"Now, here, you see, it takes all the running you can do, to keep in the same place. If you want to get somewhere else, you must run at least twice as fast as that!"

Schlagwort: Energiepreis

Superlativ am Rhein

Der Name Engelhorn ist in Mannheim allgegenwärtig. Anfang des Jahres 1890 eröffnete Georg Engelhorn sein erstes Ladengeschäft im an den Mannheimer Planken gelegenen Quadrat O 5 – bis heute ist der Familienname in der Region ein Synonym für gehobene Einkaufserlebnisse. Ein anderer Engelhorn war nichts weniger als der Namensgeber für das Mitte des 19. Jahrhunderts höchsten Hochhauses der Bundesrepublik Deutschland. Das Friedrich-Engelhorn-Hochhaus musste 2013 zwar wegen schwerer Bauschäden abgerissen werden, Engelhorns Verdienste, die auch auf das Jahr 1865 zurückgehen, ficht das allerdings in keinster Weise an: vor ziemlich genau 158 Jahren gründete der Goldschmied und spätere Bürgerwehroberbefehlsinhaber in Mannheim die Badische Anilin- & Soda-Fabrik AG (BASF), deren Werksgelände dann allerdings auf der anderen Rheinseite gelegenen pfälzischen Ludwigshafen am Rhein angesiedelt wurde.

Und das kam so: Da infolge der durch die 1848er Revolution ausgelösten Wirtschaftskrise Engelhorns Goldschmiedewerkstatt in Schwierigkeiten geriet, suchte er sich im Sommer desselben Jahres ein anderes Betätigungsfeld. Mit zwei Partnern gründete er ein Gaswerk, das ebenfalls im Jahr 1848 die Produktion aufnahm. Und statt sich über den bei der Herstellung von Leuchtgases unweigerlich entstehenden Steinkohlenteer zu ärgern, synthetisierte er kurzerhand Anilin-Violett und andere Farbstoffe daraus, was 1861 zur  Anilinfarbenfabrik Dyckerhoff, Clemm und Comp führte. Da für die Produktion der Anilinfarben verschiedene Säuren benötigt wurden, erkannte Engelhorn schnell, dass sich die Gewinne erheblich steigern ließen, wenn der gesamte Fertigungsprozess vom Rohstoff zum Endprodukt in einer Hand liegen würde. Nachdem die angestrebte Zusammenarbeit mit dem Verein Chemischer Fabriken scheiterte, entschied sich Engelhorn dazu, die Produktion der Ausgangsstoffe in Eigenregie vorzunehmen.

Zusammen mit acht Teilhabern gründete er im April 1865 die Badische Anilin- & Soda-Fabrik (BASF). Da das bisherige Produktionsgelände zu klein wurde, wollte Engelhorn ein Grundstück am linken Neckarufer, auf der Mannheimer und damit badischen Rheinseite erwerben. Der Stadtrat war einverstanden, doch das letzte Wort hatte ein Bürgerausschuss. 42 Stimmen waren für den Verkauf des Geländes an die BASF, 68 dagegen. Noch am Nachmittag des 12. April 1865 ging Friedrich Engelhorn bei den Bauern auf der Ludwigshafener Rheinseite auf Einkaufstour. Anschließend machte er sich zügig an den Aufbau der Fabrik. Ein Glücksfall, wie sich noch öfters bestätigen würde. Nicht nur gab es linksrheinisch Platz satt, vergleichsweise früh wurde Ludwigshafen auch Schienen-mäßig erschlossen. Heutzutage werden auf dem zehn Quadratkilometer großen Werksgelände um die 39 000 Menschen beschäftigt.

Hintern den sieben Rheinkilometer, über die sich das Produktionsgelände erstreckt, verbergen sich rund 106 km Straße, 230 km Schiene und drei Bahnhöfe. Nicht weniger als 2850 Kilometer oberirdische Rohrleitungen sind auf dem größten zusammenhängenden Chemieareal der Welt verlegt und sorgen für kurze Wege beim Transport von Produkten und Energie. Wie die Rädchen ineinander greifen lässt sich am besten auf der Werkrundfahrt „Nachhaltigkeit in der Chemiestadt BASF“ in Erfahrung bringen. Wer dann noch wissen will, wie die Frische in die Zahnpasta kommt und was Sofas weichmacht, ist im 2000 m2 Visitor Center mit all seinen Wow-Momenten gut aufgehoben. Wer gerne Wein trinkt, sollte einen Stop in der BASF-eigenen Weinkellerei machen. Seit 1901 versorgt die gutsortierte Auswahl edler Tropfen Gesellschafter, Gäste und Mitarbeitende gleichermaßen.

Sechs Buslinien und rund 13000 charakteristisch rote Fahrräder sorgen dafür, dass alle auch an ihre Arbeitsplätze kommen, ausgebremst werden können sie allenfalls von den sog. AGVs. Die 16,5 m langen automated guided vehicles können bis zu 78 t transportieren. Voll automatisch dann auch das TCL, das sog. Tank Container Lager. Im Jahr 2000 ging das KVT, also das Kombiverkehrsterminal in Betrieb, seitdem wurden dort deutlich mehr als 6 Mio. Container umgeschlagen. Wenig bekannt ist, dass Ludwigshafen und die auf der anderen Rheinseite befindliche Produktionsstätte auf der durch die Rheinbegradigung entstandenen Friesenheimer Insel mit einem sich in 13 m Tiefe liegenden, begehbaren und 770 m langen Tunnel miteinander verbunden sind – eine der wenigen Unterquerungen des Rheins.

Im Nordhafen, einem von drei Häfen am Standort Ludwigshafen, kommt ein Großteil der benötigten Rohstoffe an. Eine Druckluftölsperre verhindert im Fall der Fälle den Austritt von Öl aus dem Hafenbecken. Aus Naphtha wird dann in sog. Steamcrackern unter anderem Ethen gewonnen, ein wichtiger Ausgangsstoff. Ohne den Steam Cracker 2, der ungefähr 13 Fußballfelder groß ist, läuft in Ludwigshafen so gut wie nichts. Rund vier Fünftel allen Inputs findet sich in irgendeiner Art von BASF-Produkt wieder, das restliche Fünftel wird thermisch verwertet. Mehrere Kraftwerke sorgen für die Stromversorgung des Verbundwerks, rein rechnerisch verbraucht der Standort Ludwigshafen ein Prozent des deutschen Stroms. Bis 2050 soll das Werk klimaneutral werden, bis dahin wird noch der eine und andere Kubikmeter Gas in Strom und Dampf verwandelt werden.

Nicht weiter verwunderlich ist Energie dann auch ein heikles Thema. Als Reaktion auf die Energiepreiskrise hatte BASF Anfang des Jahres bekannt gegeben,  etwa zehn Prozent seiner Anlagen am Stammsitz in Rheinland-Pfalz stilllegen zu wollen. Etwa 2500 Stellen sollen allein in Ludwigshafen wegfallen. Eine energieintensive Ammoniak-Anlage und damit verbundene Düngemittelanlagen sollen den Saprmaßnahmen zum Opfer fallen, die Nachfrage soll künftig vom belgischen Antwerpen aus bedient werden. Auf der letzten Bilanzpressekonferenz verwies BASF-Chef Martin Brudermüller darauf, dass die gesamte Chemieproduktion in Europa im vergangenen Jahr zurückgegangen sei. Machte das Geschäft in Deutschland im Jahr 2015 noch etwa ein Drittel der Gewinne von BASF aus, sei es im zweiten Halbjahr 2022 infolge der hohen Energiekosten defizitär gewesen.

