"Now, here, you see, it takes all the running you can do, to keep in the same place. If you want to get somewhere else, you must run at least twice as fast as that!"

Schlagwort: Deutschland

Streikweltmeister Deutschland?

In der ersten Januarhälfte dieses Jahres war es so, dass die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) streikte, das Ganze aber weitgehend in den Bauernprotesten, die ja sowieso auch das ganze Land lahmlegen sollten, unterging. Später lieferten sich dann GDL und das Bodenpersonal der Deutschen Lufthansa eine Art Wettstreit, und da wollten dann auch die Flugbegleiter nicht außen vor bleiben. Schließlich musste auch der Nahverkehr noch einmal in die Schlagzeilen und am Ende wusste niemand mehr, was noch fährt oder fliegt, von eigenen Transportmitteln einmal abgesehen, die sich dann die Straßen mit anderen Glücksrittern teilten und ganz ohne Blockade von selbst für Entschleunigung sorgten.

Die Bauernproteste gingen dann ein bisschen aus wie das Hornberger oder auf modern vielleicht eher Heilbronner Schießen; zum Glück möchte man im Rückblick meinen angesichts so mancher Parole, die wenig Lösungs-orientiert für ein eher klar unverträgliches Miteinander stand. Wer nun denkt, die bis Ende März 300 Stunden umfassende Bestreikung des Personen- und Güterverkehrs in dieser Tarifrunde sowie die fünf Warnstreiks bei der Lufthansa hätte es in dieser Form noch nie geben, liegt allerdings falsch. 2015 gilt als Spitzenstreikjahr. Vor allem durch die Arbeitskämpfe bei der Deutschen Post und dem sog. Kita-Streik fanden damals mehr als 2 Mio. Arbeitstage nicht statt.

Für das Jahr 2022 weist das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung 225 Arbeitskämpfe mit 674 000 ausgefallenen Arbeitstagen aus, deutlich mehr als die Bundesagentur für Arbeit, die allerdings selbst darauf verweist, dass bei der Verwendung ihrer Daten „die Unsicherheit und Untererfassung des Gesamtniveaus zu berücksichtigen“ seien. International sind wir, was Streiks angeht, eher Mittelfeld. In Belgien und Frankreich fielen von 2012 bis 2021 im Schnitt 96 beziehungsweise 92 Arbeitstage im Jahr je tausend Beschäftigte aus, deutlich mehr als unsere 18 Tage.

Eine Erklärung dafür ist, dass bei uns das Mittel des Arbeitskampfes eigentlich nur in Verhandlungsphasen für Tarifverträge erlaubt ist. In Frankreich hingegen darf jeder zum Streik aufrufen. Anders als in Deutschland sind bspw. auch Generalstreiks zulässig. Neu ist, dass Tarifkonflikte bei uns zuletzt schneller eskalierten. Honni soit qui mal y pense zeigen die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften in den letzten Jahren eine deutlich rückläufige Tendenz.

Das mittlere Bruttomonatsgehalt eines Lokführers liegt mit 38 Stunden Wochenarbeitszeit bei 3735 Euro, die Flugzeugabfertiger liegen nicht weitab. Knapp 10 % kürzere Arbeitszeiten und ein gutes Sechstel mehr in der Lohntüte fordert die GDL. Die Kosten durch Arbeitskämpfe für die Gesamtwirtschaft sind schwierig festzustellen. Lufthansa sieht sich 2024 durch Streiks schon mit 250 Mio. € belastet. Die Kosten für einen Tag Bahnstreik beziffert das Institut der deutschen Wirtschaft auf 100 Mio. €.

Unter den aktuellen Arbeitskämpfen leiden aber vor allem Millionen von Reisenden. Und so lässt sich den Forderungen, dass Streiken schön und gut ist, aber irgendwann eben auch ein Ende und wenn es gar nicht anders geht in Form einer Schlichtung haben muss, durchaus etwas abgewinnen. Und wahrscheinlich ist das dann immer noch mehr als der Saldo der „Woche der Wut“, die vielleicht mehr Porzellan zerschlagen hat, als unbedingt nötig gewesen wäre.

Tim Jacobsen

Was isst Deutschland?

Wohl jeder hat zumindest in der entfernten Familie jemanden, der, auch wenn er wollte, gar nicht wüsste, wie Nudeln überhaupt gekocht werden – während andere, nicht weniger liebe Verwandte aus Spaghettini oder Spaghettoni einen Glaubenskrieg machen. Pastinaken und Petersilienwurzeln nutzten geschickt die Ge- und Abwöhnung an und von Erdnußbutter, Papaya und Avocados, um aus der Versenkung zurück zu kehren – und so ist in aller Abgedroschenheit an der Beständigkeit des Wandels durchaus etwas dran.

Im Vergleich März 2023 zum selben Monat des Vorjahres sticht zwar mit einem Plus von 27 % Gemüse heraus, richtig viel teurer ist aber mit 71 % Zucker geworden, über den so gut wie niemand spricht. 402 € geben wir alle im Schnitt Jahr für Jahr für Lebensmittel aus; der Anteil des Haushaltseinkommens, der in Polen für Lebensmittel ausgegeben wird, liegt um die Hälfte höher als bei uns.

Der Umsatz mit Biolebensmittel sank im Vorjahr im Vergleich zu 2021 zwar um 3,5 %, lag aber immer noch 25 % über dem von 2019. Interessanterweise war in der letzten Saison der Preisaufschlag für konventionelle Möhren über alle Absatzkanäle hinweg ausgeprägter als für Bioware. Noch extremer: Bei Zwiebeln ging in der zu Ende gehenden Saison konventionelle Ware ab wie Schmitz Katze, die Biokollegen dagegen konnten schon fast froh sein, das konstante Preisniveau der Vorjahre zu halten.

Doof dann auch, wenn die solvente Stammkundschaft das direktvertriebene Ökofleisch nicht mehr zu zahlen bereit ist, sich auf Discounterbio stürzt – und gleichzeitig am 30 % Ziel des Koalitionsvertrags festgehalten wird. Richtig attraktiv wird die Umstellung dadurch nicht, auch wenn Biobauern zumindest von der Preissteigerung für synthetische Dünger nicht betroffen sein sollten. Eier sind übrigens die am häufigsten gekauften Bioprodukte, noch vor Obst und Gemüse sowie Kartoffeln und den Mopros.

Der Ökolandbau schneidet in vielen Dingen besser ab als die konventionelle Landwirtschaft, die Frage, wie groß die Ertragseinbußen sind, scheidet die Geister. Smart Farming könnte eine Art Mini-game-changer werden, der große Wurf wäre allerdings eine Anpassung des EU-Gentechnikrechts. Nicht unbedingt etwas Neues: Schon die Urbios diskutierten darüber, ob nicht Molekularbiologie geradezu dafür gemacht wäre, den nicht chemisch unterstützen Pflanzen in ihrem Überlebenskampf alle denkbaren Vorteile zu bieten. Seinerzeit soll die Stimmungslage ungefähr fifty-fifty gewesen sein.

Letztendlich ist das Ganze aber mehr eine Art Scheindiskussion angesichts dessen, dass von 50 m2, die es braucht, um ein Rind 1 kg schwerer werden zu lassen, standortabhängig eben auch bis zu 2,5 dt Kartoffeln abgefahren werden können. Seit dem Jahrhundertwechsel ging der Milchkonsum bei uns um rund ein Zehntel zurück, die Alternativen aus Hafer, Soja und Mandel eroberten 5,5 % Marktanteil.

