"Now, here, you see, it takes all the running you can do, to keep in the same place. If you want to get somewhere else, you must run at least twice as fast as that!"

Schlagwort: Verbraucher

Es geht auch anders

Beim letzten prae-Corona OECD Better Life Index kam Deutschland auf ein Pro-Kopf-Einkommen von 33 652 US-$ pro Jahr, Finnland lag bei 29 374 US-$. Deutschland damit über dem OECD-Durchschnitt von 30 563 US-$ pro Jahr und Finnland etwas darunter. Andere Statistiken sehen Finnland ein kleines bisschen weiter vor Deutschland, es gibt also allen Grund anzunehmen, dass sich die Durchschnittseinkommen nicht weit unterscheiden.

Dass im finnischen Straßenbild Luxuslimousinen eher selten zu sehen sind, heißt dann auch nicht, dass die Einkommen gleicher verteilt sind als bei uns, sondern ist wahrscheinlich eher Ausdruck einer zurückhaltenderen Mentalität. Nachdem wir an anderer Stelle schon von einem Erdbeerproduzenten berichtet haben, der während der Hauptsaison im Supermarkt noch stets 7,90 € für seine süßen Früchtchen realisieren kann – und dies wohlbemerkt nicht für ein Kilogramm, sondern ein 500 g Schälchen – hier nun der Blick in einen Blumenladen.

Zwischen einem Pizzaexpress, einem Haushaltswarengeschäft und einer Supermarktfiliale ist Kukkakauppa Madonna an der Mariankatu nun nicht unbedingt eine der Topadressen in der finnischen Hauptstadt, sondern insgesamt vielleicht eher im gehobenen Mittelfeld angesiedelt. Spannend ist dann ein Rückblick auf die 51-jährige Unternehmensgeschichte: Es waren die Nachkriegsjahrzehnte, in denen viele Finnen die neu erlangte Freizügigkeit innerhalb des nordischen Wirtschaftraum nutzten, um besser bezahlte Arbeitsplätze in Schweden zu suchen.

Bis weit in die 1980er Jahre hinein konnte der finnische Lebensstandard nicht mit demjenigen im wohlhabenderen Schweden konkurrieren und mit dem Zerfall der Sowjetunion folgte Anfang der 1990er Jahre der nächste Rückschlag. Das Land durchlief eine schwere Wirtschaftskrise, zeitweilig waren bis zu 20 % der Erwerbstätigen arbeitslos. Aber auch davon erholte sich die finnische Wirtschaft: Ob Finnland den Phoenix-artigen Aufstieg des Landes wirklich Nokia zu verdanken hat oder ob umgekehrt Nokia das keineswegs zufällige Produkt einer klugen Wirtschaftspolitik war, wird noch Generationen von wissenschaftlichen Arbeiten füllen.

Unsere Kukkakauppa Madonna konnte sich durch all die Jahre hin behaupten, und hat dies nicht nur, aber auch ihrer Kundenorientierung zu verdanken und so bleibt dann auch heutzutage kein Wunsch unerfüllt: „In unserem Blumenladen finden Sie Blumen, die genau zu Ihnen passen, für jeden Tag, für Hochzeiten und Partys. Auch Schnitt- und Topfblumen sowie alle floristischen Bindearbeiten sind möglich. Für den Transport in die Hauptstadtregion bietet unser Geschäft einen Lieferservice, mit Interflora geht es auch in andere Teile Finnlands oder ins Ausland.“

Hochzeitsbögen und elegante Brautsträuße gibt es genauso wie Kränze für Partys, Taufen und Beerdigungen sowie Sträuße im Wochenabo: „Die Blume der Woche kann ganz nach Ihrer Wahl ein Blumenstrauß, ein Gesteck oder eine Topfblume sein.“ Im digital-affinen Finnland können auf Wunsch Bestellungen natürlich auch kontaktlos über Datenleitungen abgewickelt werden.

Ist das dann alles für sich genommen schon einigermaßen eindrucksvoll, fällt der deutsche Discountpreise gewöhnte Tourist fast vom Glauben ab: Maljaköynnös, bei uns besser bekannt als Mandevilla gehen in überschaubarer Größe für 45 € über den Tresen, die leicht übersetzbaren Pelargoni in nicht unbedingt Topqualität für schlappe 15 €. Da trifft es sich gut, wenn es dann die Pelargonie zusammen mit dem Übertopf zum Setpreis gibt: der Topf kostet solo 7,50 €, klar dass es dann für Beides gemeinsam mit 22,50 € keinen Sonderpreis gibt.

Tim Jacobsen

Was isst Deutschland?

Wohl jeder hat zumindest in der entfernten Familie jemanden, der, auch wenn er wollte, gar nicht wüsste, wie Nudeln überhaupt gekocht werden – während andere, nicht weniger liebe Verwandte aus Spaghettini oder Spaghettoni einen Glaubenskrieg machen. Pastinaken und Petersilienwurzeln nutzten geschickt die Ge- und Abwöhnung an und von Erdnußbutter, Papaya und Avocados, um aus der Versenkung zurück zu kehren – und so ist in aller Abgedroschenheit an der Beständigkeit des Wandels durchaus etwas dran.

Im Vergleich März 2023 zum selben Monat des Vorjahres sticht zwar mit einem Plus von 27 % Gemüse heraus, richtig viel teurer ist aber mit 71 % Zucker geworden, über den so gut wie niemand spricht. 402 € geben wir alle im Schnitt Jahr für Jahr für Lebensmittel aus; der Anteil des Haushaltseinkommens, der in Polen für Lebensmittel ausgegeben wird, liegt um die Hälfte höher als bei uns.

