ein vor Jahren noch unvorstellbares Niveau erreicht, könnte die EU-Kommission Däumchen drehen und müsste sich nicht mit „Sonderstützungsmaßnahmen für Erzeuger von bestimmtem Obst und Gemüse“ beschäftigen.

Stünde uns denn nicht allen ab und an ein „Ich lege mich jetzt drei Tage in die Eistonne … und dann sehen wir weiter“ gut zu Gesicht?

Tim JAcobsen

Auch am anderen Ende des Alphabets beginnt sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass die Ertragsmaximierung kein Allheilmittel zur Renditeerhöhung sein kann. So gibt es dann von Apfel bis Zwiebel zahllose Kulturen, mit denen gegenwärtig letztendlich nur Geld verdient werden kann, wenn gleichzeitig irgendwo anders Gärtnerkollegen aufgrund oftmals nicht in ihrer Verantwortung liegender Umstände leer ausgehen.

Dazu kommt, dass der Preis für das ganzjährige `höher, weiter und schneller´ beträchtlich ist. Kaum eine Vortragsveranstaltung, die etwas auf sich hält, kommt derzeit ohne Burn Out im Programm aus. Es ist ja auch schon lange nicht mehr so, dass `zwei grüne Daumen´ reichen würden – genauso wie von Fußballspielern erwartet wird, dass sie zu jeder Tages- und Nachtzeit zitierfähige Beiträge zu gesellschaftspolitisch relevanten Debatten liefern, sollen Gärtner neben der Produktion die Vermarktung im Griff haben und darüber hinaus jederzeit öffentlichkeitswirksam im Sinne des Berufsstandes tätig sein.

Manches wurde aber auch einfacher: Ähnlich wie mancher Fußballfan erst einmal Tradition vorschiebt, um missliebige Konkurrenz außen vor zu halten, und sich letztendlich dann aber doch mit der höheren Attraktivität des großen Ganzen zu arrangieren weiß, haben in der leidigen Umweltdiskussion ursprünglich verfeindete Lager zueinander gefunden.

Von ein paar Dinosauriern abgesehen gibt es niemanden mehr, der eine strikte Trennlinie zwischen Ökoanbau und Konzepten wie kontrolliert-integrierter Produktion ziehen wollte – auch wenn das eine so viel publikumswirksamer als das andere erklärt werden kann.

Vielleicht kommen wir ja tatsächlich bald einmal an den Punkt, an dem wir mit Fug und Recht behaupten können: Optimaler als wir das derzeit machen, lassen sich Nahrungsmittel nicht produzieren. Und vielleicht gibt es dann nicht mehr 365 Tage im Jahr Erdbeeren im Supermarkt, vielleicht gäbe es dann auch einmal Tage, an denen im Salatsortiment Lücken wären oder die Floristen nicht aus dem Vollen schöpfen könnten – aber wäre es denn tatsächlich ein Weltuntergang, wenn dank der Angebotsverknappung auch das Preisgefüge ein höheres Niveau erreichen würde?

Es gibt Kollegen, die empfinden angesichts des allgegenwärtigen Überflusses die modern gewordene Rückbesinnung auf die Nutzfunktion von Hausgärten absurd, wie viel absurder aber ist eigentlich das Warenangebot, das mittlerweile in jeder mittelgroßen Stadt nahezu rund um die Uhr verfügbar ist?

Ähnlich, wie man vortrefflich darüber diskutieren kann, ob der Ökoanbau in seiner intensiven Form ressourcenschonender ist als die konventionelle Produktion und damit beim Verbraucher allenfalls ungläubiges Staunen erntet, sollte nicht das Trennende, sondern das Gemeinsame im Vordergrund stehen. Allen, die das anders sehen, sollte man auf gut Mertesackerisch antworten: „Was wollen Sie jetzt von mir … ich kann Sie nicht verstehen.“

Tim Jacobsen

Wirtschafts(t)räume

Natürlich sind knapp 8 000 € Brutto-Monatslohn eine Menge Geld, selbst wenn dies nur gut einem Drittel der Bezüge eines Richters am Europäischen Gerichtshof entspricht – zumal diese Summen ja nicht umsonst offiziell Grundgehalt genannt werden. Und natürlich könnten die 33 000 allein bei der EU-Kommission beschäftigten Beamten zusammengenommen die meisten deutschen Fußballstadien füllen, ohne dass allzu viele Eintrittskarten in den freien Verkauf kämen.