Erfreuliche 72 % der Deutschen greifen täglich zu Obst und Gemüse, wieder einmal sind die Frauen mit 81 % vernünftiger als die Männer mit 63 %. Fleisch gibt es bei 19 % unserer Frauen jeden Tag, hier liegen die Männer mit 31 % deutlich darüber. Mit unseren durchschnittlich 52 kg Fleischkonsum liegen wir zwischen den 4 kg in Indien und den 110 kg in Amerika, Australien und Argentinien irgendwo in der Mitte.

Die Beliebtheit von Suppen und Eintöpfen steigt mit dem Alter, beim Ketchup ist es andersrum. Frauen trinken mehr Kräutertee als Männer und Männer viermal so viel Alkohol. 78 kg Lebensmittel werfen wir alle durchschnittlich weg und von den 7,4 % der Treibhausgasemissionen, die auf die Landwirtschaft entfallen, stammen zwei Drittel aus der Tierhaltung.

Gut die Hälfte Deutschlands wird in der einen oder anderen Form bewirtschaftet und so wird schnell klar, dass Insektenhotels hier und bestäuberfreundliche Blüten da allenfalls Kosmetik sein können und es vor allem mehr Diversität in der Fläche braucht.

Insekt ist dabei nicht gleich Insekt, mit rund einer Million Arten sind Insekten die artenreichste Tiergruppe überhaupt. Andere Länder, andere Sitten: während nicht nur in Bayern Insekten eher langsam Eingang in unsere Speisekarten finden werden, sind sie für rund ein Viertel der Weltbevölkerung der Proteinlieferant schlechthin.

Vielleicht kommen wir aber auch noch einmal mit einem blauen Auge davon – zumindest was die Insekten angeht. Wer schon einmal einen Vorgeschmack darauf bekommen möchte, wie es gehen könnte, die bis 2050 wahrscheinlich 10 Mrd. Menschen zu ernähren, sollte einen Blick in „Eat Good“ wagen.

Auch auf die Gefahr hin, eine der Haupterkenntnisse der Rezeptsammlung zu spoilern: mit den Lancet-Kommissions-Empfehlungs-gerechten 350 g Gemüse und 200 g Obst täglich sollte uns Gärtnerinnen und Gärtnern eigentlich nicht bang vor der Zukunft sein!

Tim Jacobsen

Aufklärung, die Spaß macht

Zurück von weggewesen: auch bei den Kollegen einmal über den Kanal begann im letzten Jahr nach mehrmaligem Coronawinter- und -sommerschlaf wieder die Veranstaltungssaison. Einigermaßen bezeichnend, dass sich die Mund- und Nasenbedeckungen bis zum Wiedereinstieg in den öffentlichen Nahverkehr diesseits der Passkontrolle eine Pause verdient hatten, aber geschenkt: England im Spätherbst wie eine andere Welt, die Kathedralen strahlten im Dunklen um die Wette, Schlittschuhbahnen luden zur vorweihnachtlichen Ausfuhr und der Sieg der englischen Nationalelf über die Vereinigten-Königsreichs-Kollegen aus Wales wurde – public viewing at its best – ein- und ausgehend gefeiert.

Nachdenklicher stimmte, was auf der Onion and Carrot Conference (OCC) diskutiert wurde. Und damit sind nicht die Ausführungen des aus Missouri stammenden Präsidenten der US-amerikanischen National Onion Association gemeint, der in der Biden Administration den Grund für alles Übel auf der Welt sah und seinen europäischen Berufskollegen riet, doch einfach nicht zu verkaufen, wenn die Preise nicht stimmen. Erinnerte Greg Yielding mit markigen Sprüchen und Cowboyhut an die Karikatur eines Westernhelden, erfüllte David Exwood die Erwartungen an die Rede eines Bauernverbandsvizepräsidenten – wobei Häme angesichts des selbsteingebrockten Brexits mit Sicherheit fehl am Platz ist.

Nachhaltigkeit der Inflationsbekämpfung zu opfern und mit noch mehr Saisonarbeitskräften aus Nepal und Indonesien Arbeitsmarktlücken stopfen, hört sich zwar nach einem Plan an, aber einem vielleicht eher kurzsichtigen. Steilvorlage für Emeritus Tim Lang, der gemeinhin als einer der klügsten Köpfe Englands gilt. Und auf einmal waren die Probleme unserer mit Linksverkehr gesegneten Berufskollegen auch unsere: Ohne Importe geht es auch in England nicht, hüben wie drüben führt falsche Ernährung zu Riesenkosten für die Gesundheitssysteme und konzentriert sich die Marktmacht im Lebensmitteleinzelhandel auf eine Handvoll anerkannt profitorientierter Unternehmen.

Und da die Engländer uns normalerweise einen Schritt voraus sind, wird auch in Deutschland die Lücke zwischen der Lebenserwartung privilegierter und weniger privilegierter Bevölkerungsschichten größer werden. Die nie erreichten mindestens Fünf am Tag werden zukünftig noch mehr zu einem Luxusproblem werden und auch bei uns zeigt sich: Die Tafeln sind nicht die Antwort und können das Problem auch nicht lösen. Die Politik ist gefragt, Lang wünschte sich einen 1943er Hot Springs Moment – auch wenn eigentlich in den letzten knapp achtzig Jahren genug Zeit gewesen wäre, der seinerzeit im Rahmen der UN Conference on Food and Agriculture aufgestellten Forderung nach einer „ausreichenden und angemessenen Versorgung eines jeden Menschen mit Nahrung“ nachzukommen.

Die 2008er Wirtschaftskrise und vieler ihrer Nachfahren und Vorläufer lassen grüßen

Tim JAcobsen

Wie verzwickt das Problem ist, zeigt Langs Vergleich inflationsbereinigter Konsumentenpreise: Möhren waren 2019 halb so teuer wie 1988, Zwiebeln um die Hälfte billiger. Das Preispendel schlug zwar in den Folgejahren in die Gegenrichtung aus und spätestens mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine wurde dann auch dem letzten klar, dass die Preise gewissermaßen durch die Decke gehen. Die Chance, folgerichtig die Erzeugerpreise neu zu tarieren, wurde jedoch verpasst, auch 2022 ließen sich Zwiebel und Möhren im Handel finden, die den Preisaufschwung seit 2019 irgendwie nicht mitbekommen hatten.

Die Antwort des LEHs lautete nämlich allgemeinhin, dass die Inflation „im Schulterschluss mit den Produzenten“ bekämpft werden müsse. Etwas, das Ged Futter dann eher als „auf den Schultern der Produzenten“ interpretierte. Der ehemalige Chefeinkäufer ist Experte für unlautere Wettbewerbspraktiken im Vereinigten Königreich und konnte jedem und jeder nur raten: Augen auf bei der Geschäftspartnerwahl. Es seien zwar unruhige Zeiten, doch – und da zeichnete sich dann auch endlich einmal eine lang erwartete gute Nachricht ab – werde die abnehmende Hand angesichts abnehmender Warenverfügbarkeit zukünftig weniger Spielraum haben und auf zuverlässige Partner angewiesen sein.

Damit ist allerdings noch nicht das Problem gelöst, dass in Krisenzeiten der Obst- und Gemüseverzehr leidet und das besonders in weniger begüterten Bevölkerungsschichten: mehr als ein Viertel aller Haushalte mit Kindern mussten in England in den letzten Monaten Mahlzeiten ausfallen lassen. Davon betroffen waren mehr als 4 Mio. Kinder. Knapp 10 Mio. Erwachsene mussten in den letzten Monaten auf die eine und andere Mahlzeit verzichten. Die Hälfte der Haushalte mit moderat bis niedrigen Einkommen machte Abstriche an den Obst- und Gemüsetheken, was zu einem Rückgang der Verkäufe um knapp ein Zehntel im Vergleich zur Prä-Covid-Zeit führte.

