Auf seiner virtuellen Parlamentsweltreise besuchte der ukrainische Präsident Ende März die niederländischen Volksvertreter. Auch in Den Haag warb Wolodymyr Selenskyj für einen sofortigen EU-Importstopp für fossile russische Energieträger. Pikantes Detail der anschließenden Diskussion war, dass die Niederlande selbst zwar auf dem größten europäischen Erdgasfeld sitzen, sich aufgrund zahlreicher Bergschäden und des daraus resultierenden politischen Drucks im Jahr 2014 dazu verpflichtet haben, die Erdgasförderung rundum Groningen bis spätestens 2028 auslaufen zu lassen.
Ein Stück weiter landeinwärts kamen ebenfalls am 31. März 2022 auf Einladung von Wageningen University & Research (WUR) Experten des Auswärtigen Dienstes, der Kyiv School of Economics, der OECD, sowie ein vor Ort direkt betroffener Landwirt virtuell zusammen, um die Auswirkungen der russischen Invasion zu diskutieren. Zum Auftakt erinnerte WUR-Präsidentin Louise Fresco daran, dass es bei der Diskussion von kurz- oder auch langfristigen Effekten nicht allein um ökonomische Fragestellungen gehen könne, da naturgemäß jede Menge Emotion im Spiel sei, es aber Aufgabe der Wissenschaft sei, „einen kühlen Kopf zu bewahren“.
Kees Huizinga war von seinem Bauernhof mitten in der Kornkammer der Ukraine zugeschaltet. Er berichtete von Raketeneinschlägen und Zerstörung, fehlendem Treibstoff, Mangel an Pflanzenschutz-, Düngemitteln sowie Arbeitskräften und erinnerte daran, dass es, wenn im Frühjahr 2022 die Felder nicht bestellt werden können, die Frage nicht sein wird, wie viel weniger geerntet werden wird, sondern dann erst 2023 überhaupt wieder etwas geerntet werden kann. Und wenn 2023 die Felder nicht bestellt werden können, dann erst 2024 die nächste Chance kommt.
Alternativen für den derzeit durch die Blockade der ukrainischen Seehäfen unterbundenen Warenfluss ins Ausland konnte Huizinga auch mittelfristig nicht entdecken: Die unterschiedliche Spurweite der ukrainischen Eisenbahn zum Rest des europäischen Schienennetzes stelle einen Engpass dar, der angesichts der riesigen Exportmengen auch nicht mit LKW-Transporten substituiert werden kann. Und während Kriegsartefakte wie Geschoßreste, Raketenteile und verminte Felder eher kurzfristig ein Problem sein werden, wird mittel- und langfristig die zerbombte Infrastruktur das größere Problem sein.
Von den Silos und Lägern der Landhändler sei Huizinga zufolge kaum mehr etwas übrig, von den großen Treibstofftanks und Kühlhäusern wären allenfalls noch Fundamente zu sehen. Den Krieg sofort zu stoppen, sei die einzig mögliche Lösung. Angesichts von Huizingas Sarkasmus´, dass niemand Futter brauche, wenn es keine Tiere mehr zu füttern gibt und auch niemand Diesel nötig habe, wenn es nichts mehr zu transportieren gibt, fiel es schwer, den von Fresco geforderten kühlen Kopf zu bewahren, zumal die weiteren Aussichten alles andere als rosig sind:
Denn, und darin waren sich die Panellisten einig, die eigentliche Zeitenwende könnte darin bestehen, dass in Zukunft die Rohstoffkarte noch viel öfter Trumpf sein und eine Art eiserner Vorhang dann nicht politische Systeme trennen wird, sondern diejenigen, die sich auf der moralisch sauberen Seite befinden, von denjenigen, die Zugang zu günstiger Energie, Dünger und Nahrungsmitteln haben – wobei die letztgenannten Beispiele nahezu beliebig austauschbar mit anderen strategisch wichtigen Gütern sind. Leere Regale in unseren Supermärkten zeugen davon, dass im Wettstreit zwischen Solidarität und Rationalität nicht immer das Gemeinwohl gewinnt.
Tim Jacobsen
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