Führt man sich dann aber einmal vor Augen, dass die Stadt Köln allein rund 17 000 Angestellte beschäftigt und es mittlerweile in wohlhabenderen EU-Ländern schwierig geworden ist, mit dem oben genannten Grundbezug für EU-Parlamentarier qualifizierte Kandidaten hinter dem Ofenrohr hervor zu locken, relativiert dies so manche Kritik an Europa – zeigt aber auch, in welchem Ausmaß wir den gegenwärtigen Status quo als selbstverständlich erachten, und über so manchen durchaus beklagenswerten Detail nur allzu schnell das große Ganze aus den Augen verlieren.

Es ist gerade einmal 25 Jahre her, dass zwischen den Kommunalwahlen im Mai und den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR-Gründung im Oktober gewaltfreie Initiativen die so genannte friedliche Revolution einleiteten; ein Ereignis, das unser Verständnis von Europa im Sinne des „Alle Menschen werden Brüder“ der Europahymne auf radikale Weise veränderte. Wie fragil dieses „Eines Freundes Freund zu sein“ in Wirklichkeit jedoch ist, zeigen die Entwicklungen in der Ukraine. Nicht wenige Kommentatoren entstaubten angesichts der Bedrohungslage ihr Eiserner Vorhangs-Vokabular; überwunden geglaubte Ost-West Ressentiments wurden erfolgreich wiederbelebt.

Anscheinend braucht es also den Fastentag, um den Sonntagsbraten wertschätzen zu können. Ähnliche Ideen treiben auch so manchen wenig liebevoll „Eurokrat“ genannten Wahlbrüsseler um: Ein „Nicht-Europa-Tag“ einmal im Jahr könnte mit Grenzkontrollen und allem, was bis zur Einführung des freien Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr Anfang 1993 gang und gäbe war, das bisher Erreichte vor Augen führen. Zudem es ja auch kaum wissenschaftliche Literatur gibt, die anzweifelt, dass Freihandel der Wohlfahrt eines Landes mehr dient als Protektionismus.

Ohne Liberalisierung des Welthandels gäbe es auch keine Globalisierung – und so wenig tolerierbar manche Auswüchse des weltweiten Geschäftemachens auch sind, lassen die Zahlen keine Zweifel daran aufkommen, dass mit zunehmender Einbindung in den Welthandel die Armut in Ländern wie Indien oder China deutlich abnahm.

Eigentlich hätte es also für die mittlerweile über 500 000 Unterzeichner einer Online-Petition, die den (Noch-)EU-Handelskommissar Karel De Gucht sowie den (Noch-)EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz auffordert, die Verhandlungen über das so genannte TTIP-Abkommen zu beenden, gar keinen Anlass geben sollen, schließlich versprechen die wirtschaftlichen Zugewinne klingelnde Kassen: Die EU darf auf 119 Mrd. € jährlich hoffen, die USA auf 95 Mrd. €.

„Deshalb sind diese Abkommen gut für uns“

Dr. Angela Merkel

Wären da nicht zumindest drei ungeklärte Fragen: Was im Einzelnen in der mittlerweile fünften Runde seit Juli 2013 verhandelt wird, ist nicht bekannt. Auch, wer im Einzelnen verhandelt, ist nicht bekannt – genauso wie nicht bekannt ist, wer am Ende über den Vertrag abstimmen wird. Die Bundeskanzlerin verwies Mitte Mai im Europawahlkampf darauf, dass die EU über etliche Freihandelsabkommen mit anderen Ländern verfüge „und die EU hat jedes Mal ein Mehr an Umweltschutz, ein Mehr an Verbraucherschutz herausgehandelt“.

Dr. Angela Merkel betonte: „Deshalb sind diese Abkommen gut für uns.“ Auch den Vorwurf mangelnder Transparenz wies die Kanzlerin von sich: „Wenn ich alles sofort auf den Tisch lege, dann kriegt man meistens nicht das beste Verhandlungsergebnis“ – was angesichts der Abhöraktivitäten der amerikanischen Geheimdienste durchaus auch ironisch gemeint gewesen sein könnte.