Bilanztechnisch ins Kontor geschlagen haben auch die milliardenschweren Abschreibungen auf die Beteiligung am Öl- und Gaskonzern Wintershall Dea. Statt 5,5 Mrd. € Euro Gewinn wie im Jahr zuvor 2022 dann ein Verlust von rund 1,4 Mrd. €. Gleichzeitig bekannte sich Brudermüller zum Stammsitz Ludwigshafen: „Wir bleiben dem Standort treu, allem Abwanderungsgerede zum Trotz und auch mit Mut zur Weiterentwicklung.“ BASF sei auf einem sehr guten Weg hin zu einer klimafreundlicheren Produktion, setze beispielsweise mehr und mehr erneuerbare Energien ein. „Doch dafür sind wir in hohem Maße von externen Faktoren abhängig“ und verwies auf den Ausbau erneuerbarer Energien und der Wasserstoffinfrastruktur. Dem Vernehmen nach investiert BASF derzeit allein zehn Milliarden Euro in einen neuen Verbundstandort im Süden Chinas – nach dem Vorbild des Werks in Ludwigshafen – oder wie Brudermüller es nennt: man könne nicht „halbschwanger“ sein.

Tim Jacobsen

Ausnahmezustand wird zum Normalzustand

In den Jahren seit dem Fall der Berliner Mauer war etwas in Vergessenheit geraten, dass fossile Energieträger nicht nur eine fantastische Möglichkeit sind, in Zeiten großer Nachfrage eine Menge Geld zu verdienen, sondern auch ein Furcht-einflößendes-Druckmittel gegenüber denjenigen, die davon gerne etwas abhaben möchten. Nicht unbedingt verwunderlich, spielt dann auch gegenwärtig Nachhaltigkeit nicht mehr die ganz große Rolle in der öffentlichen Diskussion und unser Wirtschaftsminister Robert Habeck muss nicht nur in den arabischen Golfstaaten eine Menge Kröten schlucken.

Selbst wenn der unterkomplexe Ratschlag lautet, nicht die eine Abhängigkeit durch die nächste zu ersetzen, sondern vielmehr die Bezugsquellen möglichst weit zu fächern, spielen neben Fragen aus der Abteilung wie-wollen-wir-leben und mit-wem-wollen-wir-Geschäfte-machen auch technische Aspekte eine große Rolle, wie die ganze LNG-Terminaldiskussion zeigt. Vor Beginn des Krieges kam etwa die Hälfte des nach Europa importierten Erdgases aus Russland, nur ein Zehntel des EU-Verbrauchs wurde innerhalb der EU gefördert. Ein Viertel der Rohölimporte stammte aus Russland, gleichbedeutend mit der Hälfte der russischen Rohölexporte und auch die Hälfte der Kohleeinfuhren stammte aus Russland.

Alternative Lieferländer stehen mit Nordafrika und der Golfregion zumindest der Theorie nach parat. Da wird es dann aber schnell hakelig. Eigentlich sind die Handelsbeziehungen Richtung Nordafrika im Allgemeinen wohl etabliert. Wenn dann aber Algerien, das auf sehr großen Erdgasvorkommen hockt, wegen Streitigkeiten in der Westsahara kein Gas mehr Richtung Marokko schickt, kann über die Maghreb-Europe-Pipeline auch keines mehr nach Spanien kommen. Um das Ganze dann noch etwas komplizierter zu machen, ist Gazprom im traditionell Russland-freundlichen Algerien auch an den dortigen Gasfeldern beteiligt.

Auch Libyen sitzt auf Gasreserven, die in verflüssigter und tiefgekühlter Form als Flüssiggas Europa erreichen. Mehr als zehn Jahre Bürgerkrieg haben jedoch auch in der Gasinfrastruktur Spuren hinterlassen, zumal die ostlibysche Bürgerkriegsfraktion wiederum auf Unterstützung aus Russland zählen kann. Ägypten hat erst kürzlich das vielleicht größte Gasfeld im Mittelmeerraum erschlossen, bis die technischen Voraussetzungen dafür geschaffen sind, die Exportkapazitäten zu erhöhen, wird es allerdings noch dauern, zumal der Energiebedarf im eigenen Land angesichts des Bevölkerungswachstums rasant steigt.

Der Zypernkonflikt erschwert einen Pipelinebau aus dem östlichen Mittelmeerraum Richtung Südeuropa. Die Türkei selbst leitet wiederum zum einen aserbaidschanisches Erdöl nach Griechenland und Italien, ist bezüglich ihrer eigenen Energieversorgung aber stark von Russland abhängig; könnte aber hinsichtlich der Nutzung fossiler Energieträger aus dem (irgendwann vielleicht wieder Sanktions-befreiten) Iran und Irak zukünftig eine gewichtige Rolle einnehmen.

Bleiben die Golfstaaten. Saudi-Arabien, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate könnten mit ihren sog. freien Kapazitäten den Ölpreis maßgeblich beeinflussen, die OPEC hielt jedoch erst an einem mit Russland vereinbarten Ölförderplan fest, um dann auf Druck der USA erst einer Erhöhung der Fördermenge zuzustimmen, um dann Mitte Oktober die Fördermenge erneut zu drosseln. Auch beim Erdgas gibt es ähnlich wie beim Erdöl mit OPEC+ ein Gas Exporting Countries Forum; LNG aus Katar geht vertraglich gebunden vornehmlich nach China und Japan, die  für Deutschland angekündigten Lieferungen haben den Umfang von wenigen Stunden Nord Stream unter Volllast.

Ungelöste regionale Konflikte gibt es auch im Nahen Osten zuhauf. Interessant ist, dass der weltweit größte Erdölexporteur Saudi-Arabien bis 2030 die Hälfte seiner Energie aus erneuerbaren Quellen gewinnen will. Die Vereinigten Arabischen Emirate haben ähnliche Pläne, südlich von Dubai entsteht derzeit auf 77 km2 das größte Solarkraftwerk der Welt. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate haben sich dann auch beide gleichermaßen auf die Fahnen geschrieben, auf den Energiemärkten der Zukunft mit Wasserstoffexporten weiterhin an führender Stelle mitmischen zu wollen.

Geht es um kurzfristigen Ersatz russischen Erdgases, fehlen weitgehend die technischen Voraussetzungen, Gas kostengünstig aus dem Nahen Osten nach Europa schaffen zu können – von all den mehr oder weniger weit reichenden Implikationen, die damit verbunden wären, einmal abgesehen. Zwar standen vor dem Beginn des russischen Invasionskriegs ähnlich wie in der Golfregion auch in Europa die Zeichen auf Energiewende und wenn sich auch diese Dynamik sich seit dem 24. Februar 2022 noch einmal beschleunigt hat, hat der Energieplan der Europäischen Kommission Lücken, die sich nur mit Hilfe der Golfstaaten schließen lassen werden. Langfristig wird es ohne die Golfstaaten nicht gehen können.

Ob und wie weit diese Entwicklungen von Russland bei der Entscheidung zur Invasion der Ukraine bereits mit-eingeplant waren, wird sich wahrscheinlich nie zur Gänze klären lassen. Analysten beobachten allerdings schon seit längerem einen Ausbau russischer Energiebeziehungen Richtung pazifischer Raum. Ob das Kalkül aufgeht, muss die Zukunft zeigen – Fakt ist: China importiert unbeirrt von den westlichen Sanktionen munter weiter Öl, Kohle und Gas aus Russland (wobei wir Deutschen die letzten sind, die deswegen ein Fass aufmachen sollten). Die lange gemeinsame Grenze verbindet, dennoch stammt der Großteil der chinesischen Energieimporte nicht aus Russland, auch wenn die beiden Länder neben der Power of Siberia auch eine Ölpipeline durch Kasachstan sowie die Ostsibirien-Pazifik-Pipeline verbindet.

