Die Gegensätze hätten kaum größer sein können: auf der einen Seite abgehängte Jugendliche auf der Suche nach dem schnellen einfachen Geld, auf der anderen Seite der auf den ihm verbliebenen beiden letzten Hektaren lebende Eremit, der trotz seines hohen Alters mehr recht als schlecht seine ihm verbliebenen vier Fleischrinder versorgt. Was in „Das Buch Daniel“ auf 256 Seiten folgt ist ein was-wäre-wenn in bester Tradition von Truman Capotes „Kaltblütig“:
Hätte Daniel Maroy nicht aus grundsätzlichem Misstrauen dem Bankwesen gegenüber nahezu sein gesamtes Vermögen im Hosensack spazieren getragen, um besser darauf aufpassen zu können und hätte der Azubi an der Fleischtheke dies nicht ausgeplaudert, könnte Maroy sich auch heute vielleicht noch an dem einzigen Luxus, den er sich gönnte, erfreuen: wöchentlich ein Steak und dazu ein oder zwei Gläschen Rodenbach.
Hätte er nicht erst seinen Vater, dann seine Mutter und schließlich seinen Bruder bis an ihr Lebensende gepflegt, hätte er mit seinem Werben um die von ihm Angebetete vielleicht mehr Erfolg gehabt und wäre nicht der letzte der Maroys gewesen. Und hätte er nicht mit seinem Traktor den Verkehrsunfall gehabt, infolge dessen dieser von der Polizei eingezogen wurde, hätte er nicht seine Einkäufe am Fahrradlenker transportieren müssen.
Und hätte ihm dann noch der Supermarkt nicht angeraten, allenfalls am Samstag kurz vor Feierabend kommen zu dürfen, wäre höchstwahrscheinlich sowieso alles anders gekommen. So aber konnten ihn die Jugendlichen innerhalb seines Vierkanthofes abpassen und berauben. Zwar schleppt er sich daraufhin noch schwerverletzt noch ins Wohnzimmer, der zweiten Angriffswelle kann er dann aber nichts mehr entgegen setzen.
Ganz nebenbei, aber nicht weniger eindringlich, ist es auch ein Buch über die Schwierigkeit, in Frieden alt werden und alt sein zu dürfen
Tim JAcobsen
Dass in Folge dessen zur Spurenbeseitigung der Hof abgefackelt wird, erfährt man in Chris de Stoops Neuerscheinung bereits ziemlich am Anfang. Dass zwischen dem Samstag, an dem Maroy erst ausgeraubt, dann umgebracht wird, und dem Samstag, an dem sein Hof brennt, eine ganze Woche liegt, realisiert man beim Lesen erst nach und nach. Und spätestens dann kann man das Buch nicht mehr aus der Hand legen.
„Das Buch Daniel“ ist eine Geschichte über Jugendliche außer Rand und Band, über überforderte Erwachsene, über dysfunktionale Kommunalverwaltung, über Landwirtschaft, wie sie nur noch im Geschichtsbuch zu finden ist und über De Stoops Lieblingsthema, dem Strukturwandel und die Spuren, die er im ländlichen Raum hinterlässt. Ganz nebenbei, aber nicht weniger eindringlich, ist es auch ein Buch über die Schwierigkeit, in Frieden alt werden und alt sein zu dürfen.
Spätestens als die Polizei-bekannten Jugendlichen auf ihren neuen Smartphones ihre Missetaten öffentlich zeigen und auf ebenfalls neu angeschafften Mopeds weiter ihr Unwesen treiben, hätte ein beherztes Einschreiten vielleicht noch Maroys Leben retten können. So aber liegt im belgisch-französischen Grenzgebiet ein Mafia-ähnliches Schweigen bleiern über allem. Erst als die Jugendlichen Maroys Hof in Brand stecken, beginnt sich das Blatt zu drehen.
De Stoop portraitiert die Jugendlichen auf nüchterne Art, gleichzeitig gelingt es ihm, ein schriftstellerisches Denkmal mit allen Kanten und Ecken für seinen Onkel zu verfassen. Obwohl er ihn zu Lebzeiten kaum kannte, vertritt de Stoop die Familie im Mordprozess. Dies sichert im Zugang zu allen Dokumenten, die auch der Anklage zur Verfügung standen, gleichzeitig ist er sich aber auch nicht zu schade dafür, den zu 15 Jahren Haftstrafe verurteilten Haupttäter im Gefängnis zu besuchen.
Was dabei passiert, ist der letzte, wenn auch dieses eine Mal zumindest nicht aufgelöste Cliffhanger in Chris de Stoops auf wahren Begebenheiten basierenden Genre-sprengenden Kriminalroman im Reportageformat. Ein Buch, das an die großen Fragen rührt und das im Gegenüberstellen von Daniel Maroy, der Dorfgemeinschaft und den Jugendlichen keine einfachen Antworten gibt. „Het boek Dankiel“ ist in der Uitgeverij De Bezige Bij erschienen, eine deutsche Übersetzung ist in Arbeit.
Tim Jacobsen
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