Chlorhähnchen, Genmais und Hormonfleisch waren neben dem Investorenschutz die Schlagworte, mit denen der Parteitag der Grünen die TTIP-Debatte Anfang Februar überhaupt erst ins Rollen brachte. Während die unversehrte Rückkehr so gut wie aller USA-Urlauber eindrucksvoll belegt, dass der Konsum von Chlor, Gen und Hormon, in was für Kombinationen auch immer, nicht unbedingt zum sofortigen Ableben führen muss, ist die Problemlage beim Investorenschutz etwas heikler:

Ursprünglich sollten derartige Abkommen Investoren vor Enteignung schützen – das Beispiel der schwedischen Vattenfall, die sich den deutschen Atomausstieg mit 3,5 Mrd. € vergolden lassen will, zeigt jedoch, wie Konzerne über den Umweg der Schiedsgerichte gegen unliebsame Gesetze vorgehen können, zumal diese Schiedsverfahren sich jeglicher demokratischer Kontrolle entziehen und auch keinerlei Berufungsverfahren vorsehen.

Es lohnt sich also durchaus, Fragen wie „Wo finden die Debatten statt? In welcher Form kann man sich engagieren? Wie stehen Parteien und Politiker zu den einzelnen Themen?“ zu stellen und nicht resigniert davon auszugehen, dass dies womöglich die `falschen´ Fragen in unserer globalisierten Welt sein könnten.

Tim Jacobsen

Friedrich geht, Schmidt kommt

Es war ein bisschen geflunkert, als Dr. Hans-Peter Friedrich bei der Eröffnungsveranstaltung der Internationalen Grünen Woche damit kokettierte, erst einen Monat im Amt zu sein – schließlich hatte er als Innenminister nach Ilse Aigners Repatriierung bereits Ende September die kommissarische Leitung des BMELV übernommen, das er dann ab seiner Ernennung eine Woche vor Heiligabend bis zu seinem Rücktritt am Valentinstag, als ein im Titel um den Verbraucherschutz beraubtes Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft führte.

Einen aus Gartenbausicht besseren Termin zur offiziellen Amtseinführung hätte es dann aber auch gar nicht geben können, schließlich stehen in der Nachweihnachtszeit traditionell die Branchenhighlights Grüne Woche, IPM, Fruit Logistica sowie BioFach unmittelbar bevor. Gelegenheiten genug, um, wie der Minister im Berlin erklärte, „vom Obstbauern am Bodensee bis zum Getreidebauern in Mecklenburg, vom Milchbauern in Allgäu und Oberfranken bis zum rheinländischen Gemüsebauern, vom Hopfenbauern aus Oberbayern bis zum Winzer an Rhein, Mosel und Saale“ all diejenigen kennenzulernen, deren Schicksal mit der Amtsübergabe in Friedrichs Hände gelegt wurde.

Die größten Sorgen hatte Friedrich schnell ausgemacht und versprach zur Eröffnung der Grünen Woche Planungssicherheit, Schutz des Eigentums sowie die Umsetzung der im Wahlkampf gemachten Versprechen. In Essen stellte er in Aussicht, die Passage des Koalitionsvertrages `Die Potentiale zur Energieeinsparung im Gartenbau sollen stärker genutzt werden´ mit Leben zu füllen, die bisherige Förderung des Agrardiesels beizubehalten sowie eine pauschale Reduzierung des Pflanzenschutzmitteleinsatzes auch zukünftig vehement ablehnen zu wollen.

Friedrich zeigte sich Ende Januar bestens informiert, als er zurückgreifend auf die Erkenntnisse des zweiten Zukunftskongresses das IPM-Eröffnungspublikum in die Pflicht nahm, dafür zu sorgen, dass Gartenbauprodukte zukünftig stärker nachgefragt und nicht zu Dumpingpreisen und in ihrer Bedeutung entwertet verschleudert werden. Friedrich lieferte die Problemlösung gleich mit: mit innovativen Produkten und Dienstleistungen sowie einem differenzierteren Eingehen auf die unterschiedlichen Konsumentengruppen könne die vom Konsumenten empfundene Wertigkeit gartenbaulicher Produkte gesteigert und so beispielsweise Blumen und Pflanzen beim Konsumenten als „hochwertiger Bestandteil im Leben“ verankert werden.

Eine EEG-Novellierung, die nicht zu einer Mehrbelastung des Gartenbaus führt, sowie die Einführung der steuerlichen Risikoausgleichsrücklage, wären ein guter Anfang

Tim Jacobsen

Ähnliches dann auf der Fruit Logistica: „Die Branche ist gefordert, den Konsum von Obst und Gemüse anzukurbeln, neue Trends zu erkennen, Marktlücken zu suchen und zu besetzen. Wir müssen auf Frische, Qualität und Transparenz setzen und zusehen, dass wir den Konsum weiter steigern – im Interesse der Betriebe und des Handels, aber auch im Interesse einer gesunden Ernährung.“ Abends bei der German Fruit Traders Night betonte Friedrich dann die zunehmende Bedeutung der Vermarktung von Lebensmitteln aus der Region und verwies auf das `Regionalfenster´, das Friedrich zufolge eine hervorragende Möglichkeit ist, regionale Produkte verlässlich und transparent zu vermarkten.

