Es wurde im Nachgang viel darüber spekuliert, ob die 1,3 Mio. stimmberechtigten Bürger am 9.11.2013 tatsächlich die Frage „Sind Sie dafür, dass sich die Landeshauptstadt München zusammen mit der Marktgemeinde Garmisch-Partenkirchen und den Landkreisen Berchtesgadener Land und Traunstein um die Olympischen und Paralympischen Winterspiele 2022 bewirbt?“ beantworteten oder ob vielmehr die Machenschaften des IOCs zur Abstimmung standen.
Letztendlich genügten rund 200 000 Stimmen, den Traum von `Olympia dahoam´ platzen zu lassen. Ein Umstand, der Franz Beckenbauer dazu verleitete, ein etwas großzügigeres Demokratieverständnis zu offenbaren: „Ich bin mir nicht sicher, ob man zukünftig immer das Volk befragen sollte. Früher hat es auch ohne Bürgerentscheide Großereignisse gegeben. Die Gegner sind eben immer aktiver. Die gehen alle zur Wahl hin und nehmen noch ihre Großmutter mit.“
Kaiserliche Gedanken könnten am Abend des 19. Januars auch den Unterzeichnern der Charta „Pro Messe Essen“ durch die Köpfe gegangen sein: Bei einer Wahlbeteiligung von 28,8 % votierten 66 000 Essener Bürgerinnen und Bürger gegen die so genannte Ertüchtigung der Messe Essen. Paradoxerweise musste in Essen die Frage „Sind Sie dafür, dass der Beschluss des Rates der Stadt Essen vom 17.7.2013 über den Neubau der Messe für 123 Mio. € aufgehoben wird und die Messe-Aufsichtsratsmitglieder verpflichtet werden, die Neubauplanung abzulehnen?“ bejaht werden, um dagegen sein zu können.
Am Ende genügten 1 000 Stimmen Vorsprung, um die 123 Mio. € teuren Messemodernisierungspläne (wenn schon nicht zu begraben, so doch zumindest) erst einmal auf sehr kaltes Eis zu legen. Als im Juli 2013 der Essener Rat beschloss, die Messe rundzuerneuern, stimmte mit SPD, CDU, FDP und EBB noch eine äußerst breite bürgerliche Mehrheit für die Messepläne. Rund 16 000 fristgerecht abgelieferte Unterschriften setzten Ende Oktober den Wahlkampf in Gang.
Und da standen dann auf einmal dem verkürzt auf Schlagzeilen schwer vermittelbaren internationalen Messegeschäft unzählige, Tag für Tag erfahrbare Schlaglöcher sowie unterfinanzierte Kindertagesstätten gegenüber. Leichte Beute also für die Ertüchtigungsplangegner, die genüsslich an die „Beinahe-Pleite vor zwei Jahren“ sowie „millionenschwere jährliche Zuwendungen“ erinnerten und die Modernisierungspläne in eine Reihe mit Stuttgart 21, Elbphilharmonie und Hauptstadtflughafen stellten.
Mit dem Ergebnis des Bürgerentscheides wurde aber nicht nur die Arbeit von sechs Jahren Vorbereitungszeit zunichte gemacht und finanzielle Aufwendungen in Millionenhöhe handstreichartig entwertet; es ist nicht auszuschließen, dass weitere Messeveranstalter angesichts des vorläufigen Modernisierungs-Aus´ den Lockrufen konkurrierender Messegelände erliegen und somit den Standort Essen weiter schwächen könnten.
Solange keine Waffengleichheit unter den Messebetreibern herrscht, wird das Wettrüsten kein Ende nehmen
Tim JAcobsen
Womit niemandem geholfen wäre, schließlich hatte der Versuch, am finanztechnisch großen Rad zu drehen, Anfang des Jahrtausends wie in vielen anderen Kommunen zwar kurzfristig für Liquidität gesorgt, einhergehend mit dem so genannten Cross-Border-Leasing waren allerdings auch Verpflichtungen eingegangen worden, die weitreichender kaum hätten sein können: Knapp zwanzig Jahre muss der Messebetrieb in Essen noch aufrechterhalten werden, andernfalls drohen Strafzahlungen in einer Höhe, die den Weiterbetrieb bis 2032 als deutlich günstigere Option erscheinen lassen.
Auch wenn bei den Messebetreibern in Essen eine Woche nach Bekanntgabe des Ergebnisses des Bürgerentscheids noch deutlich zu spüren war, dass mit einem anderen Abstimmungsergebnis gerechnet worden ist, fehlte zum IPM-Auftakt von Schockstarre jede Spur. Ganz im Gegenteil: bis Ende März gaben die politischen Entscheidungsträger aller im Essener Rat vertretenen Fraktionen Ende Januar der Geschäftsführung der Messe Essen Zeit, Lösungsvorschläge zu erarbeiten, wie sich die Positionierung Essens als Place of Events für die Zukunft sichern lässt.
Ob das Ganze dann Ertüchtigung heißen wird oder vielleicht schlicht Modernisierung, weiß heute noch niemand mit Sicherheit zu sagen. Das Einzige, das zweifelsfrei feststeht, ist, dass der zunichte gemachte finanzielle und personelle Aufwand in der Durchführung der Baumaßnahme wohl am besten aufgehoben gewesen wäre. Schließlich stand in Essen am 19.1.2014 ja nicht die auch über unsere Landesgrenzen hinaus weit verbreitete Praxis, defizitäre Messegesellschaften mit öffentlichen Geldern am Leben zu erhalten, zur Abstimmung. Und auch wenn einem dies als Steuerzahler sauer aufstößt: Solange keine Waffengleichheit unter den Messebetreibern herrscht, wird das Wettrüsten kein Ende nehmen.
Tim Jacobsen
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