Auch Japan, Südkorea und Vietnam sind dankbare Abnehmer russischen Flüssiggases. Malaysia, Indonesien und Australien sind die einzigen Nettoenergieexporteure im asiatisch-pazifischen Raum. Malaysia ist nicht nur der fünftgrößte Flüssiggasproduzent der Welt, das Land liegt an der Straße von Malakka zudem geostrategisch äußerst günstig. Indonesien ist der weltweit größte Kohleexporteur, ein Großteil der gegenwärtig erzielten Mehrerlöse wird dazu verwendet, den Energieverbrauch im eigenen Land zu subventionieren. Indien leidet stark unter den Energiepreissteigerungen, die gewissermaßen ungefiltert an die Bevölkerung weitergegeben werden. Russisches Öl zu Sonderkonditionen wird als einer der Auswege gesehen, den Energiehunger des aufstrebenden Subkontinents zu stillen.

Eines der europäischen Armenhäuser, Rumänien, könnte aus der Energiekrise als einer der Sieger hervorgehen: Im Schwarzen Meer werden eine Reihe nicht erschlossener Ressourcen vermutet und auch das Potenzial für Strom aus regenerativen Quellen ist noch lange nicht ausgereizt. Schon jetzt ist Rumänien zweitgrößter Gasproduzent in der EU. Ob und wie Deutschland seine eigenen Reserven nutzen und statt in den USA gefracktes Gas gewissermaßen ein Produkt aus dem Regionalfenster einspeisen wird, hängt vermutlich vom Verlauf des Winters, den Preisentwicklungen auf den Weltmärkten und dem Füllstand der Gasspeicher spätestens im Herbst 2023 ab.

Gehen erst einmal flächendeckend die Lichter aus, wird auch niemand mehr Details der Laufzeitverlängerung diskutieren wollen – auch wenn zumindest dieses Szenario den Experten zufolge derzeit eher unwahrscheinlich erscheint. Keinesfalls vergessen werden darf aber auch: Russland ist für viele Länder nicht nur aus fossilenergetischen Gründen ein interessanter Partner, sondern auch als Lieferant nicht fossiler Rohstoffe.

Tim Jacobsen

Eine Krise kommt selten allein

Luxusprodukte sind eine Welt für sich: Wer sich schon einmal auf die Suche nach einem möglicherweise Generationen überspannenden Erbstück gemacht hat, wird im Uhrenladen erst einmal belehrt worden sein, dass diese Dinger zum Gegenwert eines Mittelklassewagens eben keine Mitnahmeartikel sind, sondern die Möglichkeit zum Erwerb eines solchen Schmuckstücks überhaupt erst nach dem Absitzen einer Warteliste in Reichweite kommt.

Außer vielleicht, Sie sind Erling Haaland und versüßen ihren ehemaligen Arbeitskollegen den eigenen Weggang mit einer in tickende Armbänder umgesetzten halben Million. Als Beschenkter haben Sie dann allerdings das kleine Problem, dass Ihr Name eingraviert ist, was den Wiederverkaufswert unter Umständen schmälert – während Sie als Otto Normalverbraucher mit dem Verlassen des Uhrenladens ein sehr gutes Geschäft gemacht haben, schließlich liegt der Straßenpreis schnell beim Doppelten dessen, was auf der Preisliste ausgewiesen ist.

War Mangel über viele Jahre im wahrsten Sinne des Wortes eher ein Luxusproblem, hat uns der 24. Februar vor Augen geführt, dass wir uns wohl in unserer Wohlfahrtsblase ein bisschen zu wohl gefühlt haben. Die deutsche Wirtschaft ist keinesfalls so krisenfest, wie uns suggeriert wurde – und das nicht nur bei der Versorgung mit fossilen Brennstoffen.

Praktisch war es ja: wir haben eingekauft, was wir brauchten, und der billigste Anbieter bekam den Zuschlag. Dass damit allerdings erhebliche Risiken einhergingen, wurde geflissentlich ausgeblendet. Corona bescherte uns, ohne, dass wir es so richtig gemerkt hätten, dann einen Vorgeschmack auf das, was das leichtfertige Vertrauen auf der-Markt-wird-es-schon-richten auch bedeuten kann. Auf einmal gingen in einem der reichsten Länder der Welt Medizinprodukte zur Neige.

Die Invasion der Ukraine öffnete dann in gewisser Weise die Büchse der Pandora und offenbarte die Systemrisiken vieler Lieferketten. Das immer wieder geforderte Diversifizieren ist dabei nicht in jedem Fall zielführend: Deutschland bezog bis vor kurzem gut ein Fünftel seines Rohaluminiums aus Russland, ein etwas kleineres Fünftel trugen die Niederländer bei. Nur bekamen die wiederum ihr Aluminum, Sie ahnen es bereits, aus Russland.

Japan hat, was seine Rohstoffarmut angeht, ähnlich wenig zu bieten wie wir – stellt sich aber irgendwie schlauer an. Hinter dem etwas sperrigen Wirtschaftssicherheitsgesetz verbirgt sich die Erkenntnis, dass sich wirtschaftliche Stärke und nationale Sicherheit in Zukunft noch mehr als heutzutage bereits gegenseitig bedingen.

Schnell ist man dann bei den Technologien, ohne die es keine Energiewende geben wird – und die es dann gewissermaßen beide ohne Bor, Graphit, Kobalt, Lithium, Magnesium, Niob, Silicium, Titan oder andere seltene Erden und Metalle nicht geben wird. Nur ist die Anzahl der Anbieter dieser so genannten kritischen Rohstoffe eher überschaubar und nicht alle der Herkunftsländer entsprechen unserem Verständnis von Menschenrechten.

Würde China den Rohstoff-Hahn in Folge eines was-auch-immers zudrehen, brächte dies aktuellen Schätzungen zufolge Halb-Industriedeutschland zum Erliegen. Knapp neun Zehntel des weltweit gehandelten Magnesiums stammen von dort, ohne Magnesium keine Autos, Flugzeuge und Elektronikartikel.

Bei Penicillin hat China gemeinsam mit Indien einen ähnlich großen Marktanteil, bei Arzneiwirkstoffen insgesamt liegt er marginal niedriger. Neon wurde knapp, als die Stahlwerke in Mariupol und Odessa nicht mehr produzieren konnten. Zwar werden unter der Sächsischen Schweiz bedeutende Vorkommen an seltenen Erden und Metallen, bis damit China die Stirn geboten werden kann, wird aber noch viel Wasser die Elbe hinabfließen.

Es bleibt sportlich.

Tim Jacobsen

Die weiteren Aussichten: teurer und teurer

Herauszufinden, ob jemand gerade noch unter 50 Jahre alt ist oder darüber, ist relativ einfach, guckt man sich Fotoalben aus der jeweiligen Kindheit an. Diejenigen von uns, die noch relativ weit vorne Aufnahmen von sich auf Auto-leeren Autobahnen haben, kamen mit Sicherheit vor dem 16. Dezember 1973 auf die Welt. Es waren streng genommen nur drei Sonntage, die in der Rückbetrachtung den Mythos der autofreien Sonntage schufen. Der Jom Kippurkrieg war Geschichte, auf den Ölmärkten entspannte sich die Lage, angesichts der nahenden Feiertage hieß es schnell wieder Auto-Bahn frei. Auch wenn die Ölpreise seitdem streng genommen weitgehend unbemerkt kontinuierlich stiegen und dieser sich wie ein Naturgesetz anfühlende Preisanstieg niemanden ernsthaft vom Autofahren abgehalten hätte – mitunter eines der Probleme, das gewissermaßen Öl ins Feuer der gegenwärtigen Energiekrise gießt.