Schulgärten, wie von Joe Mann während der OCC angeregt, werden allerfrühestens mittelfristig für Veränderung sorgen. Deutlich schneller könnte es dann mit Simply Veg gehen, dem neuesten Streich des IPA Effectiveness-Preisträgers Dan Parker. Anders als noch in der ebenfalls sehr sehenswerten „Eat them to defeat them“-Kampagne hilft Veg Power dieses Mal dabei, mit Hilfe von simplyveg.org.uk preiswert und geschmack-voll die Klippen der „Permakrise“ ernährungstechnisch zu umschiffen. Wobei weder ausgewogen oder gesund noch regional oder saisonal im Vordergrund stehen, es klammheimlich aber dann doch tun.

Parker hatte sieben Jahre Vorlauf, die komplett privat finanzierte Kampagne rund zu bekommen. Zeit, die uns fehlt. Mit nur einem Bruchteil der einen Milliarde Euro, die als Anschubfinanzierung zur Förderung des Umbaus der Tierhaltung eingeplant sind, könnte hier Großes geschaffen werden.

Tim Jacobsen

Ausnahmezustand wird zum Normalzustand

In den Jahren seit dem Fall der Berliner Mauer war etwas in Vergessenheit geraten, dass fossile Energieträger nicht nur eine fantastische Möglichkeit sind, in Zeiten großer Nachfrage eine Menge Geld zu verdienen, sondern auch ein Furcht-einflößendes-Druckmittel gegenüber denjenigen, die davon gerne etwas abhaben möchten. Nicht unbedingt verwunderlich, spielt dann auch gegenwärtig Nachhaltigkeit nicht mehr die ganz große Rolle in der öffentlichen Diskussion und unser Wirtschaftsminister Robert Habeck muss nicht nur in den arabischen Golfstaaten eine Menge Kröten schlucken.

Selbst wenn der unterkomplexe Ratschlag lautet, nicht die eine Abhängigkeit durch die nächste zu ersetzen, sondern vielmehr die Bezugsquellen möglichst weit zu fächern, spielen neben Fragen aus der Abteilung wie-wollen-wir-leben und mit-wem-wollen-wir-Geschäfte-machen auch technische Aspekte eine große Rolle, wie die ganze LNG-Terminaldiskussion zeigt. Vor Beginn des Krieges kam etwa die Hälfte des nach Europa importierten Erdgases aus Russland, nur ein Zehntel des EU-Verbrauchs wurde innerhalb der EU gefördert. Ein Viertel der Rohölimporte stammte aus Russland, gleichbedeutend mit der Hälfte der russischen Rohölexporte und auch die Hälfte der Kohleeinfuhren stammte aus Russland.

Alternative Lieferländer stehen mit Nordafrika und der Golfregion zumindest der Theorie nach parat. Da wird es dann aber schnell hakelig. Eigentlich sind die Handelsbeziehungen Richtung Nordafrika im Allgemeinen wohl etabliert. Wenn dann aber Algerien, das auf sehr großen Erdgasvorkommen hockt, wegen Streitigkeiten in der Westsahara kein Gas mehr Richtung Marokko schickt, kann über die Maghreb-Europe-Pipeline auch keines mehr nach Spanien kommen. Um das Ganze dann noch etwas komplizierter zu machen, ist Gazprom im traditionell Russland-freundlichen Algerien auch an den dortigen Gasfeldern beteiligt.

Auch Libyen sitzt auf Gasreserven, die in verflüssigter und tiefgekühlter Form als Flüssiggas Europa erreichen. Mehr als zehn Jahre Bürgerkrieg haben jedoch auch in der Gasinfrastruktur Spuren hinterlassen, zumal die ostlibysche Bürgerkriegsfraktion wiederum auf Unterstützung aus Russland zählen kann. Ägypten hat erst kürzlich das vielleicht größte Gasfeld im Mittelmeerraum erschlossen, bis die technischen Voraussetzungen dafür geschaffen sind, die Exportkapazitäten zu erhöhen, wird es allerdings noch dauern, zumal der Energiebedarf im eigenen Land angesichts des Bevölkerungswachstums rasant steigt.

Der Zypernkonflikt erschwert einen Pipelinebau aus dem östlichen Mittelmeerraum Richtung Südeuropa. Die Türkei selbst leitet wiederum zum einen aserbaidschanisches Erdöl nach Griechenland und Italien, ist bezüglich ihrer eigenen Energieversorgung aber stark von Russland abhängig; könnte aber hinsichtlich der Nutzung fossiler Energieträger aus dem (irgendwann vielleicht wieder Sanktions-befreiten) Iran und Irak zukünftig eine gewichtige Rolle einnehmen.

Bleiben die Golfstaaten. Saudi-Arabien, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate könnten mit ihren sog. freien Kapazitäten den Ölpreis maßgeblich beeinflussen, die OPEC hielt jedoch erst an einem mit Russland vereinbarten Ölförderplan fest, um dann auf Druck der USA erst einer Erhöhung der Fördermenge zuzustimmen, um dann Mitte Oktober die Fördermenge erneut zu drosseln. Auch beim Erdgas gibt es ähnlich wie beim Erdöl mit OPEC+ ein Gas Exporting Countries Forum; LNG aus Katar geht vertraglich gebunden vornehmlich nach China und Japan, die  für Deutschland angekündigten Lieferungen haben den Umfang von wenigen Stunden Nord Stream unter Volllast.

Ungelöste regionale Konflikte gibt es auch im Nahen Osten zuhauf. Interessant ist, dass der weltweit größte Erdölexporteur Saudi-Arabien bis 2030 die Hälfte seiner Energie aus erneuerbaren Quellen gewinnen will. Die Vereinigten Arabischen Emirate haben ähnliche Pläne, südlich von Dubai entsteht derzeit auf 77 km2 das größte Solarkraftwerk der Welt. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate haben sich dann auch beide gleichermaßen auf die Fahnen geschrieben, auf den Energiemärkten der Zukunft mit Wasserstoffexporten weiterhin an führender Stelle mitmischen zu wollen.

Geht es um kurzfristigen Ersatz russischen Erdgases, fehlen weitgehend die technischen Voraussetzungen, Gas kostengünstig aus dem Nahen Osten nach Europa schaffen zu können – von all den mehr oder weniger weit reichenden Implikationen, die damit verbunden wären, einmal abgesehen. Zwar standen vor dem Beginn des russischen Invasionskriegs ähnlich wie in der Golfregion auch in Europa die Zeichen auf Energiewende und wenn sich auch diese Dynamik sich seit dem 24. Februar 2022 noch einmal beschleunigt hat, hat der Energieplan der Europäischen Kommission Lücken, die sich nur mit Hilfe der Golfstaaten schließen lassen werden. Langfristig wird es ohne die Golfstaaten nicht gehen können.

Ob und wie weit diese Entwicklungen von Russland bei der Entscheidung zur Invasion der Ukraine bereits mit-eingeplant waren, wird sich wahrscheinlich nie zur Gänze klären lassen. Analysten beobachten allerdings schon seit längerem einen Ausbau russischer Energiebeziehungen Richtung pazifischer Raum. Ob das Kalkül aufgeht, muss die Zukunft zeigen – Fakt ist: China importiert unbeirrt von den westlichen Sanktionen munter weiter Öl, Kohle und Gas aus Russland (wobei wir Deutschen die letzten sind, die deswegen ein Fass aufmachen sollten). Die lange gemeinsame Grenze verbindet, dennoch stammt der Großteil der chinesischen Energieimporte nicht aus Russland, auch wenn die beiden Länder neben der Power of Siberia auch eine Ölpipeline durch Kasachstan sowie die Ostsibirien-Pazifik-Pipeline verbindet.

