"Now, here, you see, it takes all the running you can do, to keep in the same place. If you want to get somewhere else, you must run at least twice as fast as that!"

Kategorie: Lektüre (Seite 2 von 2)

Bitte auch einmal fünf gerade sein lassen, liebe Kollegen

Dass es ziemlich befriedigend sein muss, sich über Steingärten lustig zu machen, lässt sich schon allein daran ablesen, dass sich auf das Posten von Gabionen oder frisch gekiesten Flächen die immer gleichen Leute wie auf Knopfdruck versichern, wie sie aus der Welt einen schöneren Ort machen würden, wenn man sie nur machen ließe. In ihrer vermeintlichen ästhetischen Überlegenheit vergessen sie dann nur schnell, dass andere Leute vielleicht einfach einen anderen Geschmack, schlichtweg andere Bedürfnisse oder finanzielle Grundvoraussetzungen haben.

Natürlich sind Steingärten in vielerlei Hinsicht nicht das Gelbe vom Ei, wenn dann die größten Empörungsschreie ausgerechnet vom Chef einer im Südwesten beheimateten Zeitschrift kommen, der im Hauptberuf Verkaufsanzeigen für Bagger und andere Gerätschaften auch zum Gabionenbau und der Flächenbekiesung bebildert – und der dann im Nebenjob Bücher über den Irrsinn derselben verfasst, dann ist das erst einmal nicht superkonsequent, aber auch nicht weiter erwähnenswert.

Und wenn man sich dann aber einmal zwei Minuten Zeit nimmt, darauf aufmerksam zu machen, dass es einfach nicht jedem vergönnt ist, im eigenen Schloss samt Park zu wohnen, dann eskaliert das ganze superschnell und als eher zurückhaltender Mensch bekommt man es dann vor allem auch schnell mit der Angst zu tun: wenn es nur ein paar Steinchen braucht, bis der Vulkan explodiert, möchte man ungern herausfinden, was passiert, wenn es wirklich einmal um etwas geht.

Tim Jacobsen

Die weiteren Aussichten: zunehmend stürmische Böen oder Sturmböen

„Realitätschock“ ist das passende Buch für ein Jahr, indem im Rückblick Januar und Februar vielleicht noch mit die beiden besten Dinge waren. Zwar ließe sich argumentieren, dass die dunkle Jahreszeit vielleicht der unpassende Zeitpunkt ist für zehn wenig aufmunternde Lehren, die Sascha Lobo aus einer scheinbar ständig komplexer werdenden Gegenwart zieht. Vielleicht hat der Blogger und Buchautor aber auch Recht, wenn er behauptet, dass wir uns viel zu lange ausgeruht haben auf einer Art von Wunschvorstellung und uns nun wappnen sollten für kommende Brüche und Veränderungen.

Und dafür braucht es Lobo zufolge eine gewisse Alarmiertheit und den Schmerz der Erkenntnis. Mit Klimawandel, Brexit, Rechtspopulismus, Mi- und Integration lässt er keines der gegenwärtig großen Problemfelder aus. Lobo will die Probleme nicht gegeneinander ausspielen, vielmehr möchte er uns zeigen, dass wir in sehr vielen Bereichen unseres Lebens eine Wunschvorstellung für die Realität gehalten haben – eine Erkenntnis, die während der Lektüre langsam einsickert und deren Wahrheitsgehalt sich mit jeder weiteren Covid-19-Katastrophenmeldung weiter bestätigt. 421 Seiten kosten 12,00 €.