Der Umsatz mit Biolebensmittel sank im Vorjahr im Vergleich zu 2021 zwar um 3,5 %, lag aber immer noch 25 % über dem von 2019. Interessanterweise war in der letzten Saison der Preisaufschlag für konventionelle Möhren über alle Absatzkanäle hinweg ausgeprägter als für Bioware. Noch extremer: Bei Zwiebeln ging in der zu Ende gehenden Saison konventionelle Ware ab wie Schmitz Katze, die Biokollegen dagegen konnten schon fast froh sein, das konstante Preisniveau der Vorjahre zu halten.

Doof dann auch, wenn die solvente Stammkundschaft das direktvertriebene Ökofleisch nicht mehr zu zahlen bereit ist, sich auf Discounterbio stürzt – und gleichzeitig am 30 % Ziel des Koalitionsvertrags festgehalten wird. Richtig attraktiv wird die Umstellung dadurch nicht, auch wenn Biobauern zumindest von der Preissteigerung für synthetische Dünger nicht betroffen sein sollten. Eier sind übrigens die am häufigsten gekauften Bioprodukte, noch vor Obst und Gemüse sowie Kartoffeln und den Mopros.

Der Ökolandbau schneidet in vielen Dingen besser ab als die konventionelle Landwirtschaft, die Frage, wie groß die Ertragseinbußen sind, scheidet die Geister. Smart Farming könnte eine Art Mini-game-changer werden, der große Wurf wäre allerdings eine Anpassung des EU-Gentechnikrechts. Nicht unbedingt etwas Neues: Schon die Urbios diskutierten darüber, ob nicht Molekularbiologie geradezu dafür gemacht wäre, den nicht chemisch unterstützen Pflanzen in ihrem Überlebenskampf alle denkbaren Vorteile zu bieten. Seinerzeit soll die Stimmungslage ungefähr fifty-fifty gewesen sein.

Letztendlich ist das Ganze aber mehr eine Art Scheindiskussion angesichts dessen, dass von 50 m2, die es braucht, um ein Rind 1 kg schwerer werden zu lassen, standortabhängig eben auch bis zu 2,5 dt Kartoffeln abgefahren werden können. Seit dem Jahrhundertwechsel ging der Milchkonsum bei uns um rund ein Zehntel zurück, die Alternativen aus Hafer, Soja und Mandel eroberten 5,5 % Marktanteil.

Erfreuliche 72 % der Deutschen greifen täglich zu Obst und Gemüse, wieder einmal sind die Frauen mit 81 % vernünftiger als die Männer mit 63 %. Fleisch gibt es bei 19 % unserer Frauen jeden Tag, hier liegen die Männer mit 31 % deutlich darüber. Mit unseren durchschnittlich 52 kg Fleischkonsum liegen wir zwischen den 4 kg in Indien und den 110 kg in Amerika, Australien und Argentinien irgendwo in der Mitte.

Die Beliebtheit von Suppen und Eintöpfen steigt mit dem Alter, beim Ketchup ist es andersrum. Frauen trinken mehr Kräutertee als Männer und Männer viermal so viel Alkohol. 78 kg Lebensmittel werfen wir alle durchschnittlich weg und von den 7,4 % der Treibhausgasemissionen, die auf die Landwirtschaft entfallen, stammen zwei Drittel aus der Tierhaltung.

Gut die Hälfte Deutschlands wird in der einen oder anderen Form bewirtschaftet und so wird schnell klar, dass Insektenhotels hier und bestäuberfreundliche Blüten da allenfalls Kosmetik sein können und es vor allem mehr Diversität in der Fläche braucht.

Insekt ist dabei nicht gleich Insekt, mit rund einer Million Arten sind Insekten die artenreichste Tiergruppe überhaupt. Andere Länder, andere Sitten: während nicht nur in Bayern Insekten eher langsam Eingang in unsere Speisekarten finden werden, sind sie für rund ein Viertel der Weltbevölkerung der Proteinlieferant schlechthin.

Vielleicht kommen wir aber auch noch einmal mit einem blauen Auge davon – zumindest was die Insekten angeht. Wer schon einmal einen Vorgeschmack darauf bekommen möchte, wie es gehen könnte, die bis 2050 wahrscheinlich 10 Mrd. Menschen zu ernähren, sollte einen Blick in „Eat Good“ wagen.

Auch auf die Gefahr hin, eine der Haupterkenntnisse der Rezeptsammlung zu spoilern: mit den Lancet-Kommissions-Empfehlungs-gerechten 350 g Gemüse und 200 g Obst täglich sollte uns Gärtnerinnen und Gärtnern eigentlich nicht bang vor der Zukunft sein!

Tim Jacobsen

Aufklärung, die Spaß macht

Zurück von weggewesen: auch bei den Kollegen einmal über den Kanal begann im letzten Jahr nach mehrmaligem Coronawinter- und -sommerschlaf wieder die Veranstaltungssaison. Einigermaßen bezeichnend, dass sich die Mund- und Nasenbedeckungen bis zum Wiedereinstieg in den öffentlichen Nahverkehr diesseits der Passkontrolle eine Pause verdient hatten, aber geschenkt: England im Spätherbst wie eine andere Welt, die Kathedralen strahlten im Dunklen um die Wette, Schlittschuhbahnen luden zur vorweihnachtlichen Ausfuhr und der Sieg der englischen Nationalelf über die Vereinigten-Königsreichs-Kollegen aus Wales wurde – public viewing at its best – ein- und ausgehend gefeiert.

Nachdenklicher stimmte, was auf der Onion and Carrot Conference (OCC) diskutiert wurde. Und damit sind nicht die Ausführungen des aus Missouri stammenden Präsidenten der US-amerikanischen National Onion Association gemeint, der in der Biden Administration den Grund für alles Übel auf der Welt sah und seinen europäischen Berufskollegen riet, doch einfach nicht zu verkaufen, wenn die Preise nicht stimmen. Erinnerte Greg Yielding mit markigen Sprüchen und Cowboyhut an die Karikatur eines Westernhelden, erfüllte David Exwood die Erwartungen an die Rede eines Bauernverbandsvizepräsidenten – wobei Häme angesichts des selbsteingebrockten Brexits mit Sicherheit fehl am Platz ist.