Auch Japan, Südkorea und Vietnam sind dankbare Abnehmer russischen Flüssiggases. Malaysia, Indonesien und Australien sind die einzigen Nettoenergieexporteure im asiatisch-pazifischen Raum. Malaysia ist nicht nur der fünftgrößte Flüssiggasproduzent der Welt, das Land liegt an der Straße von Malakka zudem geostrategisch äußerst günstig. Indonesien ist der weltweit größte Kohleexporteur, ein Großteil der gegenwärtig erzielten Mehrerlöse wird dazu verwendet, den Energieverbrauch im eigenen Land zu subventionieren. Indien leidet stark unter den Energiepreissteigerungen, die gewissermaßen ungefiltert an die Bevölkerung weitergegeben werden. Russisches Öl zu Sonderkonditionen wird als einer der Auswege gesehen, den Energiehunger des aufstrebenden Subkontinents zu stillen.

Eines der europäischen Armenhäuser, Rumänien, könnte aus der Energiekrise als einer der Sieger hervorgehen: Im Schwarzen Meer werden eine Reihe nicht erschlossener Ressourcen vermutet und auch das Potenzial für Strom aus regenerativen Quellen ist noch lange nicht ausgereizt. Schon jetzt ist Rumänien zweitgrößter Gasproduzent in der EU. Ob und wie Deutschland seine eigenen Reserven nutzen und statt in den USA gefracktes Gas gewissermaßen ein Produkt aus dem Regionalfenster einspeisen wird, hängt vermutlich vom Verlauf des Winters, den Preisentwicklungen auf den Weltmärkten und dem Füllstand der Gasspeicher spätestens im Herbst 2023 ab.

Gehen erst einmal flächendeckend die Lichter aus, wird auch niemand mehr Details der Laufzeitverlängerung diskutieren wollen – auch wenn zumindest dieses Szenario den Experten zufolge derzeit eher unwahrscheinlich erscheint. Keinesfalls vergessen werden darf aber auch: Russland ist für viele Länder nicht nur aus fossilenergetischen Gründen ein interessanter Partner, sondern auch als Lieferant nicht fossiler Rohstoffe.

Tim Jacobsen

Die weiteren Aussichten: teurer und teurer

Herauszufinden, ob jemand gerade noch unter 50 Jahre alt ist oder darüber, ist relativ einfach, guckt man sich Fotoalben aus der jeweiligen Kindheit an. Diejenigen von uns, die noch relativ weit vorne Aufnahmen von sich auf Auto-leeren Autobahnen haben, kamen mit Sicherheit vor dem 16. Dezember 1973 auf die Welt. Es waren streng genommen nur drei Sonntage, die in der Rückbetrachtung den Mythos der autofreien Sonntage schufen. Der Jom Kippurkrieg war Geschichte, auf den Ölmärkten entspannte sich die Lage, angesichts der nahenden Feiertage hieß es schnell wieder Auto-Bahn frei. Auch wenn die Ölpreise seitdem streng genommen weitgehend unbemerkt kontinuierlich stiegen und dieser sich wie ein Naturgesetz anfühlende Preisanstieg niemanden ernsthaft vom Autofahren abgehalten hätte – mitunter eines der Probleme, das gewissermaßen Öl ins Feuer der gegenwärtigen Energiekrise gießt.

Denn so viel ist klar: nur Preisdruck sorgt dafür, dass mittel- und langfristig in sparsame Technologien investiert wird. Und wenn nun derzeit die Erwartung vorherrscht, dass die Gaspreise womöglich bald wieder sinken, verhindert das Technologiesprünge – auch wenn sich die Experten streng genommen nur darüber streiten, wie hoch der Faktor ist, um den Energie teurer wird und ob nun Erdgas oder Elektrizität die größten Sprünge machen wird. Der Tankrabatt setzte in dem Zusammenhang wahrscheinlich auch das falsche Zeichen, suggerierte er doch, dass nach den drei Monaten alles wieder beim Alten sein sollte. Streng genommen setzen auch die Verzichtsappelle den falschen Akzent, besonders in Kombination mit den üblichen Abrechnungsmodalitäten beim Erdgasbezug. Wird beim Tanken jedes Mal aufs Neue die Preisentwicklung offensichtlich, kommt beim Erdgas die Erkenntnis erst mit der Erhöhung des Abschlages.

Der autofreie Sonntag und die Sparappelle, die Deutschlands Reaktion auf die Drosselung der Energieexporte aus arabischen Ländern war, die wiederum die Reaktion auf die gar nicht so heimlichen Waffenlieferungen des Westens an Israel war, welches kurz zuvor von Ägypten und Syrien überfallen worden war, senkten den Benzinverbrauch zwar kurzfristig, aber leider auch nur für äußerst kurze Zeit, um rund ein Zehntel. Ein bisschen kommt dann „ewig grüßt das Murmeltier“ Stimmung auf: Auch 1973 stand Deutschland im Verdacht, unter Rücksicht auf eigene Wirtschaftsinteresse die gemeinsame Linie des Westens eher kurvenförmig zu interpretieren. Auch 1973 war eines der Hauptprobleme, dass der Nachfrage in Deutschland ein wenig diversifiziertes Angebot gegenüberstand.

Eine spannende Frage, die in der gegenwärtigen Embargodiskussion nur selten diskutiert wird, ist, ob wir denn nicht auch beim Nichtbezug des Erdgases aufgrund von so genannten Take-or-Pay-Regeln trotzdem weiterbezahlen müssten. Käme es zum Importverbot unsererseits, wäre entscheidend, ob die Force-Majeure-Klausel in den Lieferverträgen auch hoheitliche Maßnahmen umfasst. Falls nicht, würde bei Vertragslaufzeiten bis teilweise zum Jahr 2036 noch viel Geld über den Dnepr Richtung Russland fließen. Eine weitere spannende Frage ist, wo im Fall der Fälle als erstes der Hahn zugedreht wird. Glashersteller berichten, dass sie ihren Gasbedarf allenfalls um die Hälfte senken können, wollen sie eine Zerstörung ihrer Schmelzwannen verhindern. Und was passiert, wenn BASF in Ludwigshafen keine Ausgangsstoffe mehr produziert, Thyssenkrupp keinen Stahl mehr liefert?

Es muss aber auch nicht immer an den offensichtlichen Dingen scheitern: was, wenn aufgrund von Energieengpässen kein Papier und Verpackungsmaterial mehr produziert werden kann, wenn sich zwar grundsätzlich die Fließbänder weiterdrehen, aber schlicht und einfach die Windschutzscheiben fehlen? Auch die Meinungen darüber, wie und ob überhaupt irgendetwas abgeschaltet werden kann, gehen auseinander. Wenn der Weiterbezug nicht über die Verteilstationen abgeschaltet werden kann, wer wird die Schieber auf den Betriebsgeländen bedienen? Und wer möchte der Schuldige daran sein, dass es Zeit, Kosten und Mühen bedeutet, nach einem Druckabfall im Gasnetz das System wieder ans Laufen zu bringen?

Ebenfalls ungeklärt, wenn auch angesichts der Bilder und Berichte aus der Ukraine etwas zynisch, ist die Frage, was wir im Embargofall als Gegenleistung für eine mittelschwere Rezession bekämen: die unsichere Aussicht auf eine erhoffte Schwächung Russlands? Und so ist es kein Wunder, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften an diesem Punkt an einem Strang ziehen und betonen, dass die Embargofolgen in Deutschland stärker spürbar wären als in Russland – und da ist von all den anderen denkbaren Veränderungen in unserem Zusammenleben noch nicht einmal die Rede. Und schon geht es nicht mehr nur um Frieren für den Frieden, sondern ziemlich genau ums Eingemachte. Und dann ist da schon etwas dran, dass wir die ganze Fußball-WM-Empörung vergessen sollten, um dann den einen Despoten gegen den nächsten auszutauschen, um nur ja nicht im Winter kalt duschen zu müssen, schließlich ist die Vergrößerung des Lieferantenspektrums das Gebot der Stunde.

