Die allzu Zuversichtlichen von uns wurden im Laufe der Evolution wahrscheinlich irgendwann im wahrsten Sinne des Wortes aufgefressen – auf Alarmzeichen wie knurrende Raubtiermägen lieber etwas übertrieben zu reagieren, hat uns Menschheits-geschichtlich höchstwahrscheinlich mehr als nur einmal das Überleben gesichert – auch wenn sich „Negativity Bias“ erst einmal so gar nicht nach Lebensretter anhört.
Heutzutage sind es zumindest in unseren Breiten nicht mehr wilde Tiere, die uns nach dem Leben trachten, sondern Nachbarn oder der eigene Partner, die uns das Leben schwer machen – wobei wir im Moment des Aufruhrs geflissentlich übersehen, dass der Nachbar mehr ist als nur sein Laubbläser, der Kollege mit den kryptischen Mails vielleicht gerade andere Sorgen hat und sich auch die beste Ehefrau von allen nicht auf eine nicht immer effizient-möglichste Nutzung von Parkraum reduzieren lässt.
Das Negative setzt sich stärker fest im Kopf als das Positive: Wer hat nicht schon einmal das Gefühl gehabt, immer an der falschen Kasse anzustehen? Statistisch gesehen ist das so gut wie unmöglich und über das rein Rationale hinaus: die Einkaufstouren, bei denen es flotter nicht hätte laufen können, sind schlichtweg in Vergessenheit geraten.
Es ist nichts ganz Neues, dass wir mehr Angst davor haben, zehn Euro zu verlieren, als Freude darüber empfinden, zehn Euro zu finden. Unser Gehirn ignoriert statistische Wahrscheinlichkeiten weitgehend und Kritik beeinflusst uns weitaus stärker als Lob. Wir fühlen uns in Gruppen wohl und äußern uns abwertend über Andere, wenn das im Umkehrschluss unser Gruppengefühl stärkt.
Wir denken gerne in Schubladen, kognitiven Dissonanzen gehen wir lieber aus dem Weg und so sind viele Probleme in Wahrheit Scheinprobleme. Auch wenn wir alle fest daran glauben, dass wir einzigartig sind, unterliegen wir doch denselben psychologischen Mechanismen.
Ein grauer Novembermorgen, eine Regierung auf der einen Seite des Atlantiks zu viel und auf der anderen zu wenig, das Ganze eingebettet in eine Nachrichtenlage, die alles mit etwas Qualvollem überzieht, spült die Frage, wohin all dies denn noch führen soll, im Gedankenstrudel zwangsläufig ganz nach oben.
Dabei ist die Lage gar nicht so schlecht. Viele Sorgen sind vom eigenen Unvermögen, sich im stressigen Alltag mit kompliziertem Zeug auseinanderzusetzen, gewissermaßen an den Haaren herbeigezogen. Nicht ganz unschuldig daran ist, was gemeinhin Empörungsökonomie genannt wird: Empörung schürt Aufmerksamkeit und damit lässt sich Geld verdienen. Aber ist es wirklich so schlimm, wenn andere Menschen etwas anderes fordern als man selbst?
Vielleicht geht es am Ende auch ein bisschen darum, auszuhalten, dass man nicht alles versteht, ohne öffentlich zu beklagen, dass man gar nichts mehr versteht und überhaupt auch gar nichts mehr sagen darf?
In „Heute ist besser“ kombiniert Stefan Sagmeister Design, Kunst, Geschichte und Statistik zu einer neuen Sprache von Zahlen, anhand derer er verschiedene Entwicklungen der Menschheit visualisiert. In Form von zeitgenössischen Eingriffen in historische Gemälde zeigt er, dass früher mitnichten alles besser war.
Auch wenn, wer gerade von einem Erdrutsch verschüttet wurde, wenig Trost in der Tatsache finden wird, dass heute weniger Menschen in Naturkatastrophen umkommen als vor 100 Jahren, lässt sich als grobe Linie festhalten, dass es heute besser ist als vor 100 Jahren, und dass es vor 100 Jahren besser war als vor 200 Jahren. Und so wird es wahrscheinlich auch in 100 Jahren besser sein als heute.
Genauso, wie es besser ist, am Leben zu sein, als tot auf dem Friedhof zu liegen, angenehmer ist, gesund zu sein als krank. Wir haben lieber etwas zu essen, als dass wir hungern. Wir leben lieber in einer Demokratie als in einer Diktatur, lieber im Frieden als im Krieg. Wir sind lieber gebildet als ignorant.
Aber was, wenn sich dann einer die Losung „Make America great again“ auf die Kappe schreibt? Eigentlich kann das nur funktionieren, wenn heute alles schlecht ist und es früher viel besser war. Aber wann war es je „great“? Vor zehn Jahren? Aus konservativer Sicht scheidet Obamas Präsidentschaft schon einmal aus. Davor gab es 9/11, Irak und Afghanistan und noch ein Stück weiter zurück trat Ronald Reagan mit dem genau gleichen Slogan an.
Und wo wir ja schon bei systematischen Fehleinschätzungen waren, nichts anderes versteckt sich ja hinter dem Begriff Bias: „Biased Memory“ bezeichnet das Phänomen, dass das Schlechte an schlechten Nachrichten schneller vergessen wird wie das Gute an guten Nachrichten.
Deshalb zum Schluss noch ein bisschen aktuelle Datenlage aus dem „Glücksatlas“: Die Lebenszufriedenheit ist im Jahr 2024 besonders stark bei denjenigen gestiegen, die in der Pandemie besonders stark gelitten haben: bei Alleinlebenden, Jugendlichen und berufstätigen Müttern. Die Angst vor steigenden Lebenshaltungskosten ist gesunken, genauso wie die Angst vor unbezahlbarem Wohnraum, vor Steuererhöhungen, vor einer schlechteren Wirtschaftslage, vor überforderten Politikern, vor der Spaltung der Gesellschaft.
Es geht uns immer besser. Wir leben gesünder, trinken durchschnittlich weniger Alkohol, die Zahl derer, die mindestens einmal pro Woche spazieren gehen, joggen oder das Fitnessstudio besuchen, ist in den vergangenen zehn Jahren deutlich angestiegen. Wir haben alle Möglichkeiten, uns auszutauschen, über Zeitzonen und Ländergrenzen hinweg, binnen Sekunden. Das alles zeigt: das Leben wird besser, wenn wir es wollen.
Tim Jacobsen

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