Auch wenn die Engländer eigentlich den Unterschied zwischen einem Castle und einem Herrenhaus sehr genau nehmen und Castle Howard dementsprechend gar keine Burg, sondern ein Manor House sein müsste, hat, ebenfalls wieder typisch englisch, trotz der semantischen Unschärfe die eindrucksvollere Gebäudebezeichnung letztendlich das Rennen gemacht.
Von Anfang an war der seit über 300 Jahren von Familie Howard genutzte barocke Perle nicht für Verteidigungs- sondern Repräsentationszwecke gedacht und das funktionierte damals auch schon ein bisschen wie aus dem legendären Bausparkassenvideo über ein fiktives Klassentreffens bekannt: statt mit mein Boot, mein Haus, mein Auto zu glänzen ging es darum, einer möglichst beeindruckenden Kunstsammlung ein möglichst spektakuläres Zuhause zu geben.
Und so reisten die weitgehend von lästiger Erwerbstätigkeit befreiten Nobelmänner und –frauen von Kunstsammlung zu Kunstsammlung, im Gepäck hatten sie dann jeweils Visiten-karten sowie eine Einschätzung des Gesehenen, in gewisser Weise ähnelte das Ganze streng genommen stark den moderen Social Media nur halt ohne Internet. Der Dritte Earl of Carlisle konnte sich vor Likes wahrscheinlich kaum retten, denn so etwas gab seinerzeit in Privathäusern nicht:
Die vier Figuren, die die die Ansicht des Castle auch heute noch oder besser wieder prägende 21 m hohe Kuppel tragen, wurden in den Jahren 1709-1712 von niemand geringerem als Giovanni Pellegrini künstlerisch ausgearbeitet, der bereits das Kuppelgemälde in der Londoner St. Paul´s Cathedral gemalt hatte. Fast schon überflüssig zu erwähnen, dass Charles Howard der erste war, der einen nicht säkularen Prachtbau von einer Kuppel krönen ließ und dies wahrscheinlich nur möglich war, weil mit dem Dramaturgen und Tunichtgut John Vanbrugh jemand Fachfremdes für die Architektur zuständig war.
Schön, aber auch nicht ganz billig
Dass das Ganze natürlich auch mächtig ins Geld ging, lässt sich daran ablesen, dass die Bauarbeiten für den Ostflügel nur langsam in Schwung kamen und zwei Earls of Carlisle später der Westflügel dann in deutlich abgespeckter Form errichtet wurde, was der unsymmetrischen Fassade auch heutzutage noch einen ganz besonderen Charme verleiht. Als es finanziell wieder einmal besonders knapp wurde, musste auch der noch weit von Geschäftstüchtigkeit entfernte Nachfolge-Earl die Schuldurkunden mitzeichnen, da allen Beteiligten klar war, dass eine Generation nicht ausreichen würde, um die über Generationen angehäuften Schulden auch nur ansatzweise tilgen zu können.
Auch heute noch verschlingt der Unterhalt eines solchen Gebäudes erhebliche Summen. Und gar nicht so selten müssen Schlossbesitzer im Vereinigten Königreich und wahrscheinlich auch anderswo trotz all der gemeinhin vermuteten Schätze und Ländereien angesichts zuweilen zu großer Diskrepanzen zwischen Ein- und Ausgaben die Finger zum Schwur heben. In der wechselvollen Geschichte gab es aber auch immer wieder glückliche Umstände, die die größten Löcher stopfen halfen.
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So war es eine Zeitlang unter Sprösslingen von in der Welt zu immensem Reichtum gekommener Familien en vogue, sich jemanden des alten Adels Englands zu angeln. Auch der Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Union begünstigte Großgrundbesitzer finanziell. Flächenprämien waren zuvor nicht Teil der Bilanzen gewesen.
Mitte des 18. Jahrhunderts konnte der 7. Earl of Carlisle nicht weniger als fünf Dörfer und rund 5300 ha sein eigen nennen, am eigenen Bahnhof konnte er auch Queen Victoria samt Mann begrüßen. Ein knappes Jahrhundert später dann ein Schicksalsschlag, der Castle Howard fast das Schicksal von Henderskelfe Castle bescherte, der Burg an gleichem Ort, auf deren Ruinen Castle Howard errichtet wurde.
Am 9. November 1940 – und auch hier gibt es wieder eine wahrscheinlich typische englische Unterscheidung in Dinge, die während des Kriegs passierten und Dinge, dei wegen des Kriegs passierten- zerstörte ein verheerender Brand während des Kriegs Kuppel und Teile des Anwesens. Es dauerte 22 Jahre, bis 1962 die Kuppel wieder aufgebaut war, bereits zehn Jahre zuvor war Castle Howard wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden.
2019 noch 270 000 Besucher
Höhepunkt des Besucherjahres ist, wenn sich im Herbst in einem zweiwöchigen Handumdrehen das ganze Castle in ein Weihnachtswunderland verwandelt. Dieses Jahr lautet vom 2.11.2023 – 2.01.2024 das Motto Christmas in Neverland. J.M. Barries Peter Pan samt Kapitän Hook und Piraten werden zum Leben erweckt, Jolly Rogers wird die Gallerien entlang segeln und die prächtigen historischen Räume sich in tropische Lagunen verwandeln.