Denn so viel ist klar: nur Preisdruck sorgt dafür, dass mittel- und langfristig in sparsame Technologien investiert wird. Und wenn nun derzeit die Erwartung vorherrscht, dass die Gaspreise womöglich bald wieder sinken, verhindert das Technologiesprünge – auch wenn sich die Experten streng genommen nur darüber streiten, wie hoch der Faktor ist, um den Energie teurer wird und ob nun Erdgas oder Elektrizität die größten Sprünge machen wird. Der Tankrabatt setzte in dem Zusammenhang wahrscheinlich auch das falsche Zeichen, suggerierte er doch, dass nach den drei Monaten alles wieder beim Alten sein sollte. Streng genommen setzen auch die Verzichtsappelle den falschen Akzent, besonders in Kombination mit den üblichen Abrechnungsmodalitäten beim Erdgasbezug. Wird beim Tanken jedes Mal aufs Neue die Preisentwicklung offensichtlich, kommt beim Erdgas die Erkenntnis erst mit der Erhöhung des Abschlages.

Der autofreie Sonntag und die Sparappelle, die Deutschlands Reaktion auf die Drosselung der Energieexporte aus arabischen Ländern war, die wiederum die Reaktion auf die gar nicht so heimlichen Waffenlieferungen des Westens an Israel war, welches kurz zuvor von Ägypten und Syrien überfallen worden war, senkten den Benzinverbrauch zwar kurzfristig, aber leider auch nur für äußerst kurze Zeit, um rund ein Zehntel. Ein bisschen kommt dann „ewig grüßt das Murmeltier“ Stimmung auf: Auch 1973 stand Deutschland im Verdacht, unter Rücksicht auf eigene Wirtschaftsinteresse die gemeinsame Linie des Westens eher kurvenförmig zu interpretieren. Auch 1973 war eines der Hauptprobleme, dass der Nachfrage in Deutschland ein wenig diversifiziertes Angebot gegenüberstand.

Eine spannende Frage, die in der gegenwärtigen Embargodiskussion nur selten diskutiert wird, ist, ob wir denn nicht auch beim Nichtbezug des Erdgases aufgrund von so genannten Take-or-Pay-Regeln trotzdem weiterbezahlen müssten. Käme es zum Importverbot unsererseits, wäre entscheidend, ob die Force-Majeure-Klausel in den Lieferverträgen auch hoheitliche Maßnahmen umfasst. Falls nicht, würde bei Vertragslaufzeiten bis teilweise zum Jahr 2036 noch viel Geld über den Dnepr Richtung Russland fließen. Eine weitere spannende Frage ist, wo im Fall der Fälle als erstes der Hahn zugedreht wird. Glashersteller berichten, dass sie ihren Gasbedarf allenfalls um die Hälfte senken können, wollen sie eine Zerstörung ihrer Schmelzwannen verhindern. Und was passiert, wenn BASF in Ludwigshafen keine Ausgangsstoffe mehr produziert, Thyssenkrupp keinen Stahl mehr liefert?

Es muss aber auch nicht immer an den offensichtlichen Dingen scheitern: was, wenn aufgrund von Energieengpässen kein Papier und Verpackungsmaterial mehr produziert werden kann, wenn sich zwar grundsätzlich die Fließbänder weiterdrehen, aber schlicht und einfach die Windschutzscheiben fehlen? Auch die Meinungen darüber, wie und ob überhaupt irgendetwas abgeschaltet werden kann, gehen auseinander. Wenn der Weiterbezug nicht über die Verteilstationen abgeschaltet werden kann, wer wird die Schieber auf den Betriebsgeländen bedienen? Und wer möchte der Schuldige daran sein, dass es Zeit, Kosten und Mühen bedeutet, nach einem Druckabfall im Gasnetz das System wieder ans Laufen zu bringen?

Ebenfalls ungeklärt, wenn auch angesichts der Bilder und Berichte aus der Ukraine etwas zynisch, ist die Frage, was wir im Embargofall als Gegenleistung für eine mittelschwere Rezession bekämen: die unsichere Aussicht auf eine erhoffte Schwächung Russlands? Und so ist es kein Wunder, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften an diesem Punkt an einem Strang ziehen und betonen, dass die Embargofolgen in Deutschland stärker spürbar wären als in Russland – und da ist von all den anderen denkbaren Veränderungen in unserem Zusammenleben noch nicht einmal die Rede. Und schon geht es nicht mehr nur um Frieren für den Frieden, sondern ziemlich genau ums Eingemachte. Und dann ist da schon etwas dran, dass wir die ganze Fußball-WM-Empörung vergessen sollten, um dann den einen Despoten gegen den nächsten auszutauschen, um nur ja nicht im Winter kalt duschen zu müssen, schließlich ist die Vergrößerung des Lieferantenspektrums das Gebot der Stunde.

An der Stelle wird es nun wieder ein bisschen tricky: Spanien zum Beispiel hat frühzeitig auf LNG aus Nordafrika gesetzt, ist nur leider Pipeline-technisch schlecht angebunden an das resteuropäische Netz. Weshalb das auch weiterhin gut versorgte Spanien nicht einsieht, warum es sich den Sparplänen aus Brüssel beugen sollte. Und die Spanier sind mit dieser Idee beileibe nicht die einzigen. Ganz einsichtig ist es ja auch nicht, warum wir Frackinggas importieren wollen, unsere eigenen Vorkommen aber auf gut kolonialistisch lieber Vorkommen sein lassen. Zwar hatten unsere Bierbrauer Angst um die Güte ihres Wassers, werden aber letztendlich nicht den Ausschlag gegeben haben. Die Diskussion um die Förderplattform zwischen Borkum und Schiermonnikoog spricht Bände. Stattdessen werden nun von Eemshaven bis Brunsbüttel vier LNG-Terminals geplant. Geplant war schon einmal eines. Und das kam so:

Vor etwa 200 Jahren wurden die ersten Lampen mit Gas betrieben, in Berlin beleuchten immer noch mehr als 20000 Gaslampen das Straßenbild. Das so genannte Stadtgas fiel als Abfallprodukt in den Kokereien ab. Erst mit der Krise der Steinkohle in den fünfziger Jahren und der Entdeckung des Groninger Gasfeldes sowie weiterer Vorkommen im Nordwesten Deutschlands wurde Erdgas als Energieträger zunehmend beliebter. Aus dieser Zeit stammt auch die Bindung des Gaspreises an den Ölpreis: die Wahl des Energieträgers sollte nicht über die Profitabilität entscheiden. Der Streit darüber, wie hoch der Gaspreis während der zweiten Ölkrise denn tatsächlich sein muss, führte zu einer Abwendung von den Niederlanden und einer Hinwendung zu Norwegen und in noch viel größerem Maße der Sowjetunion. Mit dem Kreml hatte Deutschland schon Ende der fünfziger Jahre ein aus westlicher Bündnissicht delikates Geschäft eingefädelt und lieferte Stahlrohre  zur Erschließung westsibirischer Gasvorkommen.

Der Erdgas-Röhren-Vertrag sah Ende der sechziger Jahre dann weitere Stahlrohrlieferungen vor, im Gegenzug floss 1973 erstmals russisches Erdgas in das deutsche Pipelinenetz. Auch Privathaushalte sahen die Vorteile des Energieträgers Erdgas, was wiederum eine Speicherung des Erdgases im verbrauchsarmen Sommer für den verbrauchsstarken Winter nahelegte: Salzkavernen und ehemalige Lagerstätten waren die offensichtlichen Kandidaten für die Einlagerung preislich vorteilhaften Gases während der Sommermonate. Zunehmend erschöpfte Vorkommen in Deutschland und den Niederlanden führten nicht unwesentlich zu einer immer stärkeren Abhängigkeit von Russland. Und an diesem Punkt kommt wieder der Chemiekonzern aus Ludwigshafen ins Spiel. Da die Norweger keine Lust hatten, es sich mit der marktbeherrschenden Ruhrgas zu verderben, machte BASF im Herbst 1990 mit einem zwischen Wintershall und Gazprom unterzeichneten Abkommen den Seitenwechsel offensichtlich. Mitte der Neunziger Jahre erhielt Gazprom über die Beteiligung an Wingas erstmals auch die Kontrolle über Vertriebsstrukturen in Deutschland.