Nachhaltigkeit der Inflationsbekämpfung zu opfern und mit noch mehr Saisonarbeitskräften aus Nepal und Indonesien Arbeitsmarktlücken stopfen, hört sich zwar nach einem Plan an, aber einem vielleicht eher kurzsichtigen. Steilvorlage für Emeritus Tim Lang, der gemeinhin als einer der klügsten Köpfe Englands gilt. Und auf einmal waren die Probleme unserer mit Linksverkehr gesegneten Berufskollegen auch unsere: Ohne Importe geht es auch in England nicht, hüben wie drüben führt falsche Ernährung zu Riesenkosten für die Gesundheitssysteme und konzentriert sich die Marktmacht im Lebensmitteleinzelhandel auf eine Handvoll anerkannt profitorientierter Unternehmen.

Und da die Engländer uns normalerweise einen Schritt voraus sind, wird auch in Deutschland die Lücke zwischen der Lebenserwartung privilegierter und weniger privilegierter Bevölkerungsschichten größer werden. Die nie erreichten mindestens Fünf am Tag werden zukünftig noch mehr zu einem Luxusproblem werden und auch bei uns zeigt sich: Die Tafeln sind nicht die Antwort und können das Problem auch nicht lösen. Die Politik ist gefragt, Lang wünschte sich einen 1943er Hot Springs Moment – auch wenn eigentlich in den letzten knapp achtzig Jahren genug Zeit gewesen wäre, der seinerzeit im Rahmen der UN Conference on Food and Agriculture aufgestellten Forderung nach einer „ausreichenden und angemessenen Versorgung eines jeden Menschen mit Nahrung“ nachzukommen.

Die 2008er Wirtschaftskrise und vieler ihrer Nachfahren und Vorläufer lassen grüßen

Tim JAcobsen

Wie verzwickt das Problem ist, zeigt Langs Vergleich inflationsbereinigter Konsumentenpreise: Möhren waren 2019 halb so teuer wie 1988, Zwiebeln um die Hälfte billiger. Das Preispendel schlug zwar in den Folgejahren in die Gegenrichtung aus und spätestens mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine wurde dann auch dem letzten klar, dass die Preise gewissermaßen durch die Decke gehen. Die Chance, folgerichtig die Erzeugerpreise neu zu tarieren, wurde jedoch verpasst, auch 2022 ließen sich Zwiebel und Möhren im Handel finden, die den Preisaufschwung seit 2019 irgendwie nicht mitbekommen hatten.

Die Antwort des LEHs lautete nämlich allgemeinhin, dass die Inflation „im Schulterschluss mit den Produzenten“ bekämpft werden müsse. Etwas, das Ged Futter dann eher als „auf den Schultern der Produzenten“ interpretierte. Der ehemalige Chefeinkäufer ist Experte für unlautere Wettbewerbspraktiken im Vereinigten Königreich und konnte jedem und jeder nur raten: Augen auf bei der Geschäftspartnerwahl. Es seien zwar unruhige Zeiten, doch – und da zeichnete sich dann auch endlich einmal eine lang erwartete gute Nachricht ab – werde die abnehmende Hand angesichts abnehmender Warenverfügbarkeit zukünftig weniger Spielraum haben und auf zuverlässige Partner angewiesen sein.

Damit ist allerdings noch nicht das Problem gelöst, dass in Krisenzeiten der Obst- und Gemüseverzehr leidet und das besonders in weniger begüterten Bevölkerungsschichten: mehr als ein Viertel aller Haushalte mit Kindern mussten in England in den letzten Monaten Mahlzeiten ausfallen lassen. Davon betroffen waren mehr als 4 Mio. Kinder. Knapp 10 Mio. Erwachsene mussten in den letzten Monaten auf die eine und andere Mahlzeit verzichten. Die Hälfte der Haushalte mit moderat bis niedrigen Einkommen machte Abstriche an den Obst- und Gemüsetheken, was zu einem Rückgang der Verkäufe um knapp ein Zehntel im Vergleich zur Prä-Covid-Zeit führte.

Schulgärten, wie von Joe Mann während der OCC angeregt, werden allerfrühestens mittelfristig für Veränderung sorgen. Deutlich schneller könnte es dann mit Simply Veg gehen, dem neuesten Streich des IPA Effectiveness-Preisträgers Dan Parker. Anders als noch in der ebenfalls sehr sehenswerten „Eat them to defeat them“-Kampagne hilft Veg Power dieses Mal dabei, mit Hilfe von simplyveg.org.uk preiswert und geschmack-voll die Klippen der „Permakrise“ ernährungstechnisch zu umschiffen. Wobei weder ausgewogen oder gesund noch regional oder saisonal im Vordergrund stehen, es klammheimlich aber dann doch tun.

Parker hatte sieben Jahre Vorlauf, die komplett privat finanzierte Kampagne rund zu bekommen. Zeit, die uns fehlt. Mit nur einem Bruchteil der einen Milliarde Euro, die als Anschubfinanzierung zur Förderung des Umbaus der Tierhaltung eingeplant sind, könnte hier Großes geschaffen werden.