Tim Jacobsen

Ein Buch nicht nur für die stade Zeit

Die Gegensätze hätten kaum größer sein können: auf der einen Seite abgehängte Jugendliche auf der Suche nach dem schnellen einfachen Geld, auf der anderen Seite der auf den ihm verbliebenen beiden letzten Hektaren lebende Eremit, der trotz seines hohen Alters mehr recht als schlecht seine ihm verbliebenen vier Fleischrinder versorgt. Was in „Das Buch Daniel“ auf 256 Seiten folgt ist ein was-wäre-wenn in bester Tradition von Truman Capotes „Kaltblütig“:

Hätte Daniel Maroy nicht aus grundsätzlichem Misstrauen dem Bankwesen gegenüber nahezu sein gesamtes Vermögen im Hosensack spazieren getragen, um besser darauf aufpassen zu können und hätte der Azubi an der Fleischtheke dies nicht ausgeplaudert, könnte Maroy sich auch heute vielleicht noch an dem einzigen Luxus, den er sich gönnte, erfreuen: wöchentlich ein Steak und dazu ein oder zwei Gläschen Rodenbach.

Hätte er nicht erst seinen Vater, dann seine Mutter und schließlich seinen Bruder bis an ihr Lebensende gepflegt, hätte er mit seinem Werben um die von ihm Angebetete vielleicht mehr Erfolg gehabt und wäre nicht der letzte der Maroys gewesen. Und hätte er nicht mit seinem Traktor den Verkehrsunfall gehabt, infolge dessen dieser von der Polizei eingezogen wurde, hätte er nicht seine Einkäufe am Fahrradlenker transportieren müssen.

Und hätte ihm dann noch der Supermarkt nicht angeraten, allenfalls am Samstag kurz vor Feierabend kommen zu dürfen, wäre höchstwahrscheinlich sowieso alles anders gekommen. So aber konnten ihn die Jugendlichen innerhalb seines Vierkanthofes abpassen und berauben. Zwar schleppt er sich daraufhin noch schwerverletzt noch ins Wohnzimmer, der zweiten Angriffswelle kann er dann aber nichts mehr entgegen setzen.

Ganz nebenbei, aber nicht weniger eindringlich, ist es auch ein Buch über die Schwierigkeit, in Frieden alt werden und alt sein zu dürfen

Tim JAcobsen

Dass in Folge dessen zur Spurenbeseitigung der Hof abgefackelt wird, erfährt man in Chris de Stoops Neuerscheinung bereits ziemlich am Anfang. Dass zwischen dem Samstag, an dem Maroy erst ausgeraubt, dann umgebracht wird, und dem Samstag, an dem sein Hof brennt, eine ganze Woche liegt, realisiert man beim Lesen erst nach und nach. Und spätestens dann kann man das Buch nicht mehr aus der Hand legen.

„Das Buch Daniel“ ist eine Geschichte über Jugendliche außer Rand und Band, über überforderte Erwachsene, über dysfunktionale Kommunalverwaltung, über Landwirtschaft, wie sie nur noch im Geschichtsbuch zu finden ist und über De Stoops Lieblingsthema, dem Strukturwandel und die Spuren, die er im ländlichen Raum hinterlässt. Ganz nebenbei, aber nicht weniger eindringlich, ist es auch ein Buch über die Schwierigkeit, in Frieden alt werden und alt sein zu dürfen.

Spätestens als die Polizei-bekannten Jugendlichen auf ihren neuen Smartphones ihre Missetaten öffentlich zeigen und auf ebenfalls neu angeschafften Mopeds weiter ihr Unwesen treiben, hätte ein beherztes Einschreiten vielleicht noch Maroys Leben retten können. So aber liegt im belgisch-französischen Grenzgebiet ein Mafia-ähnliches Schweigen bleiern über allem. Erst als die Jugendlichen Maroys Hof in Brand stecken, beginnt sich das Blatt zu drehen.

De Stoop portraitiert die Jugendlichen auf nüchterne Art, gleichzeitig gelingt es ihm, ein schriftstellerisches Denkmal mit allen Kanten und Ecken für seinen Onkel zu verfassen. Obwohl er ihn zu Lebzeiten kaum kannte, vertritt de Stoop die Familie im Mordprozess. Dies sichert im Zugang zu allen Dokumenten, die auch der Anklage zur Verfügung standen, gleichzeitig ist er sich aber auch nicht zu schade dafür, den zu 15 Jahren Haftstrafe verurteilten Haupttäter im Gefängnis zu besuchen.