„Selber schuld. Nur was hilft´s?“

Tim Jacobsen

Es ist müßig, nachzuvollziehen, wer in den Folgejahren alles eine Diversifizierung der Bezugsquellen anmahnte und auch höhere Speichermengen forderte, Fakt ist, dass auch die Monopolkommission von Gerhard Schröder ignoriert wurde. Das Gazprom, Ruhrgas und Wintershall-Gemeinschaftsprojekt Nordstream 1 folgte, damit wurden Polen und die Ukraine umgangen. Schröders  Tätigkeit für die Pipelinegesellschaft war der Auftakt zu einer Reihe weiterer Posten bei staatlichen russischen Energiekonzernen. 2011 wurde Nordstream 1 in Betrieb genommen, zeitgleich begann Nordstream 2 Form anzunehmen, auch wenn der außenpolitische Ton Moskaus immer rauer und schärfer wurde. 2014 – und damit kurz nach der Annexion der Krim durch Russland – stimmte das Bundeswirtschaftsministerium dem Verkauf deutscher Gasspeicher an einen russischen Oligarchen zu. Ein Jahr später gab es ministeriellerseits keine Einwände, als die beiden großen deutschen Gasspeicher im Tauschgeschäft gegen Aktienanteile ebenfalls in russischen Besitz gerieten. Im Jahr 2021 waren die Speicher dann erstmals nicht in gewohnter Weise gefüllt und Nordstream 2 fertig.

Ruhrgas, das größte Unternehmen der deutschen Gaswirtschaft hatte von 1979 bis 2009 eine Lizenz zur Errichtung eines Gasterminals für den Import von LNG in Brunsbüttel, nutzte diese aber nicht und setzte dagegen vor allem nach der Übernahme durch E.ON auf Russland. Die Umstände, die den Zusammenschluss von E.ON und Ruhrgas vor ziemlich genau zwanzig Jahren begleiteten, lesen sich auch heute noch wie ein Wirtschaftskrimi und waren wohl Ausdruck eines Verständnisses von Wettbewerbspolitik als einer Gleichschaltung von Unternehmens- und Staatsinteressen. Letztendlich wurde damit aber unsere energiepolitische Abhängigkeit von Russland zementiert. 2015 wurde die ehemalige E.ON Ruhrgas nach Umwandlungs- und Abspaltungsmaßnahmen auf Uniper umfirmiert. Aufgrund der Diskrepanz zwischen Ein- und Verkaufspreisen kam Uniper nach dem 24. Februar 2022 in äußerst unruhige Fahrwasser, war aufgrund der großen Marktbedeutung allerdings systemrelevant und wurde unlängst mit einem Milliardenhilfspaket gerettet.

Tim Jacobsen

Die Welt dreht sich weiter

Nachdem im Frühjahr erst die Gasspeicherfüllstandsanzeige den Inzidenzwert als Gradmesser für das Wohlbefinden unserer Gesellschaft abgelöst hatte, rückte das Infektionsgeschehen zuletzt wieder stärker in den Fokus, um dann letztendlich mit der staatlich verordneten Aufgabe einer planmäßigen Erhebung des Pandemiegeschehens im Aufmerksamkeitsgeheische wieder in die zweite Reihe verbannt zu werden. Der ungewohnte Anblick von Militärgerät auf deutschen Autobahnen und die vielen Kennzeichen, bei denen die blaugelben Fahnen keinen Sympathieausdruck sondern Nationalzugehörigkeit bedeuten, machten aber auch Menschen, die sonst in der Zeitung mit den großen Buchstaben allenfalls die Badenixen zur Kenntnis nehmen, unmissverständlich klar, dass derzeit streng genommen kein Stein auf dem Stein bleibt, in der Ukraine wortwörtlich und bei uns im übertragenen Sinne.

Gut, dass es Veranstaltungen wie die des FAZ-Kongresses gibt, die bei der Einordnung des Weltgeschehens im Kleinen wie im Großen helfen: Da ging es dann um Fragen wie die, ob städtische Bühnen noch zeitgemäß sind – was eifrig bejaht wurde – und die, ob es für den automobilisierten Individualverkehr eine Zukunft gibt – was mit Hilfe eines evolutions-ähnlichen Erklärungskonstruktes ebenfalls Zustimmung fand. Die Diskussion, wem der Platz im öffentlichen Raum eigentlich gehört, war dann nicht weit weg, was fast zwangsläufig die Überlegung nahelegte: Muss der eigentlich so aussehen? Schnell wurde klar, dass Bürgerbeteiligung kein Garant für städtebauliche Ästhetik sein kann und auch sonst eher mit Vorsicht genossen werden sollte.

Demografischem Wandel und Fachkräftemangel könnte mit Hilfe besserer beruflicher Orientierung begegnet werden und auch an dieser Stelle wurde deutlich, dass das eine zu tun immer auch dazu führt, das andere lassen zu müssen. Zufällig kehrte auch noch just am Tag des Kongresses der Mann aus dem Weltall zurück, der über Monate hinweg wohl Deutschlands exklusivsten Arbeitsplatz innehatte. Matthias Maurer hat die in letzter Zeit spürbare Weltraumeuphorie zwar nicht begründet, diente aber als Zielscheibe derer, die gerne das Weltraumforschungsgeld zur Lösung irdischer Probleme investiert sehen würden. Einmal mehr wurden Bedenken damit entkräftet, dass in der Diskussion von Details schnell der Blick aufs das bedeutsamere Große und Ganze verloren gehe.

Zu Beginn des Kongresses zugeschaltet war EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, nach Maurer vielleicht die Nummer zwei der exklusivsten Arbeitsplätze, die Deutschland zu vergeben hat. Bleibt zu hoffen, dass der markige Spruch von den Autokraten dieser Welt, die wissen müssten, dass die Demokratien ihre Werte verteidigen, nicht mit der Zeit an Eindeutigkeit verliert. Bundesbankpräsident Joachim Nagel versprach, dass wir mittelfristig bei zwei Prozent Inflation herauskommen könnten und verwies darauf, dass es in der Geschichte noch nie Phasen gegeben hätte, die für die Geldpolitik einfach gewesen wären. Anders als die Währungsunionsbegeisterung Nagels dann der Tipp zur Geldpolitik im familiären Bereich von Kolumnist Volker Looman: Ein gemeinsames Konto für gemeinsame Aufgaben und darüber hinaus jede und jeder für sich selbst.

Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, betonte, dass unser politisches und rechtliches System während der Pandemie zu keinem Zeitpunkt in Gefahr war. Der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, mahnte bereits im Mai, dass die Zahlen im Winter wieder deutlich ansteigen werden. Die gute Nachricht dabei war, dass viele Menschen vollständig geimpft sind, die schlechte, dass noch zahlreiche Menschen an der Pandemie sterben werden – und neben den Ungeimpften hauptsächlich Menschen mit einem schlappen Immunsystem die Leidtragenden sein werden. Auch das Gutachten des Corona-Sachverständigenrats zur Coronapolitik der vergangenen Jahre ziemlich genau acht Wochen später wird daran wenig ändern.

