Will ein Land zu den 24 bevölkerungsreichsten Staaten der Welt zählen, muss es mehr als 60 Mio. Einwohner aufweisen – und damit genauso vielen Menschen ein Zuhause bieten, wie letztes Jahr weltweit auf der Flucht waren. Ist diese Zahl für sich genommen schon erschreckend genug, sind es die Zuwachsraten noch viel mehr: knapp ein Fünftel mehr als 2013 – und ein Ende der Entwicklung ist nicht abzusehen.
Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, António Guterres, befürchtet gar: „Wir geraten in eine Epoche, in der das Ausmaß der globalen Flucht und Vertreibung sowie die zu deren Bewältigung notwendigen Reaktionen alles davor Gewesene in den Schatten stellt.“
Drei Jahrzehnte lang hatte Afghanistan die traurige Liste der Länder angeführt, aus denen die meisten Menschen fliehen, mittlerweile wurde es von Syrien abgelöst – zusammen mit Somalia stammt die Hälfte aller Flüchtlinge weltweit aus einem dieser drei Länder.
Setzt man Wirtschaftskraft und Flüchtlingsaufnahme in Relation, landeten letztes Jahr Äthiopien, Pakistan und Tschad unter den Ländern, die Flüchtlinge aufnehmen, auf den ersten Plätzen; die in absoluten Zahlen meisten Flüchtlinge nahmen 2014 die Türkei und Pakistan auf – in Relation zur Einwohnerzahl gesetzt, liegt der Libanon weit vorne.
Die Rechnung, wie viele Flüchtlinge Deutschland im Vergleich zum Libanon aufnehmen müsste, greift dann allerdings zu kurz: nicht nur die Unterbringungssituation ist eine andere, zu unterschiedlich sind auch die Perspektiven der Flüchtlinge, die den kurzen oder den langen Weg gewählt haben – auch wenn das Schicksal jedes einzelnen der mehr als 400 000 Kinder mehr als nur beklagenswert ist, denen allein im Libanon derzeit der Zugang zu Bildung verwehrt bleibt.
„Wir schaffen das“, erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Anne Will-Interview, ohne genau zu verraten, was wir eigentlich schaffen wollen. Wahrscheinlich hatte sie nicht den Pragmatismus im Sinn, den die Nordnorweger an den Tag legen, die angesichts des nahenden Winters dem unter Syrern zwischenzeitlich zum Geheimtipp avancierten nördlichsten Grenzübergang Europas eine zunehmende Unbeliebtheit prognostizieren. Wahrscheinlich dachte sie eher an die Art von Pragmatismus, der sich mit der Ankunft der ersten Züge aus Ungarn in München breit machte.
Schließlich beweist jeder Tag aufs Neue, dass Gesetzesverschärfungen und Zäune nichts an den Fluchtgründen ändern, und dass der Versuch einer Unterscheidung zwischen Wirtschaftsflüchtling oder politisch Verfolgtem angesichts kollabierender Staaten in Afrika, dem Nahen und Mittleren Osten nicht zielführend sein kann. Vielmehr gilt es, Migration als Tatsache zu akzeptieren.
Da hilft es dann auch nicht, die Schuld des Westens am Machtvakuum im Mittleren Osten zu debattieren oder darüber zu schwadronieren, wie kluge Außenpolitik in den Herkunftsregionen zu Stabilität, Sicherheit, Frieden und Freiheit beitragen könnte.
Denn selbst wenn sich die wenig ruhmvolle Rolle Deutschlands als Waffenhändler, als Auftraggeber billigstproduzierter Kleidung, die einmal getragen als Exportartikel der örtlichen Textilindustrie den Garaus macht, als stets Rekordmeldungsverdächtiger Exporteur landwirtschaftlicher Erzeugnisse, die vor Ort die einheimische Produktion unrentabel machen, auf einen Schlag ändern ließe, hätte das keine Auswirkung auf die Menschen, die bereits bei uns oder auf dem Weg zu uns sind.
An diesem Punkt ist Innenminister Thomas de Maizière Realist: „Es ist Zeit, neue Wege zu gehen“. Er geht nicht von einem nennenswerten Rückgang der Flüchtlingszahlen aus, und erwartet, dass vier von zehn Flüchtlingen bei uns bleiben wollen. Da hilft dann auch kein Bundespräsident Joachim Gauck mit: „Unser Herz ist weit. Aber unsere Möglichkeiten endlich.“ Während sich die Bankanalysten angesichts des unerwarteten Flüchtlings-Konjunkturprogramms die Hände reiben, frohlocken die Verbände, die nach Arbeitskräften schreien, angesichts von 600 000 offenen Stellen und über einer 1 Mio. Zuwanderern.
Zwar stimmt es, dass das Beschäftigungswachstum mit dem Wirtschaftswachstum in unserem Land zuletzt nicht Schritt hielt, und dies ein Indikator dafür ist, dass unter den derzeit 2,7 Mio. Arbeitslosen die benötigten Qualifikationen nicht zu finden sind – ganz von der Hand weisen lassen sich aber auch die Einwände von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles nicht: „Nicht alle, die da kommen, sind hoch qualifiziert. Der syrische Arzt ist nicht der Normalfall.“
„Unser Herz ist weit. Aber unsere Möglichkeiten endlich“
Bundespräsident Joachim Gauck
Dennoch bleibt zu hoffen, dass Daniela Rixen von der Landwirtschaftskammer Schleswig-Holstein Recht behält, die angesichts von Flüchtlingszustrom und Arbeitsbedarf auf den Höfen und in den Gartenbaubetrieben von einer Win-Win-Situation spricht. Denn unbestritten gelten reguläre Beschäftigungsverhältnisse als Königsweg zur Integration, wie auch Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel bekräftigt: „Schaffen wir es, die Menschen, die zu uns kommen, schnell auszubilden, weiterzubilden und in Arbeit zu bringen, dann lösen wir eines unserer größten Probleme.“
Die Schweizer, spätestens seit ihrem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative ausgewiesene Migrationsverhinderer, gehen das Problem akademisch an: mehrere Dutzend Flüchtlinge müssen sich drei Jahre lang auf zehn Betrieben beweisen, bevor eventuell in diese Richtung weitergedacht wird. Anders als beispielsweise in Schleswig-Holstein, steht der dortige Bauernverband den neuen Mitbürgern kritisch gegenüber.
SBV-Präsident Markus Ritter: „Bisher hatten wir viele Arbeiter etwa aus Polen und Portugal, die teils aus landwirtschaftsnahen Betrieben oder direkt aus der Landwirtschaft kamen. Jetzt müssen wir klären, wie die körperliche Leistungsfähigkeit, aber auch ihre grundsätzliche Bereitschaft ist, auf einem Landwirtschaftsbetrieb zu arbeiten.“
Die Schweizer haben aber auch gut Lachen: Insgesamt 30 000 Asylbewerber werden dort für das gesamte Jahr 2015 erwartet – so viele, wie zuletzt jedes Wochenende nach München kamen.
Tim Jacobsen
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