Was dabei passiert, ist der letzte, wenn auch dieses eine Mal zumindest nicht aufgelöste Cliffhanger in Chris de Stoops auf wahren Begebenheiten basierenden Genre-sprengenden Kriminalroman im Reportageformat. Ein Buch, das an die großen Fragen rührt und das im Gegenüberstellen von Daniel Maroy, der Dorfgemeinschaft und den Jugendlichen keine einfachen Antworten gibt. „Het boek Dankiel“ ist in der Uitgeverij De Bezige Bij erschienen, eine deutsche Übersetzung ist in Arbeit.

Tim Jacobsen

Glück haben Sie doch jeden Tag!

Es gab mal eine Zeit, in der Italien mehr war als nur ein Land, das die Flugzeit in den fernen Osten unnötig verlängert. Eine Zeit, in der die Vorfreude auf den Sommerurlaub spätestens mit dem Ostereisuchen einsetzte. Eine Zeit, in der die Autos, die sich über den Brenner quälten, weder Sitzgurte noch Klimaanlage hatten – man aber mit etwas Glück irgendwann im Rauschen des Lautsprechers ein leises „Una festa sui prati“ erkennen konnte und wusste, dass es nicht mehr lange dauert. Einmal am Ziel angekommen, fiel dann sofort alle Last von einem ab und lediglich der Dreizeiler beim Postkartenschreiben erinnerte daran, dass auch dieser Urlaub unweigerlich sein Ende finden wird.

Frägt man heutzutage Bekannte, wohin die Reise gehen soll, lautet die Antwort oft, dass der eigentliche Urlaub ja erst noch komme. Mit permanenter Erreichbarkeit und der großen Schaubühne soziale Medien ist im Urlaub einfach nur am Strand zu liegen naturgemäß megaout, wird aber vielleicht irgendwann wieder megain im Rahmen einer wie auch immer gearteten Challenge. Versucht man einfach nur, sich mit mehreren Leuten gleichzeitig zu verabreden, sieht die Lage nicht viel besser aus – als müsste immer mindestens einer sich ein Notausstiegstürchen offenhalten, um nicht durch allzu viel Verbindlichkeit womöglich etwas noch Bedeutsameres zu verpassen.

Die Kühlschränke sind voll, und man kann sich kaum eine noch absurdere Kaffeespezialität ausdenken, die es dann nicht doch schon irgendwo tatsächlich auch gibt; das Gleiche gilt übrigens auch für Diätpläne. Wir können in den Supermarkt gehen, und die meisten von uns könnten tatsächlich dahin zu Fuß gehen, da wir sehr viele Supermärkte haben, und können jahrein jahraus nahezu dasselbe Sortiment kaufen. Konnte der Cameriere meiner Jugend am Strand von Marina di Massa noch mit Physalisdeko für Aufsehen sorgen, gibt es heute eigentlich nichts mehr, was es nicht auch sonst überall gibt. Superausgefeilte Logistik sorgt dafür, dass es auch im von aus gesehen hinterletzten Winkel der Erde noch niederländische Zwiebeln zu kaufen gibt. Die gute Nachricht dabei ist, dass sie auch gekauft werden, was gleichbedeutend damit ist, dass zwar nicht unbedingt überall der Wohlstand ausgebrochen ist, sich dennoch aber viel mehr Menschen als je zuvor überhaupt ab und an eine Speisezwiebel leisten können.

 Wo sind nur die unbeschwerten Sommer von damals hin?

Tim Jacobsen

Und während wir darüber nachdenken, ob sich die Coffee-to-go-Becherflut mit Pfand, Verboten oder vielleicht freiwilligen Selbstverpflichtungen in den Griff bekommen lässt, leben von etwas mehr als 110 Mrd. überhaupt jemals geborenen Menschen knapp 8 Mrd. derzeit gemeinsam mit Ihnen und mir auf diesem Planeten. Gleichzeitig dürfen zwar nur fünf Länder offiziell Nuklearwaffen besitzen, gleichwohl haben auch Indien, Israel, Pakistan und Nordkorea Atombomben im Waffenschrank und neben dem offensichtlichen Kandidaten Iran stehen auch Ägypten, Saudi-Arabien und Syrien im Verdacht, derartige Waffensysteme zu entwickeln.