Tim Jacobsen

Die weiteren Aussichten: teurer und teurer

Herauszufinden, ob jemand gerade noch unter 50 Jahre alt ist oder darüber, ist relativ einfach, guckt man sich Fotoalben aus der jeweiligen Kindheit an. Diejenigen von uns, die noch relativ weit vorne Aufnahmen von sich auf Auto-leeren Autobahnen haben, kamen mit Sicherheit vor dem 16. Dezember 1973 auf die Welt. Es waren streng genommen nur drei Sonntage, die in der Rückbetrachtung den Mythos der autofreien Sonntage schufen. Der Jom Kippurkrieg war Geschichte, auf den Ölmärkten entspannte sich die Lage, angesichts der nahenden Feiertage hieß es schnell wieder Auto-Bahn frei. Auch wenn die Ölpreise seitdem streng genommen weitgehend unbemerkt kontinuierlich stiegen und dieser sich wie ein Naturgesetz anfühlende Preisanstieg niemanden ernsthaft vom Autofahren abgehalten hätte – mitunter eines der Probleme, das gewissermaßen Öl ins Feuer der gegenwärtigen Energiekrise gießt.

Denn so viel ist klar: nur Preisdruck sorgt dafür, dass mittel- und langfristig in sparsame Technologien investiert wird. Und wenn nun derzeit die Erwartung vorherrscht, dass die Gaspreise womöglich bald wieder sinken, verhindert das Technologiesprünge – auch wenn sich die Experten streng genommen nur darüber streiten, wie hoch der Faktor ist, um den Energie teurer wird und ob nun Erdgas oder Elektrizität die größten Sprünge machen wird. Der Tankrabatt setzte in dem Zusammenhang wahrscheinlich auch das falsche Zeichen, suggerierte er doch, dass nach den drei Monaten alles wieder beim Alten sein sollte. Streng genommen setzen auch die Verzichtsappelle den falschen Akzent, besonders in Kombination mit den üblichen Abrechnungsmodalitäten beim Erdgasbezug. Wird beim Tanken jedes Mal aufs Neue die Preisentwicklung offensichtlich, kommt beim Erdgas die Erkenntnis erst mit der Erhöhung des Abschlages.

Der autofreie Sonntag und die Sparappelle, die Deutschlands Reaktion auf die Drosselung der Energieexporte aus arabischen Ländern war, die wiederum die Reaktion auf die gar nicht so heimlichen Waffenlieferungen des Westens an Israel war, welches kurz zuvor von Ägypten und Syrien überfallen worden war, senkten den Benzinverbrauch zwar kurzfristig, aber leider auch nur für äußerst kurze Zeit, um rund ein Zehntel. Ein bisschen kommt dann „ewig grüßt das Murmeltier“ Stimmung auf: Auch 1973 stand Deutschland im Verdacht, unter Rücksicht auf eigene Wirtschaftsinteresse die gemeinsame Linie des Westens eher kurvenförmig zu interpretieren. Auch 1973 war eines der Hauptprobleme, dass der Nachfrage in Deutschland ein wenig diversifiziertes Angebot gegenüberstand.

Eine spannende Frage, die in der gegenwärtigen Embargodiskussion nur selten diskutiert wird, ist, ob wir denn nicht auch beim Nichtbezug des Erdgases aufgrund von so genannten Take-or-Pay-Regeln trotzdem weiterbezahlen müssten. Käme es zum Importverbot unsererseits, wäre entscheidend, ob die Force-Majeure-Klausel in den Lieferverträgen auch hoheitliche Maßnahmen umfasst. Falls nicht, würde bei Vertragslaufzeiten bis teilweise zum Jahr 2036 noch viel Geld über den Dnepr Richtung Russland fließen. Eine weitere spannende Frage ist, wo im Fall der Fälle als erstes der Hahn zugedreht wird. Glashersteller berichten, dass sie ihren Gasbedarf allenfalls um die Hälfte senken können, wollen sie eine Zerstörung ihrer Schmelzwannen verhindern. Und was passiert, wenn BASF in Ludwigshafen keine Ausgangsstoffe mehr produziert, Thyssenkrupp keinen Stahl mehr liefert?

Es muss aber auch nicht immer an den offensichtlichen Dingen scheitern: was, wenn aufgrund von Energieengpässen kein Papier und Verpackungsmaterial mehr produziert werden kann, wenn sich zwar grundsätzlich die Fließbänder weiterdrehen, aber schlicht und einfach die Windschutzscheiben fehlen? Auch die Meinungen darüber, wie und ob überhaupt irgendetwas abgeschaltet werden kann, gehen auseinander. Wenn der Weiterbezug nicht über die Verteilstationen abgeschaltet werden kann, wer wird die Schieber auf den Betriebsgeländen bedienen? Und wer möchte der Schuldige daran sein, dass es Zeit, Kosten und Mühen bedeutet, nach einem Druckabfall im Gasnetz das System wieder ans Laufen zu bringen?

Ebenfalls ungeklärt, wenn auch angesichts der Bilder und Berichte aus der Ukraine etwas zynisch, ist die Frage, was wir im Embargofall als Gegenleistung für eine mittelschwere Rezession bekämen: die unsichere Aussicht auf eine erhoffte Schwächung Russlands? Und so ist es kein Wunder, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften an diesem Punkt an einem Strang ziehen und betonen, dass die Embargofolgen in Deutschland stärker spürbar wären als in Russland – und da ist von all den anderen denkbaren Veränderungen in unserem Zusammenleben noch nicht einmal die Rede. Und schon geht es nicht mehr nur um Frieren für den Frieden, sondern ziemlich genau ums Eingemachte. Und dann ist da schon etwas dran, dass wir die ganze Fußball-WM-Empörung vergessen sollten, um dann den einen Despoten gegen den nächsten auszutauschen, um nur ja nicht im Winter kalt duschen zu müssen, schließlich ist die Vergrößerung des Lieferantenspektrums das Gebot der Stunde.