Tim Jacobsen

Der große Wurf blieb aus – aber lieber einen kleinen als gar keinen

Es ist zum Mäusemelken: wurde mit Corona mehr als offensichtlich, dass das Konzept Innenstädte irgendwie dringend sanierungsbedürftig ist, gab es gewissermaßen als Antwort auf nicht gestellte Fragen ein Finanzpaket zur Betonierung des Fußgängerzonensta­tusquos. Beweisen Starkregenereignisse mit ihren verheerenden Folgen, dass irgendwie irgendetwas getan werden muss, um die Folgen des Klimawandels vielleicht doch noch etwas angenehmer zu gestalten, scheint die einzig politisch zündende Idee, mit Hilfe von Elektroautos den Verkehrsinfarkt in die Zukunft retten zu wol­len. Will sich die CDU personell erneuern, melden sich ausschließ­lich Kandidaten, die selbst in ihrer Jugend höchstwahrscheinlich nicht unbedingt einen Flair von Erneuerung und Aufbruch verbrei­tet haben. Moppert dann die CSU, dass Bayern nicht äquivalent zu seinem Stimmanteil in der Regierung vertreten ist, geht einem auf einmal Andreas Scheuer nicht mehr aus dem Kopf.

So wirkt dann das „Mehr Fortschritt wagen“ der Ampelkoalition zumindest ein kleines bisschen wie ein Befreiungsschlag. Wahr­scheinlich stand bei so manchem Journalistenkollegen auf dem Weihnachtswunschzettel, zumindest einmal im Leben eine Frage von Olaf Scholz mit einem knappen Ja oder Nein beantwortet zu bekommen; im ganzen Nebelkerzendickicht ist aber die insge­samt geräuschlose Regierungsbildung eine Leistung, die auf einen eher problemlösungsorientierten Ansatz unseres neuen Kanzlers verweist. Dass dann im ganzen Hin und Her keiner der als Schreckgespenster an die Wand gemalten Kandidaten das Rennen um das Bundeslandwirtschaftsministerium machte, sondern ausgerechnet der sich selbst mit „anatolischer Schwa­be“ charakterisierende Cem Özdemir, ging in Zeiten, in denen ungestraft mit Fackeln an Wohnhäusern von Politikern aufmar­schiert wird, dann schon fast unter.

Bei bisher jeder Erhöhung des Mindestlohns wurde nicht mehr oder weniger als der Untergang des Abendlandes befürchtet – ganz so schlimm ist es dann Gottseidank bei allen sechs bisherigen Erhöhungsrunden nicht gekommen. Natürlich ist der Sprung von 9,82 € auf 12 statt der geplanten 10,45 € im zweiten Halbjahr 2022 eine Hausnummer. Und auch wenn diesbezüglich noch nichts beschlossen ist, wird sich die SPD die Butter nicht mehr vom Brot nehmen lassen.

Ganz ausverhandelt ist auch von der Leyens Green Deal nicht. Und da wird es streng genommen dann um einiges fitzeliger, schließlich steht mit Farm to Fork mittel- und langfristig deutlich mehr als „nur“ ein abermals erhöhter Lohnkostenanteil, so schmerzlich im Einzel- und ärgerlich in jedem Fall der auch sein mag, ins Haus. Der Green Deal könnte ans Eingemachte gehen.

Und da könnten sich angesichts amtlich verordneter Flächenstilllegungen und dem Aus vieler Pflanzenschutzmittel hierzulan­de sowie sich häufender Wetterkapriolen allerorten, der Importpolitik Chinas, der Biotreibstoffstrategie Nordamerikas und den Exportrestriktionen Russlands ganz neue Allianzen zwischen Verbraucher und Landwirten bilden: steigt die Inflation infolge gestiegener Lebensmittelpreise in heute kaum vorstellbare Grö­ßenordnungen, wird sich schnell die Frage stellen, wie viel Umweltschutz wir als Gesellschaft wollen und wie viel Umweltschutz wir auch dem nicht so wohlhabendem Rest der Welt gegenüber ethisch und moralisch verantworten können.

Wir machen aus technologischem auch gesellschaftlichen Fortschritt … wo Fortschritt entsteht, muss er auch gelebt werden


Aus den Seiten 15 und 22 des Koalitionsvertrags des Bündnisses für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit

Und spätestens dann wäre der Realo vom Bündnis 90/die Grünen als ausgewiesener Brückenbauer in seinem Element und könnte vielleicht sogar die in sein Boot holen, denen es nicht staatsmännisch genug erscheint, als Minister mit dem Fahrrad die Ernennungsurkunde beim Bundespräsidenten im Schloss Bellevue abzuholen um den Stau der Panzerlimousinen zu umfahren. In die Höhle des Löwen gesprungen ist auch Prof. Dr. Karl Wilhelm Lauterbach. Und kämpft seitdem mindestens an zwei Fronten: zum einen gegen das Virus in all seinen Varianten, zum anderen gegen so genannte virale Inhalte: Untersuchungen zeigten, dass dem Anstieg des medizinisch messbaren pandemi­schen Geschehens jeweils ein Anstieg der Verbreitung von Infor­mationen aus zweifelhaften Quellen vorausging.

Einziger Lichtblick der Mitte März 2021 im Fachjournal Cell veröffentlichten „Conversations“ war, dass mit zunehmend schlim­mer Lage dann die Vernunft wieder einzusetzen scheint und eher klassische Nachrichtenquellen wieder mehr in den Fokus rücken. Das ist leicht erklärbar, schließlich lässt sich die Pandemie sinnvol­ler Weise nur leugnen, solange niemand aus dem Freundes- und Familienkreis schwer daran erkrankt – auch wenn es Fälle geben soll, in denen Menschen selbst über ihr Ableben auf der Intensiv­station hinaus ihrer Überzeugung treugeblieben sind. Leicht erklä­ren lässt sich auch, warum sich Menschen zweifelhaften Informa­tionsquellen zuwenden: Ängste lassen sich abbauen, indem Insti­tutionen als Sündenböcke verunglimpft werden, gleichzeitig scheint es menschlich, zu denken, dass es andere eher als einen selbst erwischt und am Allereinfachsten kompensieren lässt sich Hilflosigkeit mit dem Glauben an Heilsversprechen.

In der gleichen Ausgabe von Cell gab es übrigens auch „Neue Ansätze für die Impfstoffentwicklung“, einen Beitrag zu „Antiviralen Mitteln mit gemeinsamen Angriffszielen gegen hochpathogene Viren“, etwas zu „Biokraftstoffen für eine nachhaltige Zukunft“ und einen Artikel über „Genom-Engineering für die Verbesserung von Nutzpflanzen und die Landwirtschaft der Zukunft“. Soll noch einer sagen, dass Wissenschaft das Problem und nicht die Lösung ist.

Die Zeiten werden härter

Im Sondierungspapier der uns wahrscheinlich zukünftig Regierenden wurde die eine und andere Klippe elegant umschifft. So soll der Kohleausstieg „idealerweise“ vorgezogen und die „Entwicklung intelligenter Systemlösungen für den Individualverkehr“ lediglich unterstützt werden. Unterstützt werden soll auch die Landwirtschaft, und zwar dabei, „einen nachhaltigen, umwelt- und naturverträglichen Pfad einzuschlagen“. Der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln soll auf das „notwendige Maß“ beschränkt und Pflanzen „so geschützt werden, dass Nebenwirkungen für Umwelt, Gesundheit und Biodiversität vermieden werden“. Tacheles dagegen dann beim generellen Tempolimit – das es nicht geben wird – und bei der Erhöhung des Mindestlohns – die tatsächlich kommen wird. Mit zwölf Euro Stundenlohn scheint die SPD eines ihrer zentralen Wahlkampfthemen durchgesetzt zu haben.

Sollte der Mindestlohn eigentlich erst zum Sommer 2022 auf über zehn Euro steigen, so könnte er unter Umgehung der Mindestlohnkommission nun handstreichartig um ziemlich genau ein Viertel erhöht werden. Auch wenn das vereinbarte Stillschweigen über Details noch nicht gebrochen wurde, so ist klar, dass zuallervorderstunderst Betriebe mit einem hohen Lohnkostenanteil die Düpierten sein werden, ganz vorneweg dabei einmal mehr unsere Gärtnerinnen und Gärtner.

Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass Handel und Verbraucher die daraus resultierenden Preisaufschläge einfach so akzeptieren werden. Es ist genauso unwahrscheinlich, dass ein höherer Mindestlohn bei uns Strahlkraft auf das europäische Mindestlohngefüge haben wird. Sollten an der Peripherie Europas ähnliche Verhältnisse gelten wie bei uns, müssten die Mindestlöhne dort nicht um ein Viertel erhöht, sondern in etwa vervierfacht werden. Und selbst dann wären wir von einer Produktionsvollkostenrechnungswaffengleichheit noch immer weit entfernt; ausgeblendet würde außerdem, dass zwar für viele Menschen die Reise an der EU-Außengrenze zu Ende ist, Warenströme aus aller Welt diese jedoch unbeanstandet passieren dürfen.

Welche Auswirkungen Störungen an diesem fein austarierten System haben können, lässt sich derzeit in Großbritannien beobachten. Auch die Eidgenossen konnten den Strukturwandel in ihrer Landwirtschaft allenfalls verlangsamen, aufhalten lässt er sich auch in der Alpenrepublik nicht. Und so ist es dann nur auf den ersten Blick verwunderlich, wenn, wie zuletzt wieder einmal auf dem Global Berry Congress eine Absatzjubelmeldung die nächste jagt – und gleichzeitig die Produktionsflächen im eigenen Land dies nicht widerspiegeln sondern vielmehr rückläufig sind.

Es ist keine einheimische Ware, die da vermehrt über den Tresen geht. Gleichzeitig wird aber auch nur deshalb so viel abgesetzt, da durch das höhere Warenangebot die Preise entsprechend gefallen sind. Der vielzitierte und –diskutierte Eimer voll mit Blaubeeren zum Schleuderpreis ist in Wahrheit dann auch eher ein Menetekel: Allzu lange wird sich unser produktionstechnischer Vorsprung nicht mehr halten lassen, Him- und Brombeeren werden folgen, wenn sie dies nicht bereits schon getan haben. Und das Dumme ist: die genannten Beerenarten stehen mehr oder weniger als Platzhalter für welches Produkt dann auch.

Du hast keine Chance – aber nutze sie!

Herbert Achternbusch

Und so wurde beim Global Berry Congress munter über den ganzen Erdball gehüpft: werden in Spanien die Arbeitskräfte knapp und geht im Süden Marokkos das Wasser zur Neige – warum dann nicht gleich auf nach Südafrika? Sieht man das Ganze nur global genug, verschwinden auch die Unterschiede zwischen Serbien, Rumänien und der Ukraine. Künstliche Intelligenz hilft bei der Standortwahl: Beerenanbau in Indien für China – kein Problem, das Knowhow ist exportier- sowie skalierbar und Kapital, das auf Verzinsung wartet, gibt es genug.

Niemand kann abschätzen, wie Klimawandel, fragile Lieferketten, steigende Energie- und Rohstoffpreise, die Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen, der weltweit zunehmende Protektionismus, Digitalisierung und E-commerce sowie die allgegenwärtigen logistischen Herausforderungen und der Arbeitskräftemangel die Handelswelt der Zukunft verändern werden. Vielleicht sogar mehr denn je scheint derzeit alles möglich. Und dann ist es zwar so, dass einer der diesjährigen Nobelpreise an drei Nordamerikaner vergeben wurde, die der Wirtschaftswissenschaft die Augen dafür geöffnet haben, dass auch das wahre Leben Möglichkeiten zuhauf bietet, Ursache-Wirkungsbeziehungen zu erkennen.

Dass sie in einer ihrer berühmtesten Arbeiten zeigten, dass die Einführung eines Mindestlohns nicht zwangsläufig zu erhöhter Arbeitslosigkeit führt, bedeutet aber nicht, wie die Laureaten selbst bereitwillig einräumen, dass das überall und jederzeit so sein muss. Anders dann die Faktenlage beim ebenfalls Nobelpreis-dekorierten ehemaligen Direktor des Deutschen Klimarechenzentrums. Klaus Hasselmanns wissenschaftliche Leistung war nichts weniger, als eine Methode zu entwickeln, die bereits zu einer Zeit, als dies wirklich noch niemand hören wollte, unmissverständlich belegte, dass niemand außer wir selbst am Klimawandel schuld sind.

Tim Jacobsen

Der Anfang vom Ende?

Kaum jemand merkte, als die deutschen Erdölvorkommen vor über 30 Jahren ihren Förderhöhepunkt erreichten. Schließlich war Öl zu dieser Zeit auf dem Weltmarkt keineswegs Mangelware. Erst die politisch motivierte Drosselung der Erdölfördermengen Anfang der Siebziger Jahre gab einen Eindruck davon, wie eine Welt ohne Erdöl aussehen könnte. Während gegen Ende des Ölembargos die Förderhähne einfach wieder weiter aufgedreht wurden und heute allenfalls noch die Sommerzeit an die durch die gestiegenen Ölpreise ausgelöste Wirtschaftskrise erinnert, könnte uns schon bald eine Ölkrise drohen, die nicht nur an vier Sonntagen den Verkehr zum Erliegen bringen wird.

Es liegt in der Natur endlicher Vorräte, dass diese zwangsläufig irgendwann zur Neige gehen. Unter Experten findet sich dann auch niemand, der bezweifelt, dass es nach Überschreiten des so genannten Peak Oils im Zuge fallender Fördermengen bei unverändert starker Nachfrage zu massiven Preiserhöhungen kommen wird. Die einzig diskussionswürdige Frage scheint zu sein, wann dies der Fall sein wird. Manche prognostizieren das Erreichen der maximalen Erdölfördermenge für das Jahr 2010; andere vermuten, sie wurde 2007 bereits erreicht. Aufgrund der derzeit relativ unsicheren Datenlage und einer Vielzahl von Einflussfaktoren geologischer und wirtschaftlicher Natur wird das globale Überschreiten des Ölfördermaximums erst Jahre nach dessen Eintreten mit Sicherheit festgestellt werden können.

Stark steigende Preise an den Rohstoffbörsen machen deutlich, dass wir nicht nur beim Öl den Gürtel sehr schnell sehr viel enger schnallen müssen

Tim Jacobsen

Im Deutschland der siebziger Jahre beendete der Anstieg des Ölpreises von drei auf fünf Dollar pro Barrel die goldenen Jahre des Wirtschaftswunders. Da Erdöl in einer schier unglaublichen Vielzahl von Stoffen vorkommt und in allen Bereichen des modernen Lebens direkt oder indirekt eingesetzt wird, lassen sich sehr schwer genaue Prognosen erstellen, wo sich die Verknappung von Erdöl in welcher Form bemerkbar machen wird. Durch die Abhängigkeit der Landwirtschaft vom Öl ist es allerdings mehr als wahrscheinlich, dass es zu einer Situation kommen wird, in der nicht nur wirtschaftliche Probleme auftreten, sondern sich auch die Hungerproblematik drastisch verschärfen wird.

Seit der so genannten Grünen Revolution stieg die weltweite Getreideproduktion um mehr als das Zweieinhalbfache, ohne dass sich die Anbaufläche wesentlich verändert hätte. Dies ist größtenteils auf den Einsatz fossiler Energieträger in Form von Düngemitteln, Pestiziden, dieselbetriebener Bewässerung sowie motorisierter Landwirtschaft zurückzuführen.