Angst macht aber auch die rasante Verbreitung ansteckender Krankheiten, wie die Beispiele Schweine- und Vogelgrippe zeigen – wobei interessanterweise die schlimmste Pandemie, die derzeit im Umlauf ist und für jährlich 3 Mio. Aidstote sorgt, angesichts der guten medizinischen Versorgung hierzulande mehr oder weniger in Vergessenheit geraten ist. Auch der Schreck von 2007, als Deutschland vergleichsweise glimpflich aus der Weltwirtschaftskrise herauskam, steckt vielen Menschen noch in den Knochen, genauso wie die Angst vor bewaffneten Konflikten oder dem internationalen Terrorismus. Und auch wenn es auf der Erde schon immer Klimaschwankungen gegeben hat, so sind die Extremwetterereignisse dieses Frühsommers doch auch Anzeichen dafür, dass wir vielleicht besser früher mit dem CO2-Sparen anfangen hätten sollen und wir wohl oder übel dabei sind, sehenden Auges mit Vollgas ins Verderben zu rasen.

Größtes Problem weltweit ist und bleibt aber – Speisezwiebel hin oder her – Armut einhergehend mit Mangel an Nahrung und Trinkwasser. Der Hinweis darauf, dass alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren verhungert und 80 % der Krankheiten und Todesfälle in Entwicklungsländern mit verschmutztem Wasser zusammenhängen, ist zwar auf jeder Grillparty der Stimmungskiller schlechthin – gleichwohl öffnet diese Erkenntnis einem aber auch das Herz für ein Gefühl der Dankbarkeit und Demut. Es ist ein bisschen wie erst krank werden zu müssen, um zu wissen, was gesund sein bedeutet.

Es gibt so viele Gründe, Dinge nicht zu machen, Verabredungen aus dem Weg zu gehen oder sich in den Verlockungen der virtuellen Welt zu verirren. Dennoch kommt man im Leben unweigerlich an den Punkt, an dem einem bewusst wird, dass einem für all das, was man noch so vorhat, wohl oder übel allmählich die Zeit ausgeht. Deshalb sollte das Motto spätestens dieses Sommers auch lauten: legen Sie das Telefon zur Seite, stellen Sie Getränke kalt, treffen Sie sich mit Freunden und vergessen Sie dabei vor allem das Lachen nicht. Feiern Sie, was es zu feiern gibt, denn Dinge nicht zu feiern, macht sie mit Sicherheit auch nicht besser. Packen Sie das Zelt und die Familie ein – und fahren Sie über Ihren ganz eigenen Brennerpass – selbst wenn es nur für einen Nachmittag ist. Von ganzem Herzen wünsche ich Ihnen dabei viel Freude!

Tim Jacobsen

Weit weg und doch so nah

Es ist schon einige Zeit her, dass die Niederländer im Achtzigjährigen Krieg den Stöpsel aus dem letzten noch intakt gebliebenen Deich an ihrer Südgrenze zogen und damit die Unabhängigkeit der Republik der Sieben Vereinigten Niederlande von der spanischen Krone markierten. Wahrscheinlich hätten die von den Wassermassen hauptsächlich betroffenen Bewohner der Ortschaft Saeftinghe samt Umgebung auf den sehr poetischen, aber mit nassen Füssen erkauften Ehrentitel „Verdronken Land van Saeftinghe“ seinerzeit gut verzichten können – noch dazu, da es dann ja knapp 350 Jahre dauerte, bis 1907 der Deich wieder dicht war und der Polder nach Herzogin Hedwig benannt wurde.