Am Eröffnungstag der Jubiläumsausgabe der BioFach schließlich erweiterte Friedrich den Regionalbegriff um das Thema Bio: „Regionale Bioprodukte liegen im Trend. Das bestätigt neben Umfragen auch das konkrete Kaufverhalten der Verbraucher. Daher sollte es unser gemeinsames Ziel sein, den Anteil an regionalen Bioprodukten zu steigern, zumal Produktion, Verarbeitung und Handel in den ländlichen Regionen auch aktiv zur Stärkung der Wirtschaftskraft vor Ort beitragen.“

Zwei Dinge lagen dem Minister zwei Tage vor seinem Rücktritt in Nürnberg dann noch besonders auf dem Herzen: „Ökologisch wirtschaftende Betriebe benötigen weiterhin attraktive Prämien, die die besonderen Ökosystemleistungen honorieren. Nur so bleibt der Anreiz für eine ökologische Bewirtschaftung erhalten“ sowie im Hinblick auf die geplante Revision der EU-Ökoverordnung „Weiterentwicklung und Anpassung sind wichtige Elemente einer zukunftsfähigen Branchenentwicklung. Dies gilt ganz besonders für einen sauberen Wettbewerb mit echten und qualitativ hochwertigen Bioprodukten. Daher begrüßen wir die Anstrengungen der Kommission grundsätzlich: Wo Bio draufsteht, muss auch Bio drin sein.“

Es blieb wohl niemandem verborgen, dass Friedrich als Landwirtschaftsminister in den knapp neun Wochen seiner Amtszeit in der grünen Branche auffallend viel Präsenz zeigte, was nach dem aus gartenbaulicher Sicht eher bescheidenen Ergebnis der Koalitionsverhandlungen für Aufatmen unter den berufsständischen Vertretern sorgte. Das damit allerdings automatisch einhergehende Dilemma verdeutlichte Friedrich zum IPM-Auftakt in Essen: „Ja, ich habe in meiner Rede auf der Grünen Woche in Berlin den Gartenbau gleich dreimal erwähnt, ganz absichtlich. Und prompt liegen mir schon die Beschwerden der Forstwirte und Teichwirte auf dem Tisch.“

Es bleibt zu hoffen, dass der frischgekürte Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt den Gartenbau auch ohne Besuch der deutschen Weltleitmessen ernst nimmt und für die dringlichsten Sorgen und Nöte der Gärtner ein offenes Ohr hat: Eine EEG-Novellierung, die nicht zu einer Mehrbelastung des Gartenbaus führt, sowie die Einführung der steuerlichen Risikoausgleichsrücklage, wären ein guter Anfang.

Tim Jacobsen

Turbulente Tage in Essen

Es wurde im Nachgang viel darüber spekuliert, ob die 1,3 Mio. stimmberechtigten Bürger am 9.11.2013 tatsächlich die Frage „Sind Sie dafür, dass sich die Landeshauptstadt München zusammen mit der Marktgemeinde Garmisch-Partenkirchen und den Landkreisen Berchtesgadener Land und Traunstein um die Olympischen und Paralympischen Winterspiele 2022 bewirbt?“ beantworteten oder ob vielmehr die Machenschaften des IOCs zur Abstimmung standen.

Letztendlich genügten rund 200 000 Stimmen, den Traum von `Olympia dahoam´ platzen zu lassen. Ein Umstand, der Franz Beckenbauer dazu verleitete, ein etwas großzügigeres Demokratieverständnis zu offenbaren: „Ich bin mir nicht sicher, ob man zukünftig immer das Volk befragen sollte. Früher hat es auch ohne Bürgerentscheide Großereignisse gegeben. Die Gegner sind eben immer aktiver. Die gehen alle zur Wahl hin und nehmen noch ihre Großmutter mit.“

Kaiserliche Gedanken könnten am Abend des 19. Januars auch den Unterzeichnern der Charta „Pro Messe Essen“ durch die Köpfe gegangen sein: Bei einer Wahlbeteiligung von 28,8 % votierten 66 000 Essener Bürgerinnen und Bürger gegen die so genannte Ertüchtigung der Messe Essen. Paradoxerweise musste in Essen die Frage „Sind Sie dafür, dass der Beschluss des Rates der Stadt Essen vom 17.7.2013 über den Neubau der Messe für 123 Mio. € aufgehoben wird und die Messe-Aufsichtsratsmitglieder verpflichtet werden, die Neubauplanung abzulehnen?“ bejaht werden, um dagegen sein zu können.