An der Stelle wird es nun wieder ein bisschen tricky: Spanien zum Beispiel hat frühzeitig auf LNG aus Nordafrika gesetzt, ist nur leider Pipeline-technisch schlecht angebunden an das resteuropäische Netz. Weshalb das auch weiterhin gut versorgte Spanien nicht einsieht, warum es sich den Sparplänen aus Brüssel beugen sollte. Und die Spanier sind mit dieser Idee beileibe nicht die einzigen. Ganz einsichtig ist es ja auch nicht, warum wir Frackinggas importieren wollen, unsere eigenen Vorkommen aber auf gut kolonialistisch lieber Vorkommen sein lassen. Zwar hatten unsere Bierbrauer Angst um die Güte ihres Wassers, werden aber letztendlich nicht den Ausschlag gegeben haben. Die Diskussion um die Förderplattform zwischen Borkum und Schiermonnikoog spricht Bände. Stattdessen werden nun von Eemshaven bis Brunsbüttel vier LNG-Terminals geplant. Geplant war schon einmal eines. Und das kam so:

Vor etwa 200 Jahren wurden die ersten Lampen mit Gas betrieben, in Berlin beleuchten immer noch mehr als 20000 Gaslampen das Straßenbild. Das so genannte Stadtgas fiel als Abfallprodukt in den Kokereien ab. Erst mit der Krise der Steinkohle in den fünfziger Jahren und der Entdeckung des Groninger Gasfeldes sowie weiterer Vorkommen im Nordwesten Deutschlands wurde Erdgas als Energieträger zunehmend beliebter. Aus dieser Zeit stammt auch die Bindung des Gaspreises an den Ölpreis: die Wahl des Energieträgers sollte nicht über die Profitabilität entscheiden. Der Streit darüber, wie hoch der Gaspreis während der zweiten Ölkrise denn tatsächlich sein muss, führte zu einer Abwendung von den Niederlanden und einer Hinwendung zu Norwegen und in noch viel größerem Maße der Sowjetunion. Mit dem Kreml hatte Deutschland schon Ende der fünfziger Jahre ein aus westlicher Bündnissicht delikates Geschäft eingefädelt und lieferte Stahlrohre  zur Erschließung westsibirischer Gasvorkommen.

Der Erdgas-Röhren-Vertrag sah Ende der sechziger Jahre dann weitere Stahlrohrlieferungen vor, im Gegenzug floss 1973 erstmals russisches Erdgas in das deutsche Pipelinenetz. Auch Privathaushalte sahen die Vorteile des Energieträgers Erdgas, was wiederum eine Speicherung des Erdgases im verbrauchsarmen Sommer für den verbrauchsstarken Winter nahelegte: Salzkavernen und ehemalige Lagerstätten waren die offensichtlichen Kandidaten für die Einlagerung preislich vorteilhaften Gases während der Sommermonate. Zunehmend erschöpfte Vorkommen in Deutschland und den Niederlanden führten nicht unwesentlich zu einer immer stärkeren Abhängigkeit von Russland. Und an diesem Punkt kommt wieder der Chemiekonzern aus Ludwigshafen ins Spiel. Da die Norweger keine Lust hatten, es sich mit der marktbeherrschenden Ruhrgas zu verderben, machte BASF im Herbst 1990 mit einem zwischen Wintershall und Gazprom unterzeichneten Abkommen den Seitenwechsel offensichtlich. Mitte der Neunziger Jahre erhielt Gazprom über die Beteiligung an Wingas erstmals auch die Kontrolle über Vertriebsstrukturen in Deutschland.

„Selber schuld. Nur was hilft´s?“

Tim Jacobsen

Es ist müßig, nachzuvollziehen, wer in den Folgejahren alles eine Diversifizierung der Bezugsquellen anmahnte und auch höhere Speichermengen forderte, Fakt ist, dass auch die Monopolkommission von Gerhard Schröder ignoriert wurde. Das Gazprom, Ruhrgas und Wintershall-Gemeinschaftsprojekt Nordstream 1 folgte, damit wurden Polen und die Ukraine umgangen. Schröders  Tätigkeit für die Pipelinegesellschaft war der Auftakt zu einer Reihe weiterer Posten bei staatlichen russischen Energiekonzernen. 2011 wurde Nordstream 1 in Betrieb genommen, zeitgleich begann Nordstream 2 Form anzunehmen, auch wenn der außenpolitische Ton Moskaus immer rauer und schärfer wurde. 2014 – und damit kurz nach der Annexion der Krim durch Russland – stimmte das Bundeswirtschaftsministerium dem Verkauf deutscher Gasspeicher an einen russischen Oligarchen zu. Ein Jahr später gab es ministeriellerseits keine Einwände, als die beiden großen deutschen Gasspeicher im Tauschgeschäft gegen Aktienanteile ebenfalls in russischen Besitz gerieten. Im Jahr 2021 waren die Speicher dann erstmals nicht in gewohnter Weise gefüllt und Nordstream 2 fertig.

Ruhrgas, das größte Unternehmen der deutschen Gaswirtschaft hatte von 1979 bis 2009 eine Lizenz zur Errichtung eines Gasterminals für den Import von LNG in Brunsbüttel, nutzte diese aber nicht und setzte dagegen vor allem nach der Übernahme durch E.ON auf Russland. Die Umstände, die den Zusammenschluss von E.ON und Ruhrgas vor ziemlich genau zwanzig Jahren begleiteten, lesen sich auch heute noch wie ein Wirtschaftskrimi und waren wohl Ausdruck eines Verständnisses von Wettbewerbspolitik als einer Gleichschaltung von Unternehmens- und Staatsinteressen. Letztendlich wurde damit aber unsere energiepolitische Abhängigkeit von Russland zementiert. 2015 wurde die ehemalige E.ON Ruhrgas nach Umwandlungs- und Abspaltungsmaßnahmen auf Uniper umfirmiert. Aufgrund der Diskrepanz zwischen Ein- und Verkaufspreisen kam Uniper nach dem 24. Februar 2022 in äußerst unruhige Fahrwasser, war aufgrund der großen Marktbedeutung allerdings systemrelevant und wurde unlängst mit einem Milliardenhilfspaket gerettet.

Tim Jacobsen

Die Welt dreht sich weiter

Nachdem im Frühjahr erst die Gasspeicherfüllstandsanzeige den Inzidenzwert als Gradmesser für das Wohlbefinden unserer Gesellschaft abgelöst hatte, rückte das Infektionsgeschehen zuletzt wieder stärker in den Fokus, um dann letztendlich mit der staatlich verordneten Aufgabe einer planmäßigen Erhebung des Pandemiegeschehens im Aufmerksamkeitsgeheische wieder in die zweite Reihe verbannt zu werden. Der ungewohnte Anblick von Militärgerät auf deutschen Autobahnen und die vielen Kennzeichen, bei denen die blaugelben Fahnen keinen Sympathieausdruck sondern Nationalzugehörigkeit bedeuten, machten aber auch Menschen, die sonst in der Zeitung mit den großen Buchstaben allenfalls die Badenixen zur Kenntnis nehmen, unmissverständlich klar, dass derzeit streng genommen kein Stein auf dem Stein bleibt, in der Ukraine wortwörtlich und bei uns im übertragenen Sinne.