In etwa jeder dritte der 270 000 Besucher nutzt die Weihnachtszeit für eine Stippvisite. An Heiligabend bzw. Boxing Day ist allerdings geschlossen, Familie Howard will den 15 m hohen Baum im Kuppelsaal dann ganz für sich selbst haben. Wahrscheinlich hauptsächlich, um Geschenke darunter zu verstecken – und ein bisschen vielleicht auch dafür, sich selbst zu belohnen, das Hasardeurstück, einen dermaßen großen, schweren und furchtbar umständlich zu handhabenden Baum im Innenraum aufzustellen, wieder einmal gemeistert zu haben.
Diversifizierung ist King
Allerdings reicht der finanzielle Erlös aus dem Kartenverkauf – Weihnachtsshow hin und her – nicht, Gärten und Schloss in Schuss zu halten. Auch der Beitrag, den die Landwirtschaft liefern kann, macht aus roten noch keine schwarzen Zahlen, auch wenn das Fleisch der Rinder der Aberdeen-Angus-Mutterkuhherde dann im äußerst gut bestückten Farmshop zu durchaus kostendeckenden Preisen verkauft wird. Ein Teil der landwirtschaftlichen Flächen dient dem Vertragsnaturschutz, auf den selbst bewirtschafteten Flächen wird hauptsächlich Winterweizen und Triticale angebaut.
Wurzelgemüse- und Kartoffelspezialisten sorgen für die Bestellung eines weiteren Teils der Flächen, Grün- und Brachland machen den Rest der nicht bewaldeten Flächen aus. In den Wäldern von Castle Wood ersetzen einheimische Eichen, Bergahorne und Kirschen zusehends die Nadelbaumbestände. Der Castle-eigene Brennholzlieferservice erfreut sich großer Beliebtheit.
Als eine der letzten Baumschulen auf der Insel liefert Castle Howard´s Tree Nursery Bäume made in Britain. Eine beachtliche Sammlung mehr oder weniger exotischer Species sind im Yorkshire Arboretum unweit des Haupthauses zu finden und macht Appetit auf einen Besuch des ebenfalls sehr gut bestückten Garden Centres, von dessen Freilandflächen, wie könnte es anders sein, stets auch die Schlosskuppel zu sehen ist.
Typisches und untypische Einkommensquellen
Neben dem Hofladen mit seiner Auswahl regionaltypischer Produkte gibt es natürlich auch noch den für Sehenswürdigkeiten typischen Shop mit Andenken und Souvenirs in allen Farben, Formen und Preisklassen. Etwas versteckt hinter dem Great Lake liegt der sog. Caravan Park, ein Camping- und Glampingplatz, der dem Vernehmen nach sehr gut gebucht sein soll und einen wesentlichen finanziellen Beitrag zum Erhalt leistet.
Wer dann schon immer gerne einmal im Great Lake schwimmen gehen wollte, ist beim sog. Multisport-Event herzlich willkommen: Aqua-, Tri- und Duathlon sowie diverse Einzeldisziplinen stehen zur Auswahl, es geht durch den Great Lake und über die nach der Familie benannten Howardian Hills.
Etwas komfortabler sind die ehemaligen Landarbeiterhäuschen, die liebevoll saniert mit Holzofen und Antiquitäten direkt aus dem Schloss an diejenigen vermietet werden, denen eine ungnädige Genealogie nicht sowieso einen eigenen Palast beschert hat. Die nobleren unter uns, dürfen dann auch im Haupthaus schlafen und zwar genau in den Betten, die auch beim Rundgang zu sehen sind.
Filmstar Castle Howard
Und wer nun denkt, dass er oder sie Castle Howard schon einmal irgendwo gesehen haben, dann lässt sich anhand des Geburtsjahres schnell herausfinden, wo das gewesen sein könnte. Den Älteren fällt vielleicht Brideshead Revisited ein, der Zehnteiler samt Kinofilm, der eine Restaurierung des beim Brand zerstörten Gartensaals erlaubte. Die musikalisch Begeisterten erinnern sich vielleicht an den Videoclip zu Four out of Five, in dem der Arctic Monkeys Leadsänger Alex Turner sogar das Broadwood square piano aus dem Jahr 1805 spielen darf.
Der Zeichentrickkater Garfield hat auch schon in dem Schloss gewohnt und wer vergeblich das aus der Streamingserie Brigderton bekannte Clyvedon Castle gesucht und nicht gefunden hat, sollte sich Castle Howard noch einmal genauer anschauen. Nicht nur für Castle Howard sind solche Filmaufnahmen sowohl aus finanzieller als auch aus Aufmerksamkeitssicht äußerst interessant, die ganze Region profitiere vom Aufschlag der Filmcrews.
Tim Jacobsen
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