Als letztes dem Meer abgerungenes Stück Land im belgisch-niederländischen Grenzgebiet erlangte der Hedwigepolder einige Berühmtheit. Seit 2005 steht der Hertogin Hedwigepolder nun erneut im Rampenlicht: ähnlich wie Jahrhunderte zuvor, stehen die knapp drei Quadratkilometer symbolisch für Entwicklungen mit weit größerer Tragweite als nur die Frage, ob es sinnvoll sein kann, fruchtbarstes Ackerland zu fluten. In der ganzen Diskussion, die sich in gewisser Weise verselbständigt hat, geht es mittlerweile eigentlich auch um die Frage, wie wir zukünftig leben wollen.

2005 war das Jahr, indem sich die Niederlande und Belgien darauf einigten, genau auch dieses Stück Küstenlinie unter Wasser zu setzen, als Kompensation für das Ausbaggern der Westerschelde, das als notwendig erachtet wurde, um im olympischen größer-schneller-weiter Konzert der weltweit größten Häfen auch weiterhin mitspielen zu dürfen. 2019 muss alles fertig sein und alle mehr oder geschickten Versuche, alternative Lösungen zu finden, fanden in den Augen der Europäischen Kommission keine Gnade.

Flandern zog 2012 die Reißleine, was dazu führte, dass auch die Scheldeanrainer Niederlande Farbe bekennen mussten und die Enteignungsmaschinerie entlang der Hafenzufahrt in Gang setzten. Unter diesen Vorzeichen also kehrt Chris de Stoop, nachdem sein Bruder aus dem Leben geschieden und seine Mutter im Altersheim gelandet ist, nicht nur zurück auf den Hof seiner Jugend, sondern mittenrein ins Epizentrum dieser Entwicklung und beobachtet die Welt um ihn herum.

Diese Tragödien gibt es überall, das versteht man vielleicht nach der Lektüre von Chris de Stoops Buch „Das ist mein Hof: Geschichte einer Rückkehr“ besser

Tim Jacobsen

Hatte de Stoop in seinem Erstlingswerk „De Bres“ noch beschrieben, wie sich die Ortschaften und das Zusammenleben durch das Wachstum des Antwerpener Hafens verändern, überrumpelt er mit „Das ist mein Hof“ die Leser gleich mehrfach: zum einen mit einem bittersüßen Lob- und Klaggesang auf das traditionsreiche Bauernleben im Polder, zum anderen mit der Parallelität der Entwicklungen – es geht eben nicht nur um den Bauernstand, es geht auch um die kleinen Läden, um die Handwerker, die Verkäuferinnen, letztendlich um alles, was kein multinationaler Konzern ist.

Und es geht auch um globale Entwicklungen, wie Schriftstellerkollege Tom Lanoye in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Preises des unanhängigen Buchandels an de Stoop anhand einer Geschichte verdeutlichte, die er kurz zuvor in der südafrikanischen Tageszeitung „Die Burger“ gelesen hatte: ein Mann, der auf dem Jahre zuvor aufgenommenen Portraitfoto noch selbstsicher kraftvoll wirkte und Zuversicht ausstrahlte, gerät stets mehr in die Mühlen der Gegenwart: zu viele Schulden, zu große Konkurrenz, zu kleine Ernte, Dürre, keine Frau, Verbitterung und ein herzzerreißendes Ende, dessen Eintreten er selbst bestimmt. „Diese Tragödien gibt es überall, das versteht man vielleicht nach der Lektüre von Chris de Stoops Buch besser.“

Und es geht darum, was Natur eigentlich ist. Für de Stoop lässt sich Natur und Landwirtschaft nicht auseinanderdividieren. Die „Bauernnatur“ nennt er dies. Dem gegenüber steht, was er die „Neue Natur“ nennt. De Stoop erklärt, was er damit meint, am Beispiel der renaturierten Grote Geule: „Auf etwas mehr als einem Kilometer Flusslauf stehen wahrscheinlich ein Dutzend Schilder, auf denen zu lesen ist, warum dieses Gebiet so bedeutsam ist. Je mehr Schilder stehen, umso mehr verliert sich allerdings der Bezug: Ich darf kucken, ich lerne was, aber ich bin kein Teil der Natur mehr.“

