Es ist schon einige Zeit her, dass die Niederländer im Achtzigjährigen Krieg den Stöpsel aus dem letzten noch intakt gebliebenen Deich an ihrer Südgrenze zogen und damit die Unabhängigkeit der Republik der Sieben Vereinigten Niederlande von der spanischen Krone markierten. Wahrscheinlich hätten die von den Wassermassen hauptsächlich betroffenen Bewohner der Ortschaft Saeftinghe samt Umgebung auf den sehr poetischen, aber mit nassen Füssen erkauften Ehrentitel „Verdronken Land van Saeftinghe“ seinerzeit gut verzichten können – noch dazu, da es dann ja knapp 350 Jahre dauerte, bis 1907 der Deich wieder dicht war und der Polder nach Herzogin Hedwig benannt wurde.
Als letztes dem Meer abgerungenes Stück Land im belgisch-niederländischen Grenzgebiet erlangte der Hedwigepolder einige Berühmtheit. Seit 2005 steht der Hertogin Hedwigepolder nun erneut im Rampenlicht: ähnlich wie Jahrhunderte zuvor, stehen die knapp drei Quadratkilometer symbolisch für Entwicklungen mit weit größerer Tragweite als nur die Frage, ob es sinnvoll sein kann, fruchtbarstes Ackerland zu fluten. In der ganzen Diskussion, die sich in gewisser Weise verselbständigt hat, geht es mittlerweile eigentlich auch um die Frage, wie wir zukünftig leben wollen.
2005 war das Jahr, indem sich die Niederlande und Belgien darauf einigten, genau auch dieses Stück Küstenlinie unter Wasser zu setzen, als Kompensation für das Ausbaggern der Westerschelde, das als notwendig erachtet wurde, um im olympischen größer-schneller-weiter Konzert der weltweit größten Häfen auch weiterhin mitspielen zu dürfen. 2019 muss alles fertig sein und alle mehr oder geschickten Versuche, alternative Lösungen zu finden, fanden in den Augen der Europäischen Kommission keine Gnade.
Flandern zog 2012 die Reißleine, was dazu führte, dass auch die Scheldeanrainer Niederlande Farbe bekennen mussten und die Enteignungsmaschinerie entlang der Hafenzufahrt in Gang setzten. Unter diesen Vorzeichen also kehrt Chris de Stoop, nachdem sein Bruder aus dem Leben geschieden und seine Mutter im Altersheim gelandet ist, nicht nur zurück auf den Hof seiner Jugend, sondern mittenrein ins Epizentrum dieser Entwicklung und beobachtet die Welt um ihn herum.
Diese Tragödien gibt es überall, das versteht man vielleicht nach der Lektüre von Chris de Stoops Buch „Das ist mein Hof: Geschichte einer Rückkehr“ besser
Tim Jacobsen
Hatte de Stoop in seinem Erstlingswerk „De Bres“ noch beschrieben, wie sich die Ortschaften und das Zusammenleben durch das Wachstum des Antwerpener Hafens verändern, überrumpelt er mit „Das ist mein Hof“ die Leser gleich mehrfach: zum einen mit einem bittersüßen Lob- und Klaggesang auf das traditionsreiche Bauernleben im Polder, zum anderen mit der Parallelität der Entwicklungen – es geht eben nicht nur um den Bauernstand, es geht auch um die kleinen Läden, um die Handwerker, die Verkäuferinnen, letztendlich um alles, was kein multinationaler Konzern ist.
Und es geht auch um globale Entwicklungen, wie Schriftstellerkollege Tom Lanoye in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Preises des unanhängigen Buchandels an de Stoop anhand einer Geschichte verdeutlichte, die er kurz zuvor in der südafrikanischen Tageszeitung „Die Burger“ gelesen hatte: ein Mann, der auf dem Jahre zuvor aufgenommenen Portraitfoto noch selbstsicher kraftvoll wirkte und Zuversicht ausstrahlte, gerät stets mehr in die Mühlen der Gegenwart: zu viele Schulden, zu große Konkurrenz, zu kleine Ernte, Dürre, keine Frau, Verbitterung und ein herzzerreißendes Ende, dessen Eintreten er selbst bestimmt. „Diese Tragödien gibt es überall, das versteht man vielleicht nach der Lektüre von Chris de Stoops Buch besser.“
Und es geht darum, was Natur eigentlich ist. Für de Stoop lässt sich Natur und Landwirtschaft nicht auseinanderdividieren. Die „Bauernnatur“ nennt er dies. Dem gegenüber steht, was er die „Neue Natur“ nennt. De Stoop erklärt, was er damit meint, am Beispiel der renaturierten Grote Geule: „Auf etwas mehr als einem Kilometer Flusslauf stehen wahrscheinlich ein Dutzend Schilder, auf denen zu lesen ist, warum dieses Gebiet so bedeutsam ist. Je mehr Schilder stehen, umso mehr verliert sich allerdings der Bezug: Ich darf kucken, ich lerne was, aber ich bin kein Teil der Natur mehr.“
Mit 600 ha in den Niederlanden und 1100 ha in Belgien sollen die Hafenausbreitung und die Fahrrinnenvertiefung kompensiert werden. Eine Koalition aus Naturschützern und Hafenbetreibern hatte sich darauf verständigt, fünf Prozent des Hafengebietes als Naturschutzfläche auszuweisen. De Stoop klassifiziert die „Neue Natur“ als Fälschung, wie ein Kunstwerk, das nicht echt ist: „Warum muss der Landstrich mit den dicksten Rindern der Welt einer Natur weichen, deren Sinn es scheint, auf den Evaluierungsbögen ihrer Macher eine möglichst hohe Punktzahl zu erreichen. Natur, wie ein Container, der mal hier mal hier aufgestellt werden kann?“
Es kann natürlich sein, dass es das, was de Stoop sucht, vielleicht gar nicht mehr gibt, vielleicht auch nie gegeben hat und sich überdüngte Maisäcker, eingeebnete Kartoffelfelder samt todgespritzter Grachten dazwischen ja auch nicht einfach so wegdiskutieren lassen. Weshalb dann das Spannungsfeld vielleicht letztendlich auch weniger im Schnittbereich zwischen Naturschutz und Landwirtschaft, sondern vielmehr im Aufeinandertreffen von Tradition und Moderne, Geschichte und Gegenwart liegt – und eben auch in der Frage, wie wir den gerne leben wollen. Ein sehr lesenswertes Buch.
Tim Jacobsen
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