An der Stelle wird es nun wieder ein bisschen tricky: Spanien zum Beispiel hat frühzeitig auf LNG aus Nordafrika gesetzt, ist nur leider Pipeline-technisch schlecht angebunden an das resteuropäische Netz. Weshalb das auch weiterhin gut versorgte Spanien nicht einsieht, warum es sich den Sparplänen aus Brüssel beugen sollte. Und die Spanier sind mit dieser Idee beileibe nicht die einzigen. Ganz einsichtig ist es ja auch nicht, warum wir Frackinggas importieren wollen, unsere eigenen Vorkommen aber auf gut kolonialistisch lieber Vorkommen sein lassen. Zwar hatten unsere Bierbrauer Angst um die Güte ihres Wassers, werden aber letztendlich nicht den Ausschlag gegeben haben. Die Diskussion um die Förderplattform zwischen Borkum und Schiermonnikoog spricht Bände. Stattdessen werden nun von Eemshaven bis Brunsbüttel vier LNG-Terminals geplant. Geplant war schon einmal eines. Und das kam so:

Vor etwa 200 Jahren wurden die ersten Lampen mit Gas betrieben, in Berlin beleuchten immer noch mehr als 20000 Gaslampen das Straßenbild. Das so genannte Stadtgas fiel als Abfallprodukt in den Kokereien ab. Erst mit der Krise der Steinkohle in den fünfziger Jahren und der Entdeckung des Groninger Gasfeldes sowie weiterer Vorkommen im Nordwesten Deutschlands wurde Erdgas als Energieträger zunehmend beliebter. Aus dieser Zeit stammt auch die Bindung des Gaspreises an den Ölpreis: die Wahl des Energieträgers sollte nicht über die Profitabilität entscheiden. Der Streit darüber, wie hoch der Gaspreis während der zweiten Ölkrise denn tatsächlich sein muss, führte zu einer Abwendung von den Niederlanden und einer Hinwendung zu Norwegen und in noch viel größerem Maße der Sowjetunion. Mit dem Kreml hatte Deutschland schon Ende der fünfziger Jahre ein aus westlicher Bündnissicht delikates Geschäft eingefädelt und lieferte Stahlrohre  zur Erschließung westsibirischer Gasvorkommen.

Der Erdgas-Röhren-Vertrag sah Ende der sechziger Jahre dann weitere Stahlrohrlieferungen vor, im Gegenzug floss 1973 erstmals russisches Erdgas in das deutsche Pipelinenetz. Auch Privathaushalte sahen die Vorteile des Energieträgers Erdgas, was wiederum eine Speicherung des Erdgases im verbrauchsarmen Sommer für den verbrauchsstarken Winter nahelegte: Salzkavernen und ehemalige Lagerstätten waren die offensichtlichen Kandidaten für die Einlagerung preislich vorteilhaften Gases während der Sommermonate. Zunehmend erschöpfte Vorkommen in Deutschland und den Niederlanden führten nicht unwesentlich zu einer immer stärkeren Abhängigkeit von Russland. Und an diesem Punkt kommt wieder der Chemiekonzern aus Ludwigshafen ins Spiel. Da die Norweger keine Lust hatten, es sich mit der marktbeherrschenden Ruhrgas zu verderben, machte BASF im Herbst 1990 mit einem zwischen Wintershall und Gazprom unterzeichneten Abkommen den Seitenwechsel offensichtlich. Mitte der Neunziger Jahre erhielt Gazprom über die Beteiligung an Wingas erstmals auch die Kontrolle über Vertriebsstrukturen in Deutschland.

„Selber schuld. Nur was hilft´s?“

Tim Jacobsen

Es ist müßig, nachzuvollziehen, wer in den Folgejahren alles eine Diversifizierung der Bezugsquellen anmahnte und auch höhere Speichermengen forderte, Fakt ist, dass auch die Monopolkommission von Gerhard Schröder ignoriert wurde. Das Gazprom, Ruhrgas und Wintershall-Gemeinschaftsprojekt Nordstream 1 folgte, damit wurden Polen und die Ukraine umgangen. Schröders  Tätigkeit für die Pipelinegesellschaft war der Auftakt zu einer Reihe weiterer Posten bei staatlichen russischen Energiekonzernen. 2011 wurde Nordstream 1 in Betrieb genommen, zeitgleich begann Nordstream 2 Form anzunehmen, auch wenn der außenpolitische Ton Moskaus immer rauer und schärfer wurde. 2014 – und damit kurz nach der Annexion der Krim durch Russland – stimmte das Bundeswirtschaftsministerium dem Verkauf deutscher Gasspeicher an einen russischen Oligarchen zu. Ein Jahr später gab es ministeriellerseits keine Einwände, als die beiden großen deutschen Gasspeicher im Tauschgeschäft gegen Aktienanteile ebenfalls in russischen Besitz gerieten. Im Jahr 2021 waren die Speicher dann erstmals nicht in gewohnter Weise gefüllt und Nordstream 2 fertig.

Ruhrgas, das größte Unternehmen der deutschen Gaswirtschaft hatte von 1979 bis 2009 eine Lizenz zur Errichtung eines Gasterminals für den Import von LNG in Brunsbüttel, nutzte diese aber nicht und setzte dagegen vor allem nach der Übernahme durch E.ON auf Russland. Die Umstände, die den Zusammenschluss von E.ON und Ruhrgas vor ziemlich genau zwanzig Jahren begleiteten, lesen sich auch heute noch wie ein Wirtschaftskrimi und waren wohl Ausdruck eines Verständnisses von Wettbewerbspolitik als einer Gleichschaltung von Unternehmens- und Staatsinteressen. Letztendlich wurde damit aber unsere energiepolitische Abhängigkeit von Russland zementiert. 2015 wurde die ehemalige E.ON Ruhrgas nach Umwandlungs- und Abspaltungsmaßnahmen auf Uniper umfirmiert. Aufgrund der Diskrepanz zwischen Ein- und Verkaufspreisen kam Uniper nach dem 24. Februar 2022 in äußerst unruhige Fahrwasser, war aufgrund der großen Marktbedeutung allerdings systemrelevant und wurde unlängst mit einem Milliardenhilfspaket gerettet.