Mit 600 ha in den Niederlanden und 1100 ha in Belgien sollen die Hafenausbreitung und die Fahrrinnenvertiefung kompensiert werden. Eine Koalition aus Naturschützern und Hafenbetreibern hatte sich darauf verständigt, fünf Prozent des Hafengebietes als Naturschutzfläche auszuweisen. De Stoop klassifiziert die „Neue Natur“ als Fälschung, wie ein Kunstwerk, das nicht echt ist: „Warum muss der Landstrich mit den dicksten Rindern der Welt einer Natur weichen, deren Sinn es scheint, auf den Evaluierungsbögen ihrer Macher eine möglichst hohe Punktzahl zu erreichen. Natur, wie ein Container, der mal hier mal hier aufgestellt werden kann?“

Es kann natürlich sein, dass es das, was de Stoop sucht, vielleicht gar nicht mehr gibt, vielleicht auch nie gegeben hat und sich überdüngte Maisäcker, eingeebnete Kartoffelfelder samt todgespritzter Grachten dazwischen ja auch nicht einfach so wegdiskutieren lassen. Weshalb dann das Spannungsfeld vielleicht letztendlich auch weniger im Schnittbereich zwischen Naturschutz und Landwirtschaft, sondern vielmehr im Aufeinandertreffen von Tradition und Moderne, Geschichte und Gegenwart liegt – und eben auch in der Frage, wie wir den gerne leben wollen. Ein sehr lesenswertes Buch.

Tim Jacobsen

Medienschelte – einmal positiv

Die Geschichte des Nördlinger Ries´ ist für sich genommen schon äußerst spektakulär: rund 1,5 km Durchmesser soll er gehabt haben, der Himmelskörper, der sich vor gut 14 Mio. Jahren ausgerechnet in das bayerisch-schwäbische Grenzgebiet verirrte – das durch den Aufprall entstandene Binnengewässer in Bodensee-Größe hatte in den Folgejahren viel Zeit zu verlanden und prunkt heute mit besten Böden.

Die Tracht im Ries ist speziell, der Dialekt auch. Wobei der Rieser Bauernkittel von weitem bereits leicht erkennbar ist, der Dialekt eher weniger. Denn, und das wird in Aaron Lehmanns „Die letzte Sau“ schnell deutlich, Plaudertaschen sind sie eher nicht, die Bewohner des weltweit am besten erhaltenen Impaktkraters. Einen passenderen Ort hätte Lehmann dann auch kaum finden können, um dem sog. Bauernsterben ein Gesicht zu geben – und dabei weder auf die Tränendrüse zu drücken noch in Betroffenheitsgedöns zu verfallen.

„Eigentlich scho a wahnsinns Aufwand für a bissle Wurscht. Wenn man sich das amal vorstellt“

Bauer Huber

Mit grimmigem Humor wird die Geschichte eines braven und rechtschaffenen Mannes erzählt, der irgendwann merkt, dass er mit seinem kleinen Hof gegen die Großbauern nicht anstinken kann – und die Rieser Stammtischlosung „schlimmer kos nemma wera“ dem Realitätscheck leider nicht standhält:

Als der Bauer Huber eines Tages aufsteht, sein Bett zusammenbricht, die Dusche kalt bleibt, die Schubkarre einen Platten hat, die Freundin Richtung Osten verschwunden ist und die Hausbank sich wenig kooperativ zeigt und die Kreditverhandlungen zudem überschattet werden vom Ableben des Metzgers Willi, der von dem ebenfalls über ihm kreisenden Pleitegeier zum Banküberfall angestiftet wurde, werden diese kleinen und großen Schicksalsschläge noch getoppt vom Meteor, der ausgerechnet während der Bestattung von Hubers bestem Freund Willi im Huberhof einschlägt und dem Huber bis auf sein „Moped“ und die filmnamensgebende „letzte Sau“ alles nimmt bzw. alles in Bewegung setzt.