Gut, dass es Veranstaltungen wie die des FAZ-Kongresses gibt, die bei der Einordnung des Weltgeschehens im Kleinen wie im Großen helfen: Da ging es dann um Fragen wie die, ob städtische Bühnen noch zeitgemäß sind – was eifrig bejaht wurde – und die, ob es für den automobilisierten Individualverkehr eine Zukunft gibt – was mit Hilfe eines evolutions-ähnlichen Erklärungskonstruktes ebenfalls Zustimmung fand. Die Diskussion, wem der Platz im öffentlichen Raum eigentlich gehört, war dann nicht weit weg, was fast zwangsläufig die Überlegung nahelegte: Muss der eigentlich so aussehen? Schnell wurde klar, dass Bürgerbeteiligung kein Garant für städtebauliche Ästhetik sein kann und auch sonst eher mit Vorsicht genossen werden sollte.

Demografischem Wandel und Fachkräftemangel könnte mit Hilfe besserer beruflicher Orientierung begegnet werden und auch an dieser Stelle wurde deutlich, dass das eine zu tun immer auch dazu führt, das andere lassen zu müssen. Zufällig kehrte auch noch just am Tag des Kongresses der Mann aus dem Weltall zurück, der über Monate hinweg wohl Deutschlands exklusivsten Arbeitsplatz innehatte. Matthias Maurer hat die in letzter Zeit spürbare Weltraumeuphorie zwar nicht begründet, diente aber als Zielscheibe derer, die gerne das Weltraumforschungsgeld zur Lösung irdischer Probleme investiert sehen würden. Einmal mehr wurden Bedenken damit entkräftet, dass in der Diskussion von Details schnell der Blick aufs das bedeutsamere Große und Ganze verloren gehe.

Zu Beginn des Kongresses zugeschaltet war EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, nach Maurer vielleicht die Nummer zwei der exklusivsten Arbeitsplätze, die Deutschland zu vergeben hat. Bleibt zu hoffen, dass der markige Spruch von den Autokraten dieser Welt, die wissen müssten, dass die Demokratien ihre Werte verteidigen, nicht mit der Zeit an Eindeutigkeit verliert. Bundesbankpräsident Joachim Nagel versprach, dass wir mittelfristig bei zwei Prozent Inflation herauskommen könnten und verwies darauf, dass es in der Geschichte noch nie Phasen gegeben hätte, die für die Geldpolitik einfach gewesen wären. Anders als die Währungsunionsbegeisterung Nagels dann der Tipp zur Geldpolitik im familiären Bereich von Kolumnist Volker Looman: Ein gemeinsames Konto für gemeinsame Aufgaben und darüber hinaus jede und jeder für sich selbst.

Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, betonte, dass unser politisches und rechtliches System während der Pandemie zu keinem Zeitpunkt in Gefahr war. Der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, mahnte bereits im Mai, dass die Zahlen im Winter wieder deutlich ansteigen werden. Die gute Nachricht dabei war, dass viele Menschen vollständig geimpft sind, die schlechte, dass noch zahlreiche Menschen an der Pandemie sterben werden – und neben den Ungeimpften hauptsächlich Menschen mit einem schlappen Immunsystem die Leidtragenden sein werden. Auch das Gutachten des Corona-Sachverständigenrats zur Coronapolitik der vergangenen Jahre ziemlich genau acht Wochen später wird daran wenig ändern.

Tim Jacobsen

Der große Wurf blieb aus – aber lieber einen kleinen als gar keinen

Es ist zum Mäusemelken: wurde mit Corona mehr als offensichtlich, dass das Konzept Innenstädte irgendwie dringend sanierungsbedürftig ist, gab es gewissermaßen als Antwort auf nicht gestellte Fragen ein Finanzpaket zur Betonierung des Fußgängerzonensta­tusquos. Beweisen Starkregenereignisse mit ihren verheerenden Folgen, dass irgendwie irgendetwas getan werden muss, um die Folgen des Klimawandels vielleicht doch noch etwas angenehmer zu gestalten, scheint die einzig politisch zündende Idee, mit Hilfe von Elektroautos den Verkehrsinfarkt in die Zukunft retten zu wol­len. Will sich die CDU personell erneuern, melden sich ausschließ­lich Kandidaten, die selbst in ihrer Jugend höchstwahrscheinlich nicht unbedingt einen Flair von Erneuerung und Aufbruch verbrei­tet haben. Moppert dann die CSU, dass Bayern nicht äquivalent zu seinem Stimmanteil in der Regierung vertreten ist, geht einem auf einmal Andreas Scheuer nicht mehr aus dem Kopf.

So wirkt dann das „Mehr Fortschritt wagen“ der Ampelkoalition zumindest ein kleines bisschen wie ein Befreiungsschlag. Wahr­scheinlich stand bei so manchem Journalistenkollegen auf dem Weihnachtswunschzettel, zumindest einmal im Leben eine Frage von Olaf Scholz mit einem knappen Ja oder Nein beantwortet zu bekommen; im ganzen Nebelkerzendickicht ist aber die insge­samt geräuschlose Regierungsbildung eine Leistung, die auf einen eher problemlösungsorientierten Ansatz unseres neuen Kanzlers verweist. Dass dann im ganzen Hin und Her keiner der als Schreckgespenster an die Wand gemalten Kandidaten das Rennen um das Bundeslandwirtschaftsministerium machte, sondern ausgerechnet der sich selbst mit „anatolischer Schwa­be“ charakterisierende Cem Özdemir, ging in Zeiten, in denen ungestraft mit Fackeln an Wohnhäusern von Politikern aufmar­schiert wird, dann schon fast unter.

Bei bisher jeder Erhöhung des Mindestlohns wurde nicht mehr oder weniger als der Untergang des Abendlandes befürchtet – ganz so schlimm ist es dann Gottseidank bei allen sechs bisherigen Erhöhungsrunden nicht gekommen. Natürlich ist der Sprung von 9,82 € auf 12 statt der geplanten 10,45 € im zweiten Halbjahr 2022 eine Hausnummer. Und auch wenn diesbezüglich noch nichts beschlossen ist, wird sich die SPD die Butter nicht mehr vom Brot nehmen lassen.

Ganz ausverhandelt ist auch von der Leyens Green Deal nicht. Und da wird es streng genommen dann um einiges fitzeliger, schließlich steht mit Farm to Fork mittel- und langfristig deutlich mehr als „nur“ ein abermals erhöhter Lohnkostenanteil, so schmerzlich im Einzel- und ärgerlich in jedem Fall der auch sein mag, ins Haus. Der Green Deal könnte ans Eingemachte gehen.

Und da könnten sich angesichts amtlich verordneter Flächenstilllegungen und dem Aus vieler Pflanzenschutzmittel hierzulan­de sowie sich häufender Wetterkapriolen allerorten, der Importpolitik Chinas, der Biotreibstoffstrategie Nordamerikas und den Exportrestriktionen Russlands ganz neue Allianzen zwischen Verbraucher und Landwirten bilden: steigt die Inflation infolge gestiegener Lebensmittelpreise in heute kaum vorstellbare Grö­ßenordnungen, wird sich schnell die Frage stellen, wie viel Umweltschutz wir als Gesellschaft wollen und wie viel Umweltschutz wir auch dem nicht so wohlhabendem Rest der Welt gegenüber ethisch und moralisch verantworten können.

Wir machen aus technologischem auch gesellschaftlichen Fortschritt … wo Fortschritt entsteht, muss er auch gelebt werden


Aus den Seiten 15 und 22 des Koalitionsvertrags des Bündnisses für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit

Und spätestens dann wäre der Realo vom Bündnis 90/die Grünen als ausgewiesener Brückenbauer in seinem Element und könnte vielleicht sogar die in sein Boot holen, denen es nicht staatsmännisch genug erscheint, als Minister mit dem Fahrrad die Ernennungsurkunde beim Bundespräsidenten im Schloss Bellevue abzuholen um den Stau der Panzerlimousinen zu umfahren. In die Höhle des Löwen gesprungen ist auch Prof. Dr. Karl Wilhelm Lauterbach. Und kämpft seitdem mindestens an zwei Fronten: zum einen gegen das Virus in all seinen Varianten, zum anderen gegen so genannte virale Inhalte: Untersuchungen zeigten, dass dem Anstieg des medizinisch messbaren pandemi­schen Geschehens jeweils ein Anstieg der Verbreitung von Infor­mationen aus zweifelhaften Quellen vorausging.