Am Ende genügten 1 000 Stimmen Vorsprung, um die 123 Mio. € teuren Messemodernisierungspläne (wenn schon nicht zu begraben, so doch zumindest) erst einmal auf sehr kaltes Eis zu legen. Als im Juli 2013 der Essener Rat beschloss, die Messe rundzuerneuern, stimmte mit SPD, CDU, FDP und EBB noch eine äußerst breite bürgerliche Mehrheit für die Messepläne. Rund 16 000 fristgerecht abgelieferte Unterschriften setzten Ende Oktober den Wahlkampf in Gang.

Und da standen dann auf einmal dem verkürzt auf Schlagzeilen schwer vermittelbaren internationalen Messegeschäft unzählige, Tag für Tag erfahrbare Schlaglöcher sowie unterfinanzierte Kindertagesstätten gegenüber. Leichte Beute also für die Ertüchtigungsplangegner, die genüsslich an die „Beinahe-Pleite vor zwei Jahren“ sowie „millionenschwere jährliche Zuwendungen“ erinnerten und die Modernisierungspläne in eine Reihe mit Stuttgart 21, Elbphilharmonie und Hauptstadtflughafen stellten.

Mit dem Ergebnis des Bürgerentscheides wurde aber nicht nur die Arbeit von sechs Jahren Vorbereitungszeit zunichte gemacht und finanzielle Aufwendungen in Millionenhöhe handstreichartig entwertet; es ist nicht auszuschließen, dass weitere Messeveranstalter angesichts des vorläufigen Modernisierungs-Aus´ den Lockrufen konkurrierender Messegelände erliegen und somit den Standort Essen weiter schwächen könnten.

Solange keine Waffengleichheit unter den Messebetreibern herrscht, wird das Wettrüsten kein Ende nehmen

Tim JAcobsen

Womit niemandem geholfen wäre, schließlich hatte der Versuch, am finanztechnisch großen Rad zu drehen, Anfang des Jahrtausends wie in vielen anderen Kommunen zwar kurzfristig für Liquidität gesorgt, einhergehend mit dem so genannten Cross-Border-Leasing waren allerdings auch Verpflichtungen eingegangen worden, die weitreichender kaum hätten sein können: Knapp zwanzig Jahre muss der Messebetrieb in Essen noch aufrechterhalten werden, andernfalls drohen Strafzahlungen in einer Höhe, die den Weiterbetrieb bis 2032 als deutlich günstigere Option erscheinen lassen.

Auch wenn bei den Messebetreibern in Essen eine Woche nach Bekanntgabe des Ergebnisses des Bürgerentscheids noch deutlich zu spüren war, dass mit einem anderen Abstimmungsergebnis gerechnet worden ist, fehlte zum IPM-Auftakt von Schockstarre jede Spur. Ganz im Gegenteil: bis Ende März gaben die politischen Entscheidungsträger aller im Essener Rat vertretenen Fraktionen Ende Januar der Geschäftsführung der Messe Essen Zeit, Lösungsvorschläge zu erarbeiten, wie sich die Positionierung Essens als Place of Events für die Zukunft sichern lässt.

Ob das Ganze dann Ertüchtigung heißen wird oder vielleicht schlicht Modernisierung, weiß heute noch niemand mit Sicherheit zu sagen. Das Einzige, das zweifelsfrei feststeht, ist, dass der zunichte gemachte finanzielle und personelle Aufwand in der Durchführung der Baumaßnahme wohl am besten aufgehoben gewesen wäre. Schließlich stand in Essen am 19.1.2014 ja nicht die auch über unsere Landesgrenzen hinaus weit verbreitete Praxis, defizitäre Messegesellschaften mit öffentlichen Geldern am Leben zu erhalten, zur Abstimmung. Und auch wenn einem dies als Steuerzahler sauer aufstößt: Solange keine Waffengleichheit unter den Messebetreibern herrscht, wird das Wettrüsten kein Ende nehmen.

Tim Jacobsen

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