Tim Jacobsen

Die Zeiten werden härter

Im Sondierungspapier der uns wahrscheinlich zukünftig Regierenden wurde die eine und andere Klippe elegant umschifft. So soll der Kohleausstieg „idealerweise“ vorgezogen und die „Entwicklung intelligenter Systemlösungen für den Individualverkehr“ lediglich unterstützt werden. Unterstützt werden soll auch die Landwirtschaft, und zwar dabei, „einen nachhaltigen, umwelt- und naturverträglichen Pfad einzuschlagen“. Der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln soll auf das „notwendige Maß“ beschränkt und Pflanzen „so geschützt werden, dass Nebenwirkungen für Umwelt, Gesundheit und Biodiversität vermieden werden“. Tacheles dagegen dann beim generellen Tempolimit – das es nicht geben wird – und bei der Erhöhung des Mindestlohns – die tatsächlich kommen wird. Mit zwölf Euro Stundenlohn scheint die SPD eines ihrer zentralen Wahlkampfthemen durchgesetzt zu haben.

Sollte der Mindestlohn eigentlich erst zum Sommer 2022 auf über zehn Euro steigen, so könnte er unter Umgehung der Mindestlohnkommission nun handstreichartig um ziemlich genau ein Viertel erhöht werden. Auch wenn das vereinbarte Stillschweigen über Details noch nicht gebrochen wurde, so ist klar, dass zuallervorderstunderst Betriebe mit einem hohen Lohnkostenanteil die Düpierten sein werden, ganz vorneweg dabei einmal mehr unsere Gärtnerinnen und Gärtner.

Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass Handel und Verbraucher die daraus resultierenden Preisaufschläge einfach so akzeptieren werden. Es ist genauso unwahrscheinlich, dass ein höherer Mindestlohn bei uns Strahlkraft auf das europäische Mindestlohngefüge haben wird. Sollten an der Peripherie Europas ähnliche Verhältnisse gelten wie bei uns, müssten die Mindestlöhne dort nicht um ein Viertel erhöht, sondern in etwa vervierfacht werden. Und selbst dann wären wir von einer Produktionsvollkostenrechnungswaffengleichheit noch immer weit entfernt; ausgeblendet würde außerdem, dass zwar für viele Menschen die Reise an der EU-Außengrenze zu Ende ist, Warenströme aus aller Welt diese jedoch unbeanstandet passieren dürfen.

Welche Auswirkungen Störungen an diesem fein austarierten System haben können, lässt sich derzeit in Großbritannien beobachten. Auch die Eidgenossen konnten den Strukturwandel in ihrer Landwirtschaft allenfalls verlangsamen, aufhalten lässt er sich auch in der Alpenrepublik nicht. Und so ist es dann nur auf den ersten Blick verwunderlich, wenn, wie zuletzt wieder einmal auf dem Global Berry Congress eine Absatzjubelmeldung die nächste jagt – und gleichzeitig die Produktionsflächen im eigenen Land dies nicht widerspiegeln sondern vielmehr rückläufig sind.

Es ist keine einheimische Ware, die da vermehrt über den Tresen geht. Gleichzeitig wird aber auch nur deshalb so viel abgesetzt, da durch das höhere Warenangebot die Preise entsprechend gefallen sind. Der vielzitierte und –diskutierte Eimer voll mit Blaubeeren zum Schleuderpreis ist in Wahrheit dann auch eher ein Menetekel: Allzu lange wird sich unser produktionstechnischer Vorsprung nicht mehr halten lassen, Him- und Brombeeren werden folgen, wenn sie dies nicht bereits schon getan haben. Und das Dumme ist: die genannten Beerenarten stehen mehr oder weniger als Platzhalter für welches Produkt dann auch.

Du hast keine Chance – aber nutze sie!

Herbert Achternbusch

Und so wurde beim Global Berry Congress munter über den ganzen Erdball gehüpft: werden in Spanien die Arbeitskräfte knapp und geht im Süden Marokkos das Wasser zur Neige – warum dann nicht gleich auf nach Südafrika? Sieht man das Ganze nur global genug, verschwinden auch die Unterschiede zwischen Serbien, Rumänien und der Ukraine. Künstliche Intelligenz hilft bei der Standortwahl: Beerenanbau in Indien für China – kein Problem, das Knowhow ist exportier- sowie skalierbar und Kapital, das auf Verzinsung wartet, gibt es genug.

Niemand kann abschätzen, wie Klimawandel, fragile Lieferketten, steigende Energie- und Rohstoffpreise, die Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen, der weltweit zunehmende Protektionismus, Digitalisierung und E-commerce sowie die allgegenwärtigen logistischen Herausforderungen und der Arbeitskräftemangel die Handelswelt der Zukunft verändern werden. Vielleicht sogar mehr denn je scheint derzeit alles möglich. Und dann ist es zwar so, dass einer der diesjährigen Nobelpreise an drei Nordamerikaner vergeben wurde, die der Wirtschaftswissenschaft die Augen dafür geöffnet haben, dass auch das wahre Leben Möglichkeiten zuhauf bietet, Ursache-Wirkungsbeziehungen zu erkennen.

Dass sie in einer ihrer berühmtesten Arbeiten zeigten, dass die Einführung eines Mindestlohns nicht zwangsläufig zu erhöhter Arbeitslosigkeit führt, bedeutet aber nicht, wie die Laureaten selbst bereitwillig einräumen, dass das überall und jederzeit so sein muss. Anders dann die Faktenlage beim ebenfalls Nobelpreis-dekorierten ehemaligen Direktor des Deutschen Klimarechenzentrums. Klaus Hasselmanns wissenschaftliche Leistung war nichts weniger, als eine Methode zu entwickeln, die bereits zu einer Zeit, als dies wirklich noch niemand hören wollte, unmissverständlich belegte, dass niemand außer wir selbst am Klimawandel schuld sind.