Einziger Lichtblick der Mitte März 2021 im Fachjournal Cell veröffentlichten „Conversations“ war, dass mit zunehmend schlim­mer Lage dann die Vernunft wieder einzusetzen scheint und eher klassische Nachrichtenquellen wieder mehr in den Fokus rücken. Das ist leicht erklärbar, schließlich lässt sich die Pandemie sinnvol­ler Weise nur leugnen, solange niemand aus dem Freundes- und Familienkreis schwer daran erkrankt – auch wenn es Fälle geben soll, in denen Menschen selbst über ihr Ableben auf der Intensiv­station hinaus ihrer Überzeugung treugeblieben sind. Leicht erklä­ren lässt sich auch, warum sich Menschen zweifelhaften Informa­tionsquellen zuwenden: Ängste lassen sich abbauen, indem Insti­tutionen als Sündenböcke verunglimpft werden, gleichzeitig scheint es menschlich, zu denken, dass es andere eher als einen selbst erwischt und am Allereinfachsten kompensieren lässt sich Hilflosigkeit mit dem Glauben an Heilsversprechen.

In der gleichen Ausgabe von Cell gab es übrigens auch „Neue Ansätze für die Impfstoffentwicklung“, einen Beitrag zu „Antiviralen Mitteln mit gemeinsamen Angriffszielen gegen hochpathogene Viren“, etwas zu „Biokraftstoffen für eine nachhaltige Zukunft“ und einen Artikel über „Genom-Engineering für die Verbesserung von Nutzpflanzen und die Landwirtschaft der Zukunft“. Soll noch einer sagen, dass Wissenschaft das Problem und nicht die Lösung ist.

Die Zeiten werden härter

Im Sondierungspapier der uns wahrscheinlich zukünftig Regierenden wurde die eine und andere Klippe elegant umschifft. So soll der Kohleausstieg „idealerweise“ vorgezogen und die „Entwicklung intelligenter Systemlösungen für den Individualverkehr“ lediglich unterstützt werden. Unterstützt werden soll auch die Landwirtschaft, und zwar dabei, „einen nachhaltigen, umwelt- und naturverträglichen Pfad einzuschlagen“. Der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln soll auf das „notwendige Maß“ beschränkt und Pflanzen „so geschützt werden, dass Nebenwirkungen für Umwelt, Gesundheit und Biodiversität vermieden werden“. Tacheles dagegen dann beim generellen Tempolimit – das es nicht geben wird – und bei der Erhöhung des Mindestlohns – die tatsächlich kommen wird. Mit zwölf Euro Stundenlohn scheint die SPD eines ihrer zentralen Wahlkampfthemen durchgesetzt zu haben.

Sollte der Mindestlohn eigentlich erst zum Sommer 2022 auf über zehn Euro steigen, so könnte er unter Umgehung der Mindestlohnkommission nun handstreichartig um ziemlich genau ein Viertel erhöht werden. Auch wenn das vereinbarte Stillschweigen über Details noch nicht gebrochen wurde, so ist klar, dass zuallervorderstunderst Betriebe mit einem hohen Lohnkostenanteil die Düpierten sein werden, ganz vorneweg dabei einmal mehr unsere Gärtnerinnen und Gärtner.

Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass Handel und Verbraucher die daraus resultierenden Preisaufschläge einfach so akzeptieren werden. Es ist genauso unwahrscheinlich, dass ein höherer Mindestlohn bei uns Strahlkraft auf das europäische Mindestlohngefüge haben wird. Sollten an der Peripherie Europas ähnliche Verhältnisse gelten wie bei uns, müssten die Mindestlöhne dort nicht um ein Viertel erhöht, sondern in etwa vervierfacht werden. Und selbst dann wären wir von einer Produktionsvollkostenrechnungswaffengleichheit noch immer weit entfernt; ausgeblendet würde außerdem, dass zwar für viele Menschen die Reise an der EU-Außengrenze zu Ende ist, Warenströme aus aller Welt diese jedoch unbeanstandet passieren dürfen.

Welche Auswirkungen Störungen an diesem fein austarierten System haben können, lässt sich derzeit in Großbritannien beobachten. Auch die Eidgenossen konnten den Strukturwandel in ihrer Landwirtschaft allenfalls verlangsamen, aufhalten lässt er sich auch in der Alpenrepublik nicht. Und so ist es dann nur auf den ersten Blick verwunderlich, wenn, wie zuletzt wieder einmal auf dem Global Berry Congress eine Absatzjubelmeldung die nächste jagt – und gleichzeitig die Produktionsflächen im eigenen Land dies nicht widerspiegeln sondern vielmehr rückläufig sind.

Es ist keine einheimische Ware, die da vermehrt über den Tresen geht. Gleichzeitig wird aber auch nur deshalb so viel abgesetzt, da durch das höhere Warenangebot die Preise entsprechend gefallen sind. Der vielzitierte und –diskutierte Eimer voll mit Blaubeeren zum Schleuderpreis ist in Wahrheit dann auch eher ein Menetekel: Allzu lange wird sich unser produktionstechnischer Vorsprung nicht mehr halten lassen, Him- und Brombeeren werden folgen, wenn sie dies nicht bereits schon getan haben. Und das Dumme ist: die genannten Beerenarten stehen mehr oder weniger als Platzhalter für welches Produkt dann auch.

Du hast keine Chance – aber nutze sie!

Herbert Achternbusch

Und so wurde beim Global Berry Congress munter über den ganzen Erdball gehüpft: werden in Spanien die Arbeitskräfte knapp und geht im Süden Marokkos das Wasser zur Neige – warum dann nicht gleich auf nach Südafrika? Sieht man das Ganze nur global genug, verschwinden auch die Unterschiede zwischen Serbien, Rumänien und der Ukraine. Künstliche Intelligenz hilft bei der Standortwahl: Beerenanbau in Indien für China – kein Problem, das Knowhow ist exportier- sowie skalierbar und Kapital, das auf Verzinsung wartet, gibt es genug.

Niemand kann abschätzen, wie Klimawandel, fragile Lieferketten, steigende Energie- und Rohstoffpreise, die Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen, der weltweit zunehmende Protektionismus, Digitalisierung und E-commerce sowie die allgegenwärtigen logistischen Herausforderungen und der Arbeitskräftemangel die Handelswelt der Zukunft verändern werden. Vielleicht sogar mehr denn je scheint derzeit alles möglich. Und dann ist es zwar so, dass einer der diesjährigen Nobelpreise an drei Nordamerikaner vergeben wurde, die der Wirtschaftswissenschaft die Augen dafür geöffnet haben, dass auch das wahre Leben Möglichkeiten zuhauf bietet, Ursache-Wirkungsbeziehungen zu erkennen.

Dass sie in einer ihrer berühmtesten Arbeiten zeigten, dass die Einführung eines Mindestlohns nicht zwangsläufig zu erhöhter Arbeitslosigkeit führt, bedeutet aber nicht, wie die Laureaten selbst bereitwillig einräumen, dass das überall und jederzeit so sein muss. Anders dann die Faktenlage beim ebenfalls Nobelpreis-dekorierten ehemaligen Direktor des Deutschen Klimarechenzentrums. Klaus Hasselmanns wissenschaftliche Leistung war nichts weniger, als eine Methode zu entwickeln, die bereits zu einer Zeit, als dies wirklich noch niemand hören wollte, unmissverständlich belegte, dass niemand außer wir selbst am Klimawandel schuld sind.