In entfernt an Karl May erinnernder landestypischer Kleidung begibt sich Huber mit der Sau im Beiwagen auf eine – seine – Reise und begegnet dabei den unterschiedlichsten Menschen: sarkastisch, anarchisch, urkomisch und todtraurig stellt „Die letzte Sau“ mit der Leichtigkeit, mit der die Handlung springt, und die in starkem Gegensatz zum sprachlichen Schwermut steht, Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt: Wer sind die Guten, wer sind die Bösen? Wer ist Opfer, wer ist Täter?

Die Angst, dass dies alles in der billigen Polemik einer Groß-Klein- bzw. Chemisch-Ökodialektik enden könnte, ist unbegründet. Denn Huber begegnet den Menschen unvoreingenommen, und auch wenn nicht viel geredet wird, wird doch viel gesagt. Zu Beginn seiner Reise trifft Huber beispielsweise. einen frischgebackenen Imker, dem man zwar nicht unbedingt zutraut, auf eigenen Füßen bis zum nächsten Ortsschild zu kommen, dessen Losung „Die Welt ist ein dunkler Ort, deshalb müssen wir Leuchtfeuer anzünden“ gleichwohl in gewisser Weise die Filmhandlung vorwegnimmt.

Diese Leuchtfeuer führen im weiteren Verlauf dann tatsächlich zu dem vom Erzähler Filmeingangs versprochenen „Märchen vom Bauern Huber und wie er ein rechtes Durcheinander gemacht hat“.

Und ob das Ganze dann in dem Ende September in die Kinos gekommenen Film noch ein gutes Ende nimmt, sei an dieser Stelle nicht verraten. Nur so viel: Mehr als jede `Wir machen frisch´, `sauber´, `zart´ oder `Dein Frühstück´-Kampagne setzt der Film in den Zuschauern etwas in Gang, etwas im Sinne eines `ist der Bauer in dem ihm abverlangten Spagat zwischen artgerecht und billig nicht vielleicht sogar die ärmste Sau von allen´?

Und auch, wenn nicht jeder den Mut aufbringt, aus dem „so gots net weida“ des Filmes direkt Konsequenzen zu ziehen, sind es die sprichwörtlichen Tropfen auf die Kraterwand, sich Gedanken über das eigene Handeln zu machen:

Was kann man beispielsweise selbst dazu beitragen, dass es den Bäcker mit den besten Brezen und den Obst- und Gemüsehändler mit dem frischesten Salat und den knackigsten Äpfeln auch morgen noch gibt? Schließlich hilft jeder kleine Tropfen oder wie Hubers Freundin Birgit am Ende des Filmes resümiert: „Mei Huber. Vorher wars o it super. I find´s jetzt besser. Isch o it super, aber besser.“

Tim Jacobsen

Fazit: „Eigentlich scho a wahnsinns Aufwand für a bissle Wurscht. Wenn man sich das amal vorstellt“

Zukunft 2.0

„Nicht schon wieder“ wird sich so mancher wohl gedacht haben, als in den Medien über Wochen hinweg kaum ein anderes Thema diskutiert wurde als die Frage, wer wohl bei der auch offiziell Kanzlerduell genannten Fernsehdiskussion zwischen der Amtsinhaberin und ihrem Herausforderer besser abschneiden wird. Auch Wochen später steht eigentlich nur eines fest: wahlentscheidend werden die 90 Minuten wohl nicht gewesen sein. Wie schon 2005 und 2009 wurde auch dieses Jahr live aus den Studios in Berlin Adlershof gesendet. Und wie auch 2009 fand dieses Jahr in sowohl zeitlicher als auch räumlicher Nähe zum Kanzlerduell ein Zukunftskongress Gartenbau statt. War das Ziel 2009 noch der Gartenbau 2020, sollten 2013 bereits Visionen für die Zeit bis 2030 entwickelt werden.