Tim Jacobsen

Geld oder Leben – Moral und Märkte

Wer bei Ökonomen zuallererst an Schlippsträger denkt, wird beim Leiter des Bonner Econlab Schwierigkeiten haben, zu erraten, welchem Beruf Prof. Dr. Armin Falk nachgeht. Wahrscheinlich ist es aber genau dieses gewisse Etwas, das Falk in die Lage versetzt, mit dem Ergebnis seiner Experimente weltweit für Aufsehen und –regung zu sorgen. Jüngster Streich des Shootings Stars unter den deutschen Wirtschaftswissenschaftlern waren die Mitte Mai im Wissenschaftsmagazin Science veröffentlichten Erkenntnisse darüber, wie Marktzusammenhänge moralische Grundsätze aushebeln können. Falks Ausgangshypothese war dabei, dass das Agieren auf Märkten einen Abstand zwischen uns und den Folgen unserer Entscheidungen schafft, der uns letztendlich zu unmoralischem Handeln verführt.

Konkret stellte Falk gemeinsam mit seiner Magdeburger Kollegin Prof. Dr. Nora Szech den knapp 800 Teilnehmern des Experimentes im Sommer letzten Jahres die Frage, ob ihnen das Überleben einer Labormaus oder ein kleiner Geldbetrag lieber wäre. Unterschiedliche Versuchsanordnungen sollten dabei klären, ob der Marktmechanismus unmoralisches Verhalten fördert. Ein Teil der Probanden konnte sich individuell zwischen 10 € oder dem Leben einer Maus entscheiden; der Rest wurde in Käufer und Verkäufer aufgeteilt. Jedem Verkäufer wurde eine Maus, jedem Käufer 20 € in die Hand gedrückt. In der bilateralen Versuchsanordnung trafen jeweils ein Käufer sowie ein Verkäufer aufeinander, in der multilateralen Versuchsgruppe standen sieben Käufern neun Verkäufer gegenüber.

Käufern und Verkäufern war dabei freigestellt, ob sie überhaupt am Handel teilnehmen wollten. Ging der Verkäufer jedoch auf das Angebot eines Käufers ein, wurden die 20 € aufgeteilt und die Maus getötet (ein Schicksal, das die Labormäuse sowieso erwartet hätte). Gehandelt wurde anonym über ein zu diesem Zweck in der Bonner Beethovenhalle installiertes Computernetzwerk. Im Rahmen der Einführung bekamen die Teilnehmer ein Video zu sehen, in dem eine Maus vergast wird, langsam an Atemnot stirbt und nach zehn Minuten aus dem Käfig entfernt wird.

Auf sich allein gestellt, entschied sich mehr als die Hälfte der Teilnehmer für das Leben der Maus und gegen die 10 €. Aus den bilateralen Verhandlungen ging dann nur noch ungefähr ein Viertel der Mäuse als Sieger hervor und unter Marktbedingungen mit mehreren Teilnehmern stellte dann lediglich ein gutes Fünftel der Teilnehmer das Leben der Maus über die Aussicht auf den Geldgewinn – selbst wenn dieser unter den verschärften Marktbedingungen im Laufe von zehn Spielrunden sogar noch einmal um knapp zwei Euro auf 4,50 € sank – und damit ein Wert erreicht wurde, der in der individuellen Abfrage noch für so gut wie unmöglich gehalten wurde.

Gekauft wird, was billig ist

tim Jacobsen

Für Falk und Szech bewahrheitet sich damit, dass allein das Vorhandensein von Märkten zur Erosion moralischer Standards führen kann. Sie erklären das damit, dass, sobald man nicht mehr auf sich allein gestellt ist, gemäß dem Sprichwort `geteilte Schuld ist halbe Schuld´ die Schuldfrage entwertet werde, zum anderen impliziere die Handelbarkeit eines Gutes gewisse moralische Standards, die im weiteren Verlauf ohne viel Zutun in eine Abwärtsspirale geraten können. Keinesfalls unterschätzt werden sollte Falk und Szech zufolge auch, dass die Fokussierung auf das bestmögliche Handelsergebnis dazu führen kann, dass moralische Grundsätze in den Hintergrund rücken.

Die Autoren vergleichen das Ergebnis ihres Experiments mit der Alltagssituation vieler Verbraucher in Deutschland. Zwar gäbe es beispielsweise niemanden, der öffentlich für Kinderarbeit eintritt; und natürlich wüssten die meisten Konsumenten Bescheid über die teilweise erbärmlichen Arbeitsbedingungen in fernöstlichen Sweatshops – da aber diese Bedingungen für uns nur wenig direkte Bewandtnis haben, gelten sie nicht viel. Gekauft wird, was billig ist. Die beiden Wissenschaftler sind sich dann auch sicher, dass Moralappelle wenig Abhilfe schaffen können – ähnlich wie den Verbrauchern auf Schnäppchenjagd hätten den Teilnehmern der Studie die Folgen ihres Handelns jederzeit bewusst sein können.

Ob das unmoralische Verhalten nun tatsächlich den Marktmechanismen oder vielleicht doch auch zumindest ein bisschen der Gruppendynamik geschuldet ist, wie von manchem Kritiker angemerkt wurde, bleibt letztendlich eine pur akademische Diskussion. Schließlich zeigt das Experiment auf schlichte und dennoch aufsehenerregende Weise, dass es der Markt den Menschen einfach macht, moralische Bedenken auf die Seite zu schieben. Die Ergebnisse zeigen aber auch, dass es möglich ist, den eigenen moralischen Standards treu zu bleiben – immerhin verweigerte ein Teil der Probanden standhaft, am munteren Handelstreiben mit dem für die Mäuse tödlichem Ausgang teilzunehmen. Und nicht zuletzt ist mit dem Experiment auch der Beweis erbracht, dass es sich lohnt, aus der Anonymität der Masse hervorzutreten und den persönlichen Kontakt mit der eigenen Kundschaft zu suchen.