Tim Jacobsen

Wenn einer eine Reise tut …

Mit dem Fahrrad auf dem Weg von Regensburg an die Südspitze des Gardasees müssen nicht nur einige Alpenpässe bezwungen werden, mindestens genauso herausfordernd ist es, die jeweils geltende Coronaregelgebung zu befolgen:

Lautet das Kommando beim ersten Zwischenstopp diesseits der deutsch-österreichischen Grenze sowohl in der Gastronomie als auch im Hotel noch „Halt, erst Maske und Zertifikat oder ich schieße“, wird es hinter dem Achensee dann deutlich entspannter.

Nach mittlerweile mehr als achtzehn Monaten fühlt es sich zwar etwas seltsam an, ohne Maske im Hotel oder auch im Restaurant unterwegs zu sein, die Gewöhnung setzt in Erinnerung an vergangene Zeiten aber verlässlich und schnell wieder ein.

Etwas, was dem leidigen Einmalhandschuhzwang am Frühstücksbuffet etwas weiter nördlich hoffentlich nie vergönnt sein wird. Da zeigt wohl jede und jeder gern das Impfzertifikat.

Südtirol dann mit Maske unter der Nase, keinen Handschuhen  und Zertifikatfreiheit. Einmal über den großen Berg in der Lombardei rutschen die Masken tiefer, Zertifikate interessieren immer noch nicht, dafür wird das Frühstück in staatstragender Strenge zwangsserviert, ein paar Kilometer weiter südlich mahnt dann wiederum nur noch ein Schild an der Wand die Verwendung nicht vorhandener Einweghandschuhe an und Buffet ist wieder Buffet.

Gänzlich entspannt dann das südliche Norditalien: Maske halbhoch und fast schon als lässiges Modeaccessoire, und nicht einmal für den Pool braucht es einen Erlaubnisschein. Mehr Europa der Regionen lässt sich in sechs Tagen nicht erleben.

Tim Jacobsen

Vom Regen in die Traufe: Schreckgespenst Arbeitskräftemangel

Weitaus nachhaltiger als durch nicht beerntete Erdbeerfelder oder ins Laub geschossene Spargeläcker könnte der deutsche Gartenbau in nicht allzu ferner Zukunft durch einen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften Schaden erleiden. Sinkende Ausbildungszahlen im grünen Bereich setzten einen Teufelskreislauf in Gang, in Folge dessen Bildungseinrichtungen für den Gartenbau geschlossen wurden, was wiederum dazu führte, dass jungen Leuten die Wahl gärtnerischer Berufe zusätzlich unattraktiv erschien. In manchen Bereichen übersteigt heute bereits die Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften das Angebot deutlich.

Der fortschreitende Strukturwandel im Gartenbau und die technische Weiterentwicklung tun ihr Übriges dazu, die Nachfrage nach hochqualifiziertem Personal weiter ansteigen zu lassen. Dabei geht es nicht unbedingt nur um Arbeitskräfte mit gärtnerischem Hintergrund. Allerdings steht der Gartenbau mit anderen Wirtschaftsbereichen in Konkurrenz um die klügsten Köpfe und hat dabei nicht immer das beste Blatt auf der Hand. Es tut dringend Not, in der Selbstdarstellung des Gartenbaus die Dynamik des Sektors deutlich voran zu stellen. Nur wenn die Anziehungskraft des Gartenbaus als Arbeitgeber zunimmt, kann die Abwärtsspirale durch Arbeitskräftemangel gestoppt werden.

Weitergehende Mechanisierung wird schwere Arbeiten zwar vereinfachen, der Kampf um Arbeitskräfte wird aber auch im Niedriglohnbereich mit deutlich schärferen Waffen gefochten werden

Tim Jacobsen

Gründe für Flächenausweitung oder Produktionsintensivierung gibt es viele. Die Folgen dieser Entwicklung sind jedoch stets die Gleichen. Arbeitsprozesse werden schwerer durchschaubar, Personalführung und innerbetriebliche Organisation nehmen einen größeren Stellenwert ein. Mitarbeiter spezialisieren sich, Aufgaben werden verteilt. Mit den gestiegenen Ansprüchen wächst auch die Verantwortung jedes Einzelnen. Der Fort- und Weiterbildung von Mitarbeitern sollte deshalb gerade vor dem Hintergrund rückläufiger Ausbildungszahlen mehr Platz eingeräumt werden.

Dies sollte nicht zuletzt auch aus Eigennutz des Unternehmers geschehen. Schließlich wird der formalen Qualifikation der Mitarbeiter im Rahmen von Qualitätszertifizierungsprozessen wie QS, QS-GAP, Eurep Gap oder BRC eine besondere Bedeutung zugemessen. Erstaunlicherweise nehmen deutsche Arbeitnehmer im europaweiten Vergleich Weiterbildungsmaßnahmen nur in äußerst geringem Ausmaß in Anspruch.

Die demographische Entwicklung wiederum trägt bereits heute spürbar dazu bei, dass die Mitarbeiter in den Betrieben im Schnitt älter werden. Mit dem Ausscheiden altgedienter Mitarbeiter aus den Betrieben in Zukunft wird auch ein Großteil des zuvor vorhandenen Wissens verloren gehen. Es ist dringend an der Zeit, Strukturen zu etablieren, die diesen Erfahrungsschatz sichern. Dies kann nur über die frühzeitige Einbindung junger Mitarbeiter in Entscheidungsprozesse funktionieren. Die verstärkte Bindung von Mitarbeitern an die Unternehmen sollte deshalb höchste Priorität besitzen.

Ein wichtiger Teil der unternehmerischen Tätigkeit ist die Personalführung. Konsequenz im Anleiten von Mitarbeitern sorgt dafür, dass jeder seinen Fähigkeiten entsprechend beschäftigt wird. Der Selektion und dem Anwerben von Mitarbeitern wird in Zukunft noch mehr Aufmerksamkeit zukommen. In größeren Betrieben liegt die Leitung bereits heute oftmals in Händen von Managern, die teilweise weit entfernt vom Produktionsprozess stehen. In diesen Betrieben wird der Produktionsfaktor Arbeit weniger als Kostenpunkt gesehen, sondern als strategische Gestaltungsmöglichkeit.

Um in Zukunft als Betrieb konkurrenzfähig zu bleiben und gleichzeitig ein attraktiver Arbeitgeber zu sein, werden neben Rahmenbedingungen wie der Lohnstruktur und Arbeitszeitmodellen auch soziale Aspekte und nicht zuletzt die Arbeitsumstände eine wichtige Rolle spielen. Der Kommunikation zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmerseite wird in Zukunft ebenfalls mehr Platz eingeräumt werden. Der Typ Boss, der alles kann und alles in der Hand hat, ist angesichts vielfältigster Anforderungen heutzutage ein nicht mehr zeitgemäßes Auslaufmodell.

Der Anteil der Lohnkosten an den Produktionskosten ist von Kultur zu Kultur und von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich. Über den ganzen Gartenbau hinweg betragen sie durchschnittlich ein Drittel. Daran wird sich auch in Zukunft voraussichtlich wenig ändern. Weitergehende Mechanisierung wird schwere Arbeiten zwar vereinfachen, der Kampf um Arbeitskräfte wird aber auch im Niedriglohnbereich mit deutlich schärferen Waffen gefochten werden. Patentrezepte dafür gibt es keine. Einmal in Gedanken die Seiten zu wechseln, könnte aber den Unterschied ausmachen.

Tim Jacobsen