Um es kurz zu machen: in zumindest dieser Hinsicht verfehlten die Organisatoren das Klassenziel. Was ihnen jedoch sehr wohl gelang, und dafür gebührt ihnen zu Recht vollstes Lob und bester Dank, ist, mit dem so genannten Bericht der Forschergruppe zum Zukunftskongress Gartenbau die bisher umfassendste Zusammenstellung der Rahmenbedingungen und zukünftigen Herausforderungen des deutschen Gartenbausektors vorgelegt zu haben – selbst wenn, wie in Berlin bemängelt wurde, für die gärtnerische Praxis durchaus relevante „Details“ wie etwa das Streitthema Pflanzenschutz nicht ausreichend berücksichtigt wurden.

Zwei Jahre Vorbereitungszeit waren dem Bericht vorausgegangen. Zwei Jahre, in denen in Umfragen, einem Internetportal, diversen Workshops und weiteren Treffen der „Forschungsbegleitenden Arbeitsgruppe“ Antworten auf die Leitfrage gesucht wurden, welche Szenarien für die zukünftige Entwicklung des Gartenbaus vorstellbar sind.

Zukunftskongress 2.0: Wissenschaftlich fundiert hellsehen

Tim Jacobsen

Diese Diskussion fand jedoch leider nicht den breiten Widerhall, den man ihr gerne gewünscht hätte: kaum jemand verirrte sich in das Diskussionsportal im Internet; auch die Expertentreffen fanden abgeschieden genug statt, um bei der eigentlich auf den Bericht der Forschergruppe aufbauenden Diskussion im Rahmen des Zukunftskongresses in Berlin dann in vielen Punkten doch wieder bei null beginnen zu müssen. Auch, da sich nicht alle Teilnehmer im Vorfeld intensiv genug mit der Diskussionsgrundlage auseinandersetzten.

So glich die Diskussion in vielerlei Hinsicht dem Kanzlerduell: Eine häufig unmoderierte Aneinanderreihung hauptsächlich gegenwartsbezogener Aussagen. Vielleicht war ja einfach nur das Themenspektrum eine Nummer zu groß geraten – schließlich sollte kein Zukunfts-Aspekt unbeachtet bleiben. Vielleicht fehlten aber auch die Jungen, über deren Zukunft ja eigentlich diskutiert werden sollte. Vielleicht mangelte es aber auch nur an einer für eine solche Diskussion eigentlich benötigten Gesprächskultur: So lange jeder Aussage droht, schubladenartig als zu banal oder emotional aufgeladen disqualifiziert zu werden, kann wohl keine Diskussion mit visionärem Anspruch aufkommen.

So wurde am Ende viel über die geringe Attraktivität der grünen Branche als Arbeitgeber oder das für Produzenten oftmals unbefriedigende Leistungs-/Preisverhältnis geredet. Wobei sich die sprichwörtliche Katze dann natürlich schnell in den Schwanz beißt: können die Löhne nicht steigen, da die Produktpreise so niedrig liegen und könnte vielleicht nicht doch generische Werbung all diesen Problemen den Garaus machen? Diskussionen also, für die es nicht unbedingt einen zweiten Zukunftskongress gebraucht hätte. Obwohl der Vorschlag, Warenmengen künstlich dadurch zu verknappen, indem das so genannte dritte Drittel der Betriebe von der Produktion ausgeschlossen wird, durchaus etwas Visionäres hatte – nur vielleicht nicht ganz zur Gegenwart passte.

Dass es dem Gartenbausektor angesichts der zukünftigen Herausforderungen nicht bang sein muss, betonte Ilse Aigner in ihrer Videobotschaft eingangs der zweitägigen Veranstaltung. Die Initiatorin der „Zukunftsstrategie Gartenbau“ ließ keine Zweifel daran aufkommen, dass der gärtnerische Berufsstand dank seiner ausgeprägten Innovationsfreude und hohen Einsatzbereitschaft in der Lage sein wird, die Zukunft zu meistern. Es lässt sich vorzüglich darüber spekulieren, wie die Diskussionen verlaufen wären, hätte mit einer größeren Anzahl von Unternehmern tatsächlich ein repräsentatives Spiegelbild des Berufsstandes im Publikum gesessen.

Tim Jacobsen

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