Hätte die amtliche schwedische Lebensmittelüberwachungsbehörde Livsmedelsverket Ende April 2002 lediglich gemeldet, dass es ihr dank einer neuartigen Nachweismethode gelang, die chemische Verbindung Acrylamid in Lebensmitteln nachzuweisen, hätte das wahrscheinlich außer in Wissenschaftskreisen erst einmal niemand weiter bekümmert. Da die Behörde jedoch die Öffentlichkeit direkt über das Auffinden einer als potentiell krebserregend eingestuften Substanz in Pommes frites, Knäckebrot, Kartoffelchips, Cornflakes und Kaffeepulver informierte, schlug die Meldung große Wellen.
Selbst die Berichterstattung in den seriöseren deutschen Tageszeitungen konnte sich dem Rummel um die Kohlenstoff-Stickstoffverbindung nicht entziehen. Schlagzeilen wie „Acrylamid in Lebensmitteln: Schlimmer als Nitrofen- und Hormonskandal“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beispielsweise machten Verbraucher glauben, dass in heimischen Friteusen der Tod lauere.
Obwohl die schwedische Warnmeldung zu diesem Zeitpunkt wissenschaftlich weder untermauert noch widerlegt werden konnte, sah sich die Politik unter Zugzwang gesetzt. Da es keine Grundlage für die Festlegung eines Grenzwertes gab, erfand das damals unter grüner Federführung stehende Verbraucherschutzministerium kurzerhand eine „Signalwert“ genannte Messgröße. Dazu wurden die verschiedenen Lebensmittel in Warengruppen eingeteilt. In diesen Warengruppen wurden dann die 10 % der am stärksten mit Acrylamid belasteten Produkte ermittelt. Das am wenigsten belastete Produkt dieser stark belasteten Produktgruppe galt fortan als Messlatte, an der sich die Lebensmittelproduzenten orientieren sollten.
Umfragen zeigten, dass knapp ein Jahr nach der schwedischen Sensationsmeldung den Deutschen das Acrylamid bereits wieder ziemlich egal war. Dies schlug sich auch in der Berichterstattung nieder. Während die Frankfurter Allgemeine Zeitung Anfang 2003 noch „Bundesinstitut: Keine Entwarnung bei Acrylamid“ titelte, versuchte sie sich im Herbst 2004 mit „Ist die Bratwurst gesünder als ihr Ruf“ an einer Ehrenrettung des Genusses. Im November 2004 brach sie mit einem „Kekse und Kirchen“ überschriebenen Artikel endgültig mit der auflagensteigernden Acrylamid-Sensationshascherei.
Zu diesem Zeitpunk machte gerade der Vorwurf von „Foodwatch“-Aktivisten die Runde, die Bundesregierung gefährde wegen ihres Nicht-Handelns im Bezug auf Acrylamid vorsätzlich die Gesundheit der Bevölkerung. Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ hatte diese Vorwürfe publikumswirksam aufgegriffen und warnte seine Leser zur besten Vorweihnachtszeit, dass „gerade die Naschereien zu den Festtagen den Deutschen gefährlich werden könnten“.
„Ist die Bratwurst gesünder als ihr Ruf?“
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Bereits damals war jedem, der sich für das Thema interessierte, klar, dass eine gänzlich acrylamidfreie Ernährung technisch kaum möglich ist, will man nicht gänzlich auf die Erhitzung von Lebensmitteln verzichten. Der Autor von „Kekse und Kirchen“ versuchte dann auch gar nicht, in der Sache selbst zu argumentieren.
Um den Medienzirkus um das Acrylamid zu entlarven, bemühte er eine Meldung, die er einer im gleichen Zeitraum erschienenen Ausgabe des Nachrichtenmagazins „Der Focus“ entnahm. Demnach sei wegen der Abgase der brennenden Kerzen die Luft in Kirchen „stark mit krebserregenden Substanzen belastet“. Schadstoffbelastungen „wie an einer täglich von 45 000 Autos befahrenen Straße“ herrschten „oft“ in Kirchen.
Ob und wie stark Risiken in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden, hängt oftmals von Umständen ab, die mit dem mutmaßlichen Risiko selbst nicht unbedingt in Einklang stehen müssen. Auch nach 2002 konnte kein zusätzliches Krebsrisiko durch den Verzehr acrylamid-haltiger Lebensmittel nachgewiesen werden. Genauso wenig allerdings, wie es bisher gelang, ein solches gänzlich auszuschließen.
Die amtlichen Signalwerte haben sich in den letzten fünf Jahren kaum verändert. Nach wie vor gibt es Beobachtungswerte, die deutlich über den Signalwerten liegen. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass in einem hochsensiblen Bereich wie der Produktion von Nahrungsmitteln Kleines große Wellen schlagen kann.
Tim Jacobsen
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