Synthetische Düngemittel werden seit Beginn des 20. Jahrhunderts zur Produktionssteigerung eingesetzt. Ihre Herstellung verbraucht große Mengen an Energie. So benötigen die USA jährlich allein für die Düngemittelherstellung ungefähr 100 Mio. Barrel Öl, also mehr als die weltweite Tagesproduktion. Deutschland verbraucht jährlich etwa 30 Mio. Barrel Öl zur Herstellung von Düngemitteln. Ähnliches gilt für Pflanzenschutzmittel. Durch anhaltend billiges Öl entstand zudem über die Jahre ein System der Nahrungsmittelverteilung über weite Strecken, das in einer Zeit teuren Öls nicht mehr funktionieren wird.

Hervorgerufen durch eine beispiellose Produktionssteigerung auf der Basis von billigem Öl war die Ära des Erdöls bisher von kontinuierlicher Landflucht begleitet. Während um 1800 75 % der deutschen Bevölkerung von der Landwirtschaft lebten, nahm dieser Prozentsatz bis zum Jahr 2006 auf unter 3 % ab. Es ist wenig wahrscheinlich, dass ein solch kleiner Bevölkerungsanteil in der Zukunft in der Lage sein wird, ohne den Einsatz billigen Öls für ausreichend Nahrung zu sorgen. Neben dem Aspekt schwindender Energiemengen für die Getreideproduktion wird sich für die Ärmsten der Armen zudem besonders der zunehmende Anbau von so genannten Treibstoffpflanzen negativ auswirken.

Es bedarf schon eines gewissen Zynismus, dieser unausweislich scheinenden Entwicklung noch etwas Positives abgewinnen zu wollen. Wenn allerdings nicht mehr Öl gefördert werden kann, kann auch nicht mehr Öl verbrannt werden. Und wenn nicht mehr Öl verbrannt werden kann, kann auch der CO2-Gehalt der Luft aufgrund des Verbrauchs fossiler Ressourcen nicht mehr überproportional ansteigen. Wäre es dann nicht besser, die Mittel, die jetzt in die Risikobewertung des Szenarios Klimawandel gesteckt werden, für die Bewältigung eines der großen Probleme der Zukunft zu verwenden? Schließlich ist Erdöl nur der Anfang. Stark steigende Preise an den Rohstoffbörsen machen deutlich, dass wir nicht nur beim Öl den Gürtel sehr schnell sehr viel enger schnallen müssen.

Tim Jacobsen

Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los

Wohl kaum ein niederländischer Unterglasgärtner konnte die Sylvesternacht des Jahres 2001 unbeschwert genießen. Zu ungewiss war zu dieser Zeit, wie sich die Liberalisierung des Energiemarktes auf den Erdgaspreis auswirken würde. Ähnlich ängstlich blicken derzeit viele deutsche Obst- und Gemüsebauern in die Zukunft – fraglich scheint, ob in Zukunft noch jemand da sein wird, der die Arbeit auf den Feldern erledigen will.

„Mittlerweile geht es sogar soweit, dass versucht wird, den Eindruck zu erwecken, die Senkung des Energieverbrauchs im niederländischen Unterglasgartenbau sei eine Sache von nationalem Interesse“

Arie Oskam

Gefühlte 40 % niedriger waren bis zum Neujahrstag 2002 die Energiekosten jenseits des orangefarbenen Schlagbaums. Spuren dieser Subventionspolitik sind fünf Jahre später noch allerorts anzutreffen. Viele Betriebe produzieren mit relativ altertümlicher, wenig umweltfreundlicher Technik Massenprodukte wie Tomaten, Paprika und Gurken.

Dies führte zu der eigentlich paradoxen Situation, dass viele Unterglasgärtner in den Niederlanden keinen Spielraum für Investitionen sehen, obwohl Sektorvertreter in regelmäßigen Abständen Rekordergebnisse vermelden.

Kein Wunder, dass auch in den Niederlanden seit einiger Zeit die Rufe nach unterstützenden Maßnahmen von Seiten des Staates immer lauter werden. Der niederländische Agrarökonom Professor Arie Oskam kann darüber jedoch nur den Kopf schütteln: „Mittlerweile geht es sogar soweit, dass versucht wird, den Eindruck zu erwecken, die Senkung des Energieverbrauchs im niederländischen Unterglasgartenbau sei eine Sache von nationalem Interesse“.

Den wahren Schuldigen für die auch seiner Meinung nach durchaus beklagenswerte Situation, in der sich der Gartenbausektor derzeit befindet, hat Oskam just in der jahrelangen Sonderstellung des Gartenbaus ausgemacht. Aus volkswirtschaftlicher Sicht sei es doch grober Unfug gewesen, die Herstellung von Exportprodukten über günstige Energiepreise zu subventionieren.

In den Jahren, in denen der Produktionsfaktor Energie im Überfluss verfügbar war, wurde die Chance verspielt, den Sektor marktwirtschaftlich zu orientieren, so Oskam. Es gelang weder, ein bestimmtes Preisniveau zu etablieren, noch das Produktspektrum zukunftsträchtig auszurichten.

Ein Mangel an Arbeitskräften in Sektoren wie der Landwirtschaft und dem Hotel- und Gaststättenbereich führte Ende der Achtziger Jahre trotz allgemein hoher Arbeitslosigkeit in Deutschland zu einer Lockerung des 1973 in Kraft getretenen Anwerbestopps für ausländische Arbeitnehmer. Bilateral vereinbarte Beschäftigungsmöglichkeiten für Angehörige ehemaliger Ostblockstaaten hatten zum Ziel, diese Staaten bei der marktwirtschaftlichen Umgestaltung ihrer Wirtschaftssysteme zu unterstützen.

In der Landwirtschaft und dem Gartenbau konnten ab 1991 ausländische Saisonarbeitskräfte für maximal drei Monate pro Kalenderjahr zur Überbrückung eines vorübergehenden Arbeitskräftebedarfs eingesetzt werden.

Von dieser Möglichkeit wurde in Folge stärker Gebrauch gemacht, als manchem Politiker lieb war. So kam es, dass 1997 erstmals Eckpunkte für die Zulassung von Saisonarbeitnehmer festgeschrieben wurden. Die betroffenen Betriebe konnten fortan nur noch 85 % der Anzahl der 1996 als Saisonarbeitskräfte tätigen Osteuropäer beschäftigen.

Aufgrund von Ausnahmeregelungen, die bei Betriebsumstrukturierungen und –erweiterungen zum Tragen kamen, stiegen in den Folgejahren die Vermittlungszahlen noch einmal deutlich an. Die mit der Einschränkung eigentlich beabsichtigte Entlastung des einheimischen Arbeitsmarktes blieb aus – bereits damals war unzumutbar ein Argument, das sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer ins Feld führten.

Da die offizielle Statistik nicht die Anzahl tatsächlich erfolgter Grenzübertritte ausweist, sondern lediglich Vermittlungszahlen auf Jahresbasis aufführt, übersteigt die Anzahl von Niedriglohnbeschäftigungsverhältnissen in diesem Zeitraum sehr wahrscheinlich die offiziell genannten 350 000 bei weitem.

Während in Deutschland in den letzten fünf Jahren die Anbaufläche von arbeitsintensiven Kulturen wie Erdbeeren und Spargel stark ausgeweitet wurde, konnten im selben Zeitraum Betriebe in unseren Nachbarländern Frankreich, Belgien, Niederlande und Dänemark nur sehr eingeschränkt auf Saisonarbeitskräfte aus Niedriglohnländern zurückgreifen.

Unternehmerisch zu handeln bedeutet, günstige Wettbewerbsfaktoren zum eigenen Vorteil zu nutzen. Unternehmerisch zu handeln bedeutet allerdings auch, rechtzeitig die Weichen neu zu stellen.

Die schärfsten Kritiker einer Modernisierung des niederländischen Unterglasgartenbaus mit Hilfe von Steuergeldern sind unter den Betriebsinhabern zu finden, die aus eigenem Antrieb erfolgreich den Sprung in die Zeit nach der Liberalisierung des Energiemarktes geschafft haben.

Tim Jacobsen