Tim Jacobsen

Auch mal fünf gerade sein lassen

Die Uniformität perfekt arrangierter Früchte einer im Supermarkt erworbenen Schale Blaubeeren inspirierte den kanadischen Erfolgsautors Douglas Coupland zu einem melancholisch angehauchten Ausflug in vergangene Zeiten, den er in einer pointierten Kurzgeschichte beschreibt. Nicht nur erscheint es ihm, als ob Obst und Gemüse früher viel intensiver geschmeckt hätten, er glaubt auch entdeckt zu haben, dass die Früchte seiner Jugend untereinander viel verschiedener waren.

Um den zivilisatorischen Erfolg, den die Versorgung des Frischmarktes mit qualitativ hochwertigen und einheitlich nach Güteklassen sortierten Früchten zweifelsohne darstellt zu beschreiben, bemüht Coupland einen zu mindest auf den ersten Blick unpassenden Vergleich. Mit „Hitlerberries“ umschreibt er die Eigenschaften der von ihm erworbenen Früchte, die sich zwar der äußeren Form nach ordentlich in Reih und Glied präsentieren, letztendlich aber inhaltslos seien.

Unsere Wahrnehmung der modernen, technisierten Welt wird von scheinbar objektiven Maßstäben dominiert. Alles, was messbar ist, kann dabei als Norm dienen. Bei den Wahlen zur Miss World beispielsweise sind dies relativ eindeutige Kriterien: einen Meter zweiundsiebzig sollten die Kandidatinnen überragen, weder jünger als siebzehn noch älter als vierundzwanzig sein und ihr Brust-, Taillen- und Beckenumfang sollte tunlichst die weiblichen Gardemaße 90-60-90 treffen. Das Ermitteln eines Wertes durch quantitativen Vergleich der Messgröße mit einer Einheit, sagt allerdings nichts darüber aus, wie sinnvoll dieser Wert tatsächlich ist.

Alles, was messbar ist, kann als Norm dienen. Bei den Wahlen zur Miss World beispielsweise sind dies relativ eindeutige Kriterien

Tim jacobsen

Viele Lebensmittel, die wir tagtäglich zu uns nehmen, sehen aus, als ob sie direkt aus einer Fabrik kämen, obwohl sie nie eine Fabrik von innen gesehen haben. Naturprodukte wie Obst und Gemüse werden von Gesetzes wegen seit Ende der siebziger Jahre strengen Gleichmäßigkeitskriterien hinsichtlich des Ursprungs, der Sorte, des Handelstyps, der Güteklasse, Entwicklung und Reife, Färbung und Größe unterworfen. Toleranzen geben dabei nur wenig Spielraum. Vielen Gärtnern ist diese Fixation auf äußerliche Makellosigkeit schon lange ein Dorn im Auge, fällt wegen gestiegener Anforderungen nicht immer öfter ein Großteil der mühsam produzierten Ware durch die Maschen der Qualitätssicherungsvorschriften.

Optische Unbedenklichkeit ist Trumpf, die inneren Werte von Lebensmitteln zählen nur noch, wenn diese mit künstlich konstruierten Zusatzstoffen aufwändig aufgepeppt wurden und ein langes Leben trotz übermäßigen Konsums von Genussgütern versprächen.

Die englische Supermarktkette Waitrose brach Mitte Juni dieses Jahres mit dieser aus Gärtnersicht fatalen Entwicklung und erweiterte im Alleingang das traditionelle Produktspektrum im Frischebereich um eine bisher nur aus dem Porzellan-, Mode- und Möbelbereich bekannte Produktkategorie: Obst und Gemüse mit kleinen Fehlern. Mit dem Obst und Gemüse „zweiter Klasse“ will die Supermarktkette laut eigenen Angaben ihre Kunden darauf aufmerksam machen, dass Obst und Gemüse nicht aussehen muss wie aus dem Bilderbuch, um gut zu schmecken.

Der Kilopreis für die normalerweise aussortierte Ware liegt deutlich unter dem für Standardprodukte. Den Endverbrauchern wird das Obst und Gemüse als Rohware zur Weiterverarbeitung angepriesen. Waitrose schlägt mit dem Vorstoß zwei Fliegen mit einer Klappe: zum einen soll den Gärtnern geholfen werden, einen größeren Anteil der von ihnen erzeugten Produkte vermarkten zu können, zum anderen soll das Angebot budgetorientiertes Klientel in die Filialen locken.

Eine von Friends of the Earth durchgeführte, unlängst veröffentlichte Befragung hatte ans Tageslicht gebracht, dass viele Gärtner in Großbritannien befürchteten, den stetig steigenden Qualitätsansprüchen der Supermärkten nicht mehr gerecht werden zu können. Oftmals bleibt Ware ungeerntet, weil damit laut Einschätzung der Gärtner sowieso kein Blumentopf zu gewinnen wäre. Unangenehmer Beigeschmack dieser Entwicklung ist es laut Friends of the Earth, dass Gärtner durch rigide Vorgaben eher dazu verleitet würden, mehr statt weniger Pflanzenschutzmittel zu verwenden.

Wäre denn wirklich soviel verloren, wenn die nächste Miss World wieder ausschauen würde, wie es die meisten Missen auf der World halt nun einmal so tun: Nicht makellos präsentiert, sondern in einem vernünftigen Verhältnis zwischen Aufwand und Wirkung?